Sophie Reyer: Höhen
Montags=Text
Sophie Reyer
Höhen
„Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“
Manchmal, wenn es im Winter Flocken regnet, sind
die Tage durchsichtig, das wusste ich schon als Kind. Je kürzer sie dauern,
desto klarer leuchten sie. Sie haben eine komische Milde und hinterm Haus liegt
dann immer ein Geheimnis. Es ist, als würden diese Tage sich selbst
durchschauen. Sie sind transparent, sind wie aus Pauspapier. Ich erinnere mich:
Ich hatte viele solcher Wintertage. Nicht alle waren gut. Gut waren die für
mich, die dunkel waren. Denn die Dunkelheit machte die Tage klar. Sie gefielen
mir am Besten. Sie waren grau, sie dehnten sich. An solchen Tagen hat man immer
Hunger und möchte an der Heizung hocken. Diese Tage erwarten die Nacht. In
meiner Kindheit verbrachte ich diese Tage glücklich und mit einer Menge
Büchern. Ich mochte sie, wie sie die Nacht empfingen. Ich trank dann den ganzen
Tag Früchtetee und hockte vor dem Fenster. Ich träumte. Leider aber gab es auch
andere Tage. Die zum Beispiel, an denen wir Skifahren mussten. Ich war darin
nicht besonders gut.
Wenn ich mich länger auf der Piste befand,
fühlte ich mich, als wäre ich zu Eis geworden. Das Sesselliftfahren war mühsam.
Alles begann schon beim Anstellen! Immer war die Schlange lang, immer waren die
Menschen laut und störten mich bei meinen Träumen. Münder drängten sich
gefährlich nahe an mich heran, Körper schoben mich durch die Gegend. Ich war
klein und man übersah mich. Ich verkroch mich hinter der Skibrille, unter der
Pudelmütze, und hielt die Hand meines Bruders. Ich tat so, als würde ich ihn
beschützen, aber in Wahrheit hatte ich furchtbare Angst. Ich schwitzte unter
dem Anorak, in den ich mich eingesperrt fühlte, schwitzte und kam mir vor wie
ein Austronaut, der irgendwo zwischen Erde und Mond im All hängen geblieben
ist. Der kleine Bruder indes war sehr mutig. Er klebte gar nicht fest an mir,
sondern ich an ihm. Dann kam der Moment: Der Lift raste heran. Ich musste mir
ein Ding zwischen die Beine klemmen. Zuerst scheiterte ich daran, die Schnur zu
fassen zu kriegen. Dann erwischte ich sie, schaffte es aber nicht, mir dieses
seltsame runde Teil zwischen die Beine zu klemmen. Beim dritten Mal gelang mir
zwar dies zwar; doch ich blieb nicht in der Spur, sondern fiel schon nach drei
Sekunden um – und musste mir rasch die Skier abschnallen und wieder zu meiner
Ausgangsposition zurücklaufen. Als ich es dann geschafft hatte und neben meinem
Bruder vor der Skilehrerin stand, wurde jedoch nichts besser, wie ich zunächst
gehofft hatte. Denn da, wo wir uns jetzt befanden, war es hoch. Verdammt hoch
oben. Ich hatte Angst. Ich war ein Kind, das Höhlen liebte. Mit dem Kopf grub
ich vorzugsweise Löcher in meine Polster oder schob Buchdeckel davor, und ich
liebte es, mich zu verkriechen. Am liebsten lag ich mit einem Buch im Bett oder
auf einer Wiese, geschützt im Schatten eines Baumes, las und träumte vor mich
hin. Die einen meinten, es läge an einer Art Calium–Carbonicum–Mangel. Die
anderen meinten, das wäre Hypersensibilität. Wie auch immer: am sichersten
fühlte ich mich, wenn ich mich verkriechen konnte.
