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Sinn und Form, Heft 6 / 2022 // Edit No. 87 (2022)

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

DIE  LIEBE  ALS  MONSTRÖSE  UNMÖGLICHKEIT

Sinn und Form, Heft 6/2022 / Edit No. 87 (2022)



Die Feuilletons waren außer sich, als dieser Tage der Briefwechsel zwischen dem berühmtesten Liebespaar der jüngeren Literaturgeschichte veröffentlicht wurde, die – nur lückenhaft vorhandene – Korrespondenz zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. In leichter Hyperventilierung wurde die Publikation zur „Sensation“ erhoben (Die ZEIT) und als „großartige, überwältigende Literatur“ (dito) gefeiert. Einmal abgesehen von den voyeuristischen Aspekten dieser „Enthüllung“ wäre es angebracht, mit etwas mehr Nüchternheit auf das Liebesdesaster der beiden affektiv Entflammten zu schauen.
       Die emphatischen Liebesschwüre, die in romantischen Briefen formuliert werden, können einem Realitätstest erfahrungsgemäß nicht standhalten. Was in Briefen als unverbrüchliche Liebe deklariert wird, entpuppt sich oft als unendliche Geschichte des gegenseitigen Wundenschlagens.
     Als sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch am 3. Juli 1958 in Paris zum ersten Mal begegneten und sich Hals über Kopf ineinander verliebten, begann ein großes Verhängnis. Aus der Intensität ihres Begehrens erwuchs binnen kürzester Zeit eine destruktive Energie, mit der sich die Liebenden gegenseitig zermürbten. Die Liebe erlebten beide schließlich nur noch als „monströse Unmöglichkeit“, wie es Bachmann lapidar in einem ihrer Briefe festhielt.
      In der bisherigen Rezeption galt Max Frisch als der finale Beziehungs-Bösewicht, der die sensible Ingeborg Bachmann in eine psychische Krise trieb, von der sie sich nie wieder erholte. Dass dieses einseitige Bild vom üblen Liebesegoisten nicht haltbar ist, zeigt nicht nur der jetzt veröffentlichte Briefwechsel, sondern auch ein kühler Kommentar im aktuellen Heft von Sinn und Form (H. 6/2022). Verfasst hat ihn die akribische Paul Celan-Exegetin Barbara Wiedemann, die Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Bachmann und Frisch ist; in der 1040 Seiten umfassenden Briefausgabe fehlt dieser Beitrag.
       Barbara Wiedemann belegt hier in mitunter grimmiger Schärfe, dass das vertraute Bild vom üblen Beziehungstäter Frisch und dem sensiblen Opfer Bachmann revidiert werden muss. Die Briefe belegen, dass Bachmann der aktive Part bei der Anbahnung der Beziehung war und dem damals mit der Französin Madeleine Seigner liierten Schweizer Erfolgsautor sofort eine Grundsatzentscheidung abverlangte. Als Frisch zögerte, schien das neue Traumpaar schon nach wenigen Tagen am Ende zu sein. Am 6. Juli 1958 schrieb Frisch irritiert, er sei „glücklich und ratlos“ - und entscheidungsschwach: „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn man Dich liebt, und ich liebe Dich.“ Mit solchen flammenden wie widersprüchlichen Bekenntnissen vermochte er Bachmann jedoch nicht zu trösten. Bereits drei Wochen nach dem stürmischen Aufbruch ins Verliebtsein sprach sie Frisch jede Liebesfähigkeit ab: „Zum erstenmal begreife ich, wie verschieden Deine Lage von der meinen ist, ich bin nämlich in gar keiner. Ich habe nicht einmal jemand zu versöhnen, zurückzugewinnen und neu zu lieben; ich bin nur noch deutlicher als früher allein und in keinem Zusammenhang. Ich fühle mich deshalb nicht mehr, und ich wünsche nie mehr eine Hoffnung.“
       Barbara Wiedemann kann en detail belegen, dass Bachmann nach dem Zerbrechen der Beziehung im März 1963 alles dafür tat, um die Deutungshoheit über diese tragische Liebesbeziehung aufrechtzuerhalten. Ihren Roman „Malina“ (1971) lässt sie mit dem Satz enden: „Es war Mord.“ Die daraus abgeleitete Legende, Frisch habe Bachmann mit seinem Liebes-egoismus psychisch ruiniert, wird durch den Briefwechsel und Wiedemanns Kommentar widerlegt. Essentiell sind die Briefe auch für eine Neubewertung von Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“ von 1964, der häufig für Bachmanns psychische Krise verantwortlich gemacht wurde. Nun wird offenbar, dass Frisch bei der Entstehung des Romans penibel darauf geachtet hat, dass Bachmann beteiligt wurde, er erfüllte ihr alle Wünsche nach Änderung des Manuskripts.
           Die 300 erhaltenen Briefe, die im ausgezeichnet kommentierten Briefband versammelt sind, dokumentieren das erwartbare Debakel zweier Liebender, das durch die Mobili-sierung überromantisierter Liebeswünsche beschleunigt wurde. Oft war es nur ein „wilder nd schäumender Strudel der Eigenliebe“ (Frisch), der die Liebenden animierte. In Sinn und Form wird auch die schmale Korrespondenz zwischen Bachmann und Theodor Adorno publiziert, der man entnehmen kann, dass Ingeborg Bachmann im Zuge ihrer Liebes-Turbulenzen mit Frisch in eine Schreibblockade geriet: „…ich kann schon seit Monaten überhaupt nichts mehr schreiben und tun…“, schreibt sie im Dezember 1961 an Adorno.
            Sinn und Form präsentiert im aktuellen Heft auch einen aufschlussreichen Fund aus dem Nachlass des 2019 verstorbenen Dichters Günter Kunert. Es ist die „Kurzfassung eines Lebenslaufes“, die Kunert noch kurz vor seiner Ausreise in die Bundesrepublik abgeschlossen hatte. Hier hält Kunert lakonisch fest, was ihm vor und nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns widerfuhr. Ein obrigkeitshöriger Kollege hatte ihm bereits 1970 auf einer Tagung des Schriftstellerverbandes gedroht: „Aber die DDR kann Kunert kaputt-machen!“ Nach seinem Protest in Sachen Biermann war er dann ein erledigter Fall: „Ein Teil von meiner Vergangenheit, von meiner persönlichen Biographie wurde mir operativ entfernt.“

Wenn man die literaturhistorischen Perspektiven in Sinn und Form mit den Standort-bestimmungen der allerjüngsten Gegenwartsliteratur in der Zeitschrift Edit (No. 87) vergleicht, so hat man den Eindruck, dass der Riss zwischen der alten Literaturwelt und den fiebrigen Positionierungen der jungen Literaturszene immer größer wird. Wenn man in Edit die vier Essays studiert, die von der Jürgen Ponto-Stiftung mit einem Stipendium ausgezeichnet worden sind, sieht man auch, wie sehr doch die Erkenntnisinteressen und die geistigen Kraftlinien der Texte in Sinn und Form und Edit divergieren. Sinn und Form konzentriert sich auf die großen literarischen und philosophischen Portalfiguren des 20. Jahrhunderts, Edit dagegen auf die „Meinungsmacher“ der Gegenwart und das aktuelle Profil des Schriftstellerberufs. Dies aber mitunter in unguter Fixierung auf das sehr limitierte Erfahrungsfeld der eigenen Community.
        Clemens Böckmann referiert in der neuen Edit sehr skizzenhaft und kursorisch einige Überlegungen zum Status des Autors in der Corona-Zeit, wobei er sich an Carolin Amlingers profunder Studie zur „Soziologie literarischer Arbeit“ (Suhrkamp, 2021) entlang hangelt. Interessant ist, dass hier etwa beklagt wird, dass die Bereiche von Kunst und Literatur derzeit „durchdrungen“ sind „von einem kaum zu überbietenden Egoismus und Konkurrenzverhalten.“ Das mag zutreffen, aber es war nie anders. Paula Schweers liefert schließlich einen kleinen Erfahrungsbericht von ihrem Versuch, die „Meinungsmacher“ und „Influencer“ der Social Media-Sphäre ausfindig zu machen und zu Auskünften zu bewegen. Es ist eine Reise in den Zirkulations-Kosmos von Twitter und TikTok, der „attraktivsten Plattform für die Generation Z“, eine Reise in eine Wahrnehmungs-Überreizung, in der sich das wahrnehmende Subjekt aufzulösen droht: „Es fällt mir schwer abzuschalten. Ich lege das Handy weg und lasse die Bilder erst einmal wieder verblassen. Ein Privileg.“ Von diesem Privileg sollten möglichst viele Autor:innen Gebrauch machen.


Sinn und Form, Heft 6/2022, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin, 140 Seiten, 11 Euro.
Edit No. 87 (2022), Edit e.V., Lützner Str. 87, 04179 Leipzig, 130 Seiten, 9 Euro.


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