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Slata Roschal: 153 formen des nichtseins

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Monika Vasik

Slata Roschal: 153 formen des nichtseins. Erlangen (homunculus verlag) 2022. 176 S. 22,00 Euro.

„Wenn ich unsterblich wäre, könnte ich mir Fehler zugestehen“


Was ist der Wert einer Frau? Und wer hat sie in einer patriarchal-hierarchischen Gesellschaft zu werden? Ksenia Lindau ist hin und her gerissen zwischen Erwartungshaltungen, ehernen Rollenmustern und Zuschreibungen von Weiblichkeit. Die Ich-Erzählerin des Prosadebüts von Slata Roschal ist achtzehn, als sie von ihrem heimlichen, deutlich älteren Liebhaber Georgij hört, jeder Frau stünden nur zwei Karrierewege offen: Mutter und Ehefrau oder Nutte. Sie widersetzt sich, weil sie nicht als Mann oder Frau, schon gar nicht als devuška, also „ewiges Mädchen, Halb-Frau“, definiert werden will, denn „in erster Linie bin ich ein Mensch“. Der Satz markiert einen wichtigen Schritt auf dem Weg der Identitätssuche Ksenias, die zwischen Gehorsam, dem Wunsch zu gefallen und wertgeschätzt zu werden, zwischen Klischees und Widersprüchen hin und her schwankt.
         Die Szene mit Georgij ist der zweite von 153 kurzen, durchnummerierten Abschnitten des Buchs. Dieses ist aus ganz unterschiedlichen Texten, Textsorten und -fragmenten collagiert. Erzählende Passagen, Träume und Erinnerungssplitter wechseln mit Tagebuchauszügen, Dialogen, Stimmen aus dem Internet, Briefen, Werbeeinschaltungen und Gebrauchstexten, etwa einer Einkaufsliste und einer Packliste für den Urlaub. Und es gibt zahlreiche Schriften der Zeugen Jehovas wie Psalmen, Gebete, Vorschriften und ein Wörterbuch, das Begriffe der Religionsgemeinschaft auflistet.
         Doch welche Möglichkeiten findet Ksenia vor, was gesteht man ihr zu, und darf sie jenseits der Option Mutterschaft eigene Vorstellungen verwirklichen? Das Buch zeichnet eine Entwicklungsgeschichte nach, die die ersten knapp drei Jahrzehnte von Ksenias Leben umfasst. Es erzählt von ihrer Sehnsucht nach Orientierung, von Zurückweisung, von Protesten und wiederholtem Scheitern, von Fremdbestimmungen, den Mühen der Emanzipation mit vielen Höhen und Tiefen, Errungenschaften und Rückschlägen. Ihren Anfang nimmt die Geschichte in Russland.

„Meine Familie war ziemlich konservativ, aber auf ihre eigene, originelle Art. Bei uns zu Hause herrschte eine Mischung aus russischer Familientradition, sowjetischer Zensur, religiösem Fanatismus und den individuellen Spezifika meiner Eltern. In der dunklen Perestroika-Zeit, als sie mit zwei kleinen Kindern in einem WG-Zimmer hausten und ums Überleben kämpften, waren sie Zeugen Jehovas geworden und haben nicht mehr von ihrem Glauben abgelassen. Als ich vier Jahre war, zogen wir nach Deutschland, ich hatte einen jüdischen Großvater, der bereits in Deutschland war, diesem Großvater durften fünf andere Personen, seine Frau, seine Tochter, sein Schwiegersohn, seine Enkelkinder folgen.“

Die Eltern sind autoritär, ihre moralischen Maßstäbe streng, körperliche Züchtigung ist Teil der Erziehung. Sie reiben sich in Deutschland auf, doch die Verhältnisse bleiben prekär, Geld ist immer knapp und sie können „den Status einer leicht asozialen Familie nicht überwinden“. Zugehörigkeit erfahren die Eltern allein bei den Zeugen Jehovas. Ksenia und ihr Bruder müssen mit ihnen zu den Versammlungen gehen und sich indoktrinieren lassen. Die junge Frau jedoch fühlt sich nirgendwo zugehörig, lebt im Zwischen von Herkunft und Ankommen, zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht: zwischen zwei Ländern und zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Religionen und mehreren Ideologien.

