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Stephan Reich: Everest

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Jayne-Ann Igel

Everest, than ever


Notizen zu Stephan Reich: Everest


Immer wieder fallen die „Quarthefte“ der Edition Belletristik, die vom Verlagshaus J. Frank editiert werden, nicht zuletzt durch ihre Gestaltung auf, für die Andrea Schmidt die Gesamtverantwortung trägt. So auch der vorliegende Debütband von Stephan Reich, versehen mit kongenialen Illustrationen Ludmilla Bartschs. Der junge Dichter absolviert darin in fünf Kapiteln einen Parcours durch Zeit und Raum, bezieht sich dabei auf Mythologien, Geschichte, Geschichten, und schickt die Leserinnen und Leser auf eine imaginäre Weltreise, läßt sie Verwandlungen durchleben, die es in sich haben.

Wir Angehörigen der Vorzugswelt behaupten gern, die Welt sei zusammengerückt, dank der neuen Kommunikationstechniken und Reisemöglichkeiten, der Globalisierung, die es uns erlauben, abgelegenste Orte zu besuchen, vor Augen zu haben. Aber vielleicht ist sie auch nur enger geworden, wie die Durchlasse zu einem Leben wie dem unsrigen für Angehörige der sogen. Dritten Welt. Und all das, was darüber hinaus uns vor die Augen kommt, erscheint umso fremder, befremdlicher, nicht zu unserer Welt gehörig, unlebbar. Stephan Reich läßt morbide (Stadt-)Landschaften aufscheinen, deren Zustand mittel- oder unmittelbar unserem Lebenswandel geschuldet ist, etwa da, wo Plastiktüten in den Büschen blühen („cancer alley“, S. 14), und ein Gemisch aus organischen und anorganischen Abfällen gleich Geschwüren die Highways hinaufwächst. Was fast schon eine neoromantische Anmutung darstellt, einen melancholisch stimmenden Verfremdungseffekt, wie ihn Bilder von Morbidität und Verfall zu erzeugen vermögen. Und wer fühlt sich ob der im selben Text heraufbeschworenen Fleischblumen nicht an Interieurs von Charles Baudelaire erinnert … Der Autor verhandelt das mit einer gewissen Ironie an den ungastlichsten Orten, in „survival town“ etwa, wo es nur noch unbelebte Gegenstände sind, die Signale aussenden, Puppen und Messgeräte. Mit dieser Sensibilität für zivilisatorische Brüche, die ja nicht allein durch Kriege verursacht werden, sondern ebenso durch eine auf unbedingtes Wachstum fixierte Lebens- und Wirtschaftsweise, steht Reich nicht allein. Gerade in der jüngeren deutschsprachigen Dichtung schwingt die Thematik im Zeichen permanenter Verunsicherung mit.

In Stephan Reichs „Everest“ werden die realen, mit Bedeutung aufgeladenen Orte auch zu inneren, zu topographischen Punkten in einer Erinnerungslandschaft wie auch auf der Reflexionsebene. Der Begriff von Welterfahrung bezieht bei Reich die Widerspiegelungen und das ganze Register virtueller Vermittlung mit ein, also das, was wir z.B. über Webcams an Orten am anderen Ende der Welt beobachten können. Wobei wir jeweils doch nur einen sehr begrenzten Ausschnitt dessen wahrzunehmen vermögen, was sie ausmacht, wie durchs Schlüsselloch gesehen. Das aber gleich eines Brennglases, einer Lupe. Was die Frage obsolet erscheinen läßt, ob der Autor die bezeichneten Punkte persönlich aufgesucht hat.

Im ersten Gedicht erfahren wir lediglich die Koordinaten der zitierten Stätte, vielleicht, daß es dem lyrischen Subjekt unmöglich, ihren Namen auszusprechen, belastet von einem historisch verbürgten Unglück, wodurch sie zu einem Unort geworden ist.

Das mit „Hier“ überschriebene Kapitel nimmt nicht nur bezüglich der Lage im Band eine zentrale Stellung ein, es bildet so etwas wie das innere Zentrum des Ganzen. Dort reflektiert das dichterische Ich die eigene Kindheit, verortet sich in einer Gegenwärtigkeit, versichert sich der Prägungen und Wahrnehmungen als gemeinschaftlicher Erfahrung, indem es durchgängig ein wir zum Subjekt des Sprechens macht. Es ist, als müßte man erst durch all die Überschreibungen in zeitlicher wie räumlicher Dimension hindurch, um zum Kern zu gelangen, wobei jene Überschreibungen, Überlagerungen mit ganz eigenen Sensationen und Entdeckungen aufwarten, es sich also lohnt, sie zu durchdringen.

Verfremdungseffekte und Intensität vermag Reich aber auch auf andere Weise zu erzeugen, so wurden die Ausgangstexte des Kapitels „Metamorphosen“ durch sieben Sprachen hindurch mittels „google translate“ ins Deutsche zurück übersetzt. Dieses Verfahren generiert Texte, die die digitale und mediale Umklammerung unserer Wirklichkeit spielerisch leicht reflektieren, Texte, denen überdies die maschinelle Synthetisierung nicht anzumerken ist.


die bildschirme sind ehrlich zu uns, wir folgen ihnen, erhalten gott
am leben, trotz seiner krankheit. apple sagt, das sei das gleiche

& die müssen es wissen. wir kaufen im voraus. suchen
nach etwas, manuell. apple sagt, das ist zu ändern. wie ich &


Und wie nebenbei erleben wir in diesem Kapitel die Metamorphose der arachne zu apple, gar zu gott

Das letzte Kapitel, dessen Texte auch als ein Langgedicht gelesen werden können, wirkt wie ein Schnelldurchlauf durch Orte und Leben, eine Flucht nach vorn, obgleich wir durchgängig mit herbstlich gestimmten Szenerien konfrontiert werden, mit Blätterfall, Schnee, Nebeln. Hier finden sich Bilder und Wendungen, die bestechend genau Situationen widerspiegeln und auf eine Art entwaffnend sind, wenn es z.B. heißt: in den clubs/ fallen kippen zu boden/ wie patronenhülsen (S. 73) oder: aber zeit war ohnehin nicht mehr/ der rechte rhythmus, sprache nicht unsere frequenz (S. 80). Was von einer Entfernung Kunde gibt …

Juli 2014

Stephan Reich: Everest. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2014. 80 Seiten. 13,90 Euro.

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