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Stan Lafleur: MINI WELT

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Timo Brandt

Kleine Welt, mittelgroße Elegien


„das Manuskript hatte ich dem Meer überlassen
es wusch so gut wie alle Wörter aus. was stehen
geblieben war überzeugte mich nicht trotz des
gewellten Papiers, das nun nach Algen roch […[
kein Gedicht der Welt kann bestehen
solange das Meer nicht ausgetrocknet sein wird“
               

Stan Lafleurs Gedichtband ist in sechs Teile unterteilt, wobei der erste Teil lediglich ein Prologgedicht und der letzte nur ein Fade-Out-Gedicht umfassen. Der Prolog bereitet mit seiner Meer-Atmosphäre einerseits den zweiten Teil, einen Zyklus über die Möwe, vor, verhandelt andererseits aber auch das Problem des Schreibens.

Fast jeder Text (und vor allem ein Gedicht) wird, nachdem es verfasst wurde, noch einige Male vom Schreibenden abgeklopft und neu durchlebt werden – und deshalb auch in dessen Wahrnehmung zur Instabilität tendieren. Die meisten Texte bestehen aus einer Anzahl von Wörtern, die nur einen ganz geringen Prozentsatz des eigentlichen Wortschatzes ausmachen; jeder Text ist eine Miniaturwelt inmitten eines gigantischen Sprachkorpus aus Wörterbüchern, Literaturen, Überlieferungen, Gewohnheiten, Grammatiken, Entwicklungen; eines Wirrwarrs.

Jedes Wort, in Zusammenhänge versetzt, negiert riesige Möglichkeiten zugunsten einer einzigen Formulierung, und selbst bei der ist nicht gesichert, ob sie so aussagekräftig ist, wie man es gerne hätte. Gleichzeitig schillern schon im kleinsten Begriff verschiedenste Bedeutungsebenen, und um Nuancen hervorzuheben, bedarf es fein ausgearbeiteter Kanäle und Botschaften.

Diese Überlegungen schwingen mit in Lafleurs Prologgedicht, das für meinen Geschmack ein etwas zu fulminantes Fazit aufstellt. Aber nun zu der Möwe.
 
„kam gestern zu uns herab und predigte
lauthals vor Kameras von Nächten
in denen sie als Keilschrift durch den

Himmel gefallen war […]

enträtselt
unsere Welt mit hochnervösen Blicken“

Am Anfang kann ich die Gedichte von der Möwe noch mit Gewinn lesen, aber sehr bald fühle ich, dass meine Geduld strapaziert wird. Nicht durch Langeweile, sondern durch eine artifizielle Herangehensweise, durch die etwas zu simplen und nicht wirklich eruierenden Verläufe. Einmal heißt es:

„wie kann
die Möwe heute noch Möwe sein?“

Sollte das der Kern des Zyklus sein, um den die Verse kreisen, so hat dieser seine Absicht verfehlt. Denn obgleich manche Wendung die Möwe gut inszeniert, wirkt es doch im Ganzen so, als sei sie bloß ein vorgeschobenes Objekt, ein beliebiger Ausgangspunkt für Variationen. Obwohl von Entmöwung die Rede ist und von Rettungscodes – um das Wesen der Möwe geht es gar nicht. Das wird spätestens deutlich, wenn es heißt:

„sie ist die Stöckelschuhträgerin des Himmels
sie ist ihr eigenes vermintes Flugfeld
sie ist der Dow-Jones-Index deiner Gedanken“

Da fehlt Kontext, der nicht einfach so auftaucht mit der Behauptung. Ich hab nichts gegen Nonsens oder Postmodernes, aber hier wirkt der Mix nur aufgeplustert. Meine Lieblingsverse zur Möwe bleiben jene von Christian Morgenstern:

„Die Möwen sehen alle aus
als ob sie Emma hießen. […]

O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Sofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.“

Doch zurück zu Lafleur, zum dritten Teil: Auch hier vermischen sich Wesenszüge des Erlebens, des Schauens, mit herangezogenen Effekt-Anleihen, aber diesmal subtiler. Hier schwingt so etwas wie Wehmut nach der Kindheit mit, wie eine jugendliche Ungewissheit.