„[Ich] balancierte zwischen zwei Formen des Nichtseins, des Russischseins und des Deutschseins, denn beides traf auf mich nicht zu und ich konnte meiner eigenen Meinung nach weder gut Russisch noch gut Deutsch.“

Es ist ein existentielles Balancieren am Rand des Abgrunds, grundiert von melancholischer Gestimmtheit bis hin zur Entwicklung einer Depression, begleitet von Kopfschmerzen, Ängsten und Panikattacken, vom Gefühl der Einsamkeit und Enttäuschung, von Scham, Schuldgefühlen und Selbstabwertungen. Das Mädchen lernt zu gehorchen, lernt einengenden Vorschriften zu genügen, zu verzichten und alles auszuhalten, um zu überleben. Nie erfährt es, „dass es an und für sich wertvoll ist“, denn einen Wert musste man sich erst hart erarbeiten und er war nie von Dauer, konnte dem Kind zur Strafe wieder entzogen werden. Doch Ksenia lernt im Lauf ihrer Entwicklung, hierarchisches Denken zu hinterfragen und sich allmählich aus dem rigiden Korsett von Prägungen, Zwängen und fremden Ansprüchen zu befreien. Es ist ein mühevoller, nie endender Aufbruch in etwas anderes, ein Weg der Befreiung und Neuerfindung, für den ihr Vorbilder fehlen und auf dem sie in der ihr eigenen Mischung aus Reflexion und Intuition voranstolpert. Sie stellt sich patriarchalen Ideen entgegen, wenn sie Georgijs Rollenverständnis zurückweist und sich als Mensch bezeichnet. Sie bricht Erwartungshaltungen auf, wendet sich von den Zeugen Jehovas ab und entscheidet, lieber „jüdisch sein“ zu wollen wie ihr Großvater. Sie wird früh Mutter eines Sohnes und gegen die Traditionen ihrer Familie die Rolle als Mutter für sich genauso neu erfinden wie ihre Rolle als Partnerin, unsicher, versuchsweise andere imitierend, sich aufreibend zwischen Beruf und Alltag, manchmal voll Aggression, dabei sich selbst und das eigene Verhalten hinterfragend.
          Was Ksenia auszeichnet, ist ihre Hartnäckigkeit, die sie konsequent anstreben lässt, was sie unbedingt erreichen will:

„Immer schon hatte ich gesagt, ich will Schriftsteller werden, nicht Bankkauffrau, nicht Bibliothekarin, auch keine Schriftstellerin, immer Schriftsteller, seit der Grundschule. Und wenn ich es immer gesagt und ernst gemeint habe und es nachweisbar ist durch Tagebücher, Schulzeitungen und Zeugenaussagen, warum, wie sollte ich etwas anderes werden, wo es das Einzige ist, das ich jemals werden konnte.“

Zahlreiche Hürden sind zu meistern. Auch dass sie nur einen Wert und somit eine Daseinsberechtigung hätte, wenn sie sich verausgabe, hart arbeite und etwas leiste, begleitet sie. Zielstrebig legt sie das zweitbeste Abitur der Schule ab, studiert und promoviert „über Männlichkeiten bei Dostoevskij“. Daneben schreibt Ksenia literarische Texte, hat erste Erfolge als Autorin und denkt über die Schwierigkeiten nach, mit Kind Aufenthaltsstipendien antreten zu können. Momente der Zufriedenheit stellen sich ein, wenn sie entdeckt, dass sie anderen Menschen zu vertrauen lernt, sich über ihren fröhlichen Sohn Emil freuen kann oder spürt, „dass ich auf dem richtigen Weg bin.“
        Slata Roschal ist wie ihre Hauptfigur Ksenia in St. Petersburg geboren und teilt mit ihr, soweit recherchierbar, mehr als nur die Erfahrung der Migration als Kind. Man kann vermuten, dass manches in dieser Prosa von eigenen Erfahrungen gefärbt ist, was aber für die Lektüre einerlei ist. Denn Roschal gelingt eine vielschichtige Coming-of-Age-Geschichte, die keine Heldinnengeschichte ist, sondern behutsam, gelegentlich mit leisem Witz der Selbstermächtigung einer jungen Frau mit Migrationserfahrung nachspürt, dabei nichts beschönigt und keine heilen Welten abbildet, schon gar kein Happyend erfindet, sondern dieses Leben in all seinem Ungenügen, mit Verletzungen und Brüchen, authentisch nachzeichnet.


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