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Steffen Popp: 118

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Jan Kuhlbrodt

Nichts was nicht aus ihnen bestünde



Die erste Anmerkung in Steffen Popps neuem Gedichtband hebt folgendermaßen an:

„118
Das Periodensystem der Elemente enthält im Jahr 2017 118 definierte Elemente, davon 90 natürlichen Ursprungs. Letztere sind die materielle Grundlage der Welt – nichts was nicht aus ihnen bestünde. ...“


Ich erinnere mich an den Chemieunterricht in der Schule, im Ranzen verpackt schlummerte mein Tafelwerk. Tabellen und Formeln hieß es, und auch hier war im Vorsatz abgedruckt ein Periodensystem. In Abkürzungen die Elemente. Kryptische Zeichen farblich unterlegt. Kleine Zahlen, die die Anzahl der Elektronen angaben. Metalle, Edelgase usw. Chemie war nicht mein Lieblingsfach, und so nahm ich die Informationen auch weniger ernst.

Das ändert sich schlagartig, als ich die oben zitierte Anmerkung lese. Sollte die Welt, so wirr und unüberschaubar sie mir erscheint, wirklich nur aus 90 natürlichen Elementen zusammengesetzt sein? Die Naturwissenschaft wird schon Recht haben.


Popps Periodensystem natürlich ist keine chemische Bestandsaufnahme, wenn gleich es eine Art Gegenentwurf ist. Wie die Quadrate im Periodensystem sind auch hier die Elemente in eine normierte Form geschrieben. Zehn Verse für jedes und ein Name unterhalb des Textes, manchmal aber auch zwei und zuweilen Querverweise auf andere Elemente. Namenlose Gruppen und Klassen. Damit wird die Lesrichtung unterlaufen. Wir marschieren also nicht durch das Buch, sind angehalten zu einem suchenden Blättern.


Du bist diese Jagd, kannst es nicht sehen
derart Verfolgtes verfolgt in selbem Maß
wohl eine Liebe, aber mit Hufen und so
flüchtig, fast selbst das Gehege, Dickicht
wächst durch dich, schrumpft, magischer
Puls unter Eiben, von denen niemand isst
ohne zu sterben, offenbar eine Sprache –
einmal im Leben sprichst du sie, sprachlos
geschliffen, elfenbeinweiß vor der Stirn.
Spur eines Narwal-Thesaurus – Ainkhürn.

Einhorn


In diesem Gedicht findet sich vielleicht exemplarisch das, worum es geht. Wenn auch nicht im landlaufigen Sinn beispielhaft. Manche Texte sind assoziativer, verspielter, zuweilen ins Absurde treibend.

Aber Popps Elemente speisen sich eben auch nicht aus einer Zählung der Elektronen, die um einen Atomkern kreisen, sind nicht im wissenschaftlichen Sinne Reduktionen, sondern ganz im Gegenteil spalten sie die Begriffe auf, die sie repräsentieren, verweisen auf das Nichtbegriffliche, das ihnen anhaftet, die Konnotationen und Einschlüsse, die ihnen eignen.

Und es sei der Gedanke erlaubt, dass die Reduktion der Welt auf 118 Elemente im Grunde ihrerseits absurd ist.

Vielleicht ist es genau das, was der Sprache eignet und was Popp hier zelebriert. Ein Verzweigen in der Präzisierung, eine Dialektik von Bestimmung und Unbestimmtheit. Denn je näher ein Text einem Zentrum kommt, umso kaleidoskopischer erweist sich das Zentrum selbst.

Insofern zeigt sich Kunst hier als Korrektiv zur Naturwissenschaft, in dem sie den präzisen Abbildungscharakter eines naturwissenschaftlichen Systems in Frage stellt, wie einst Goethe alle Farben seines Malkastens ineinander mischte und meinte, damit Newton widerlegt zu haben, der ja behauptet hatte, dass die Summe aller Farben Weiß sei. Und wahrscheinlich haben beide Recht. Wissenschaft und Kunst. Newton und Goethe, Popp und Mendelejew.


Steffen Popp: 118. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2017. 144 Seiten. 19,90 Euro.

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