So begann der erste Tag in der Skigruppe, und
ich stellte mich bald schon als eine sehr untalentierte Fahrerin heraus. Ich
fror, zitterte, verlor immer wieder einen meiner Stöcke, und konnte mit den
anderen überhaupt nicht mithalten. Ich wurde immer missmutiger. Das Einzige,
was mich in diesen Tagen tröstete, war eine alte Bibel, die mir meine Oma
mitgegeben hatte. Sie arbeitete damals bei einem Priester als Köchin, den ich
besonders deshalb spannend fand, weil unter seinem Bett ein riesiger Nachttopf
stand. So las ich am Abend Sätze wie: „die Liebe höret nimmer auf“, oder „und
er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich auf den Händen tragen“ und staunte
darüber, auch wenn ich sie nicht verstand. In Moment jedenfalls spürte ich wenig
Liebe – ich spürte eher Angst und hatte, wenn ich hinter den anderen Kindern
auf den Skiern her hechelte, immer das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Engel
begegneten mir in den Bergen leider auch keine, auch wenn ich immer wieder mit
weit aufgerissenen Augen Ausschau hielt. Am letzten Tag schließlich war es so weit:
Wir veranstalteten zum Abschluss ein großes Rennen. Ich gab mir wirklich Mühe,
aber als ich die beschneiten Wipfel der Tannen sah, geriet ich ins Träumen und
dachte darüber nach, ob Gott wohl irgendwo hinter dem Himmel zu finden sei. Als
ich unten ankam, meinte mein Skilehrer – ein sehr schöner junger Mann, der mir
wirklich gut gefiel – mit ironischem Unterton: „Der Boden brennt ja fast, so
schnell bist du gerast!“ Ich schämte mich und zog den Kopf ein. Noch mehr
schämte ich mich dann wenige Stunden später, als die Preisverleihung stattfand:
Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, wurde als Sieger auf das Podest
gehoben, während ich, die Älteste der Gruppe, vorletzte war. Nach mir kam bloß
ein dreijähriger Junge. Was für eine Peinlichkeit! Natürlich rief ich brav mit
allen unseren gemeinsamen Ski-Spruch: „Hunde Hütte Hunde Hütte Heu Heu Heu“-
was auch immer das bedeutete – aber mein Kehlkopf fühlte sich schwer und bitter
an im Hals. Fast wie ein Knödel. Und das Spektakel hörte gar nicht mehr auf.
Während die Medaille meines Bruders herrlich glänzte, bekam ich als Trostpreis
eine Urkunde. Auf dem Podest durfte ich nicht stehen. Chips gab es danach zwar
für alle, doch mir war der Appetit vergangen. Ich zog mich zurück und las ein
wenig in der Bibel.
„Papa, wo hört der Himmel auf?“ fragte ich
meinen Vater später.
Diese Frage hatte ich mir die ganze Zeit über
gestellt, während ich das Skirennen gefahren war.
„Da, wo das Weltall beginnt“, sagte er lapidar.
Ich blickte auf.
„Ich dachte, dahinter ist Gott?“ fragte ich.
Schweigen.
So verstrichen die Tage, und ich glaubte
überhaupt nicht mehr an mich. Einige Tage später besuchten wir die Großmutter
und den Priester, bei dem sie arbeitete. Kaum sah ich ihr Gesicht, fühlte ich
mich seltsam getröstet. Sie lächelte. Ihr Blick war warm. Sie sah froh aus, glücklich
darüber, dass wir alle heil vom Skifahren heimgekommen waren, und wir fielen
ihr in die Arme.
„Ich
habe eine Medaille mitgebracht“, rief mein Bruder.
„Großartig!“, sagte die Großmutter.
Ich
betrachtete sie und dachte daran, wie lieb ich sie hatte. Ihre Haut war ein
wenig faltig, die Augen aber blitzten hell und blau und sahen unendlich jung
aus. Gemeinsam streiften wir ins Wohnzimmer und mein Bruder packte seine
Medaille aus und zeigte sie herum. Ich starrte indessen nur stumm auf die
Krippe unter dem Weihnachtsbaum. Mein Vater hatte sie einmal selbst gebastelt.
So betrachtete ich die Holzfiguren und schwieg. Sie hatten scharf geschnittene
Konturen und waren dünn wie Papier.
„Und du?“ fragte meine Großmutter da, als mein
Bruder seinen Bericht beendet hatte, „was hast du beim Skifahren erlebt?“
Ich schwieg.
Die Augen der Großmutter blitzten blau, und sie
zwinkerte mir zu.
„Ich hab in der Bibel gelesen...“, murmelte ich.
Dann schwieg ich einen Moment. Immer noch
schämte ich mich sehr – aber ich begriff, dass ich es meiner Großmutter schuldig war, ihr die Wahrheit
zu sagen.
„Und beim Skirennen“, fuhr ich, die Lippen zu
einem Strich verkniffen, fort, „war ich die
Vorletzte.“
Da lächelte meine Großmutter, dass sich die Haut
um ihre Augen in kleinen wunderbaren Fältchen zusammen schob.
Verzwickt blickte ich zu Boden. Ich dachte,
jetzt würde sie mich gleich auslachen, doch Meine Oma, die mich immer sehr geliebt
hat, sah mich an und meinte bloß: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er
geschaut.“
Stille.
„Das ist aus der Bibel“, fügte sie schließlich
hinzu.
Und dann las sie mir das Magnificat vor. Ich
verstand zwar nicht alles, aber dennoch: der Text gefiel mir. Denn es ging, wie
ich begriff, sinngemäß darum, dass die Letzten von Gott erhöht werden würden.
Mein Tag war gerettet.