„die Farben der Limonaden, nur für Kinder gemacht
alle Umstände deuten auf große Verzweiflung hin“

Ich mag besonders den Text „Nachmittag“, in dem bitter und doch sehr fein eine entleerte und zugleich anregende Alltagswelt gezeichnet wird, unübersichtlich und rau und doch voller Bedeutungskeime. Das Gedicht endet:

„es gab mir dieser durchgeknallte Typ aus
dem Heim die Hand und zeigte auf Gottes Gold-
kettchen, wie es im Himmel hin und herbaumelte“

Schöner kann man Gott die Frage: „Erst einen auf groß machen und dann nichts tun?“ kaum stellen.

In Teil 4 geht es weiter mit Wehmut, mit Wehmut und Orten. Wieder treffen wir auf allerhand Idyllen ohne Garantie, ausgehöhlt und doch abgründig, liebgewonnen und doch unhaltbar.

„Kinder hatten mit Kreide Sonnen
und Spermien auf die Straße gemalt
wir beteten für eine Doppelhaushälfte

längst sind unsere Träume erfüllt
die Sonne über den Hausgiebeln
nimmt die Farbe von Malkreide an“

Es ist wirklich schön, wie hier das Zynische, das Gefühlige und das Nachdenkliche zusammenfließen; keines wird übergewichtet, und sie werden auch nicht gegeneinander gewendet. Wie Töne in einem Musikstück, in dem sie gleich oft vorkommen müssen, folgen sie aufeinander, existieren sie nebeneinander und formen gemeinsam eine Melodie, die sich nicht festlegen lässt.

Dann noch eine Prise Currywurstbuden-Philosophie:

„ich
sollte gediegener essen, gesetzter empfinden, denen
angehören, die den Ton angeben, mich suhlen im

Klang normativer Worte, Klang, der seinen Ursprung
leugnet, über Widerstände hinweg läutet.“

Schon sind wir beim fünften Teil angelangt. Hier befinden wir uns tief in Gefühlen, fast schon jenseits von Nostalgie, berühren mit ausgestreckten Fingerspitzen die Zärtlichkeit. Der klare Ton, auf den Lafleur nun zurückgreift, steht sperrangelweit offen. Umso bemerkenswerter, dass die Gedichte dennoch behutsam daherkommen und erst gegen Ende die Wucht offenbaren, mit der die gespannte Sehne des Gedichtbogens nach vorn schnellt.

„sie sagt: schon
ok. sie lässt sich nieder, sie steht
wieder auf. sie folgt den Kurven
des Flussverlaufs. wir küssen, wir
raufen, wir werfen Steine. wir
werden sterben und jeder alleine“

Ich werde nichts zu dem Epilog-Gedicht sagen – nur so viel: es enthält, in den allerletzten Worten, eine süffisant-bissige Gemeinheit, überraschend, irritierend und auch nicht gänzlich unsym-pathisch.

Aber ich ende lieber mit zwei Zeilen aus dem fünften Zyklus.  
„MINI WELT“ ist ein vielschichtiges Werk, mit einem sehr guten Gespür für Erlebnisstrukturen, trotzdem empfinde ich persönlich die nostalgische, an die Idylle gerichtete Note als dominant, zumindest in meiner Lesart. In diese Richtung zielt auch mein letztes Zitat:

„die Wiese und der Waschbeton
von klein auf einander versprochen“

Stan Lafleur: MINI WELT. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. von Michael Serrer und Adrian Kasnitz. Lingen, Düsseldorf (Edition Virgines) 2017. 32 Seiten. 5,00 Euro.
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