Simon Konttas: Neue Wahrheiten
Montags=Text
Simon Konttas
NEUE
WAHRHEITEN
Jannis, fünfzehn
Jahre alt, konnte nicht schlafen. Eine seltsam abgehackte Wachheit, als könne
er nicht anders, als alles mit neuem Erstaunen zu betrachten, beherrschte
seinen Geist. Er stand in dieser Nacht vor dem hell erleuchteten Fenster des
einstöckigen Ziegelhauses, das sich am Ufer eines Sees befand. Der See lag in
einer Art Tal. Rundherum grüne Hügel, Berge fast. Tagsüber glitzerte der See
hellblau wie in Werbeprospekten abgebildetes Wasser der beworbenen
„Urlaubsparadiese“. Die silbrigen Vollmondfischchen schaukelten auf dem See und
wurden von einem gelegentlichen Windhauch ans Ufer gespült, wo sie im körnigen
Sand erstarben, um immer wieder, wie in neuer Hoffnung, ans Ufer gespült zu
werden. War der Mond immer schon so rund und so hell gewesen?, fragte sich
Jannis, indem er versuchte, den erregten Gesprächsfetzen durch das gekippte
Fenster zu folgen. Die Erwachsenen sprachen über ihn. Er hätte schon längst,
wie alle anderen Jugendlichen, die vor drei Tagen zu diesem „christlichen
Sommerlager“ gekommen waren, im Bett liegen sollen, im selben Zimmer wie er …
Ja, wie Valentin, dessentwegen sich das Leitungsteam zu dieser späten Stunde
bemüßigt gesehen hatte, eine Sitzung abzuhalten. Nein, nicht nur Valentins
wegen; auch wegen Jannis. Die drei Leiter des Ferienlagers, Monika Nagler,
Robert Ostritz und Sebastian Krotz, sprachen tatsächlich über ihn … über Jannis
und Valentin, über das, was zwischen den beiden in der Nähe des Lagerfeuers
heute geschehen war.
Das Fenster wurde
von innen durch einen weißen, dünnen Vorhang verdeckt; man konnte kaum die
Schemen der im Besprechungszimmer Sitzenden wahrnehmen; umso besser aber hörte
man jetzt, was sie sprachen, denn das Gespräch wurde immer hitziger. Monika
Nagler, eine Frau, die Jannis über den Gebetskreis kennengelernt hatte, den
seine Mutter noch immer leitete, redete sich stotternd in Rage. Sie stotterte
immer, wenn sie sich aufregte. Herr Ostritz, ein dicker, immer zu Scherz und
Schabernack aufgelegter Jugendleiter, versuchte die Aufgebrachte zu beruhigen,
wobei er sagte: „Aber geh, das sind doch nur normale Launen von so jungen
Leuten!“. Sebastians Stimme hörte man nicht; zumindest Jannis hörte nichts.
Aber es war eindeutig: sie sprachen über ihn.
Wie seltsam das
war: zu dieser späten Stunde Gesprächsthema zu sein. Ja, überhaupt Gesprächsthema zu sein! Und dabei – wie er jetzt ahnend
begriff – hatte er ja selber noch gar nicht verstanden, was an diesem Tag
eigentlich vorgefallen war. Es hätte gar nicht so weit kommen dürfen; aber was
geschehen war, war nun einmal geschehen. Sein
Kuss brannte auf meinen Lippen dachte Jannis: dieser Satz ging ihm schon
seit einer geraumen Weile durch den Kopf. Und er meinte, ihn einmal in der
Bibel irgendwo gelesen zu haben, aber er hätte jetzt beim besten Willen nicht
sagen können, in welchem Buch, ob im Neuen oder im Alten Testament. Oder war es
vielleicht gar kein Satz aus der Bibel?, hatte er ihn vielleicht woanders
gehört und bildete er sich jetzt nur ein, dass es sich um einen Satz aus der
Heiligen Schrift handle?, aus diesem göttlichen Werk, in dem Jannis sich so gut
auskannte.
Seine Eltern
hatten ihn und seine jüngere Schwester Valentina mit unerschütterlichem
Glaubenseifer erzogen. Die anderen Kinder hatten ihn in den ersten zwei Klassen
des Gymnasiums seiner schüchternen Zurückhaltung und seines frommen Wesens
wegen verspottet. Jannis aber hatte in Gott und in seinem ausgeprägten
Pflichtgefühl stets Trost und Stütze gefunden. Seit er denken konnte, besuchte
er jeden Sonntag zuerst die von seiner Tante geleiteten Kindergottesdienste;
und seit zwei Jahren die für die Erwachsenen gedachten Gottesdienste in der
immer gut besuchten Freikirche. Seit wenigen Monaten durfte er sogar dem
Pfarrer assistieren und gelegentlich Textstellen vorlesen. In der Schule galten
dem jungen Mann bescheidene Stille, Arbeit und pflichteifriger Gehorsam,
derentwegen die Lehrer immer ein lobendes Wort für ihn übrig hatten; zuhause
galt ihm das Gesetz Gottes und die fromme Lebendigkeit eines Lebens in der
Gemeinde, in der alles seinen Platz hatte, die Stunden des Tages ebenso wie die
umfassenderen Entscheidungen, welche der Diakon der Gemeinde, ein wortgewandter
und donnernder Mann, mit beinah genussvollem Eifer die „moralischen“ nannte.
Viele Jugendliche seines Alters hatten bereits entweder eine Freundin oder
einen Freund; die jungen Menschen kamen einander näher, ohne das Gebot der
Schicklichkeit und der moralischen Verpflichtung, die ihnen kraft der Teilhabe
an der Gemeinschaft zufiel, zu verletzen. Jene, die es gar nicht mehr
aushielten, heirateten so früh wie möglich; andere aber waren schon abgefallen
vom Weg des Herrn, so wie letztes Jahr Tobias, der zum Ärger des Pfarrers und
zur Schande seiner Eltern mit zwanzig Jahren mit seiner ersten Freundin nach
Schweden durchgebrannt war, woher die Gemeinde einen verletzenden Brandbrief
erhalten hatte, in welchem der junge Mann mit kreischend trotzigem Genuss
schilderte, wie er und Sibille (so hieß die junge Frau) in wilder Ehe
miteinander lebten und nicht im Traum daran dächten zu heiraten. Tobias’ Eltern
hatten seit jenem Brief keine Beziehung mehr zu ihrem abtrünnigen Kind
gepflegt. Jannis hatte dies mit asketischer Unerbittlichkeit gutgeheißen. Er
hätte es genauso gemacht! Gesetz ist Gesetz und das Wort Gottes galt.
Kontaktabbruch! Schweigen! Strafe! In solchen Augenblicken, da man sich in der
Sicherheit fest gefügter Ordnungen wähnen konnte, in denen alles Sinn und Ziel,
Folge und Atem zu haben schien, empfand Jannis das lebenspendend Geborgene der
Gemeinschaft, in der er aufgewachsen war.
Letzten März hatte
Jannis – er war gerade fünfzehn geworden – seine Eltern und seine Tante nach
Florenz begleitet, zu einer Konferenz internationaler Freikirchen in einem
Vorort der Stadt. In Florenz hatte er in dem Museum, wo die Statue ausgestellt
ist, Michelangelos David gesehen. Der David hatte größten Eindruck bei Jannis
hinterlassen. Noch Tage später fragte er sich, wieso er ihm, wie ein quälender
Ohrwurm, nicht aus dem Kopf ging. Die offensichtlichste Antwort auf diese Frage
schien sich ihm am Tage der Abfahrt gleichsam aufzudrängen: als er mit der
Tante und den Eltern auf dem Bahnhof wartete, um zurück nach Wien zu fahren. Es
war ein heißer Tag. Eine Horde junger Fußballspieler hatte sich in einem
nahgelegenen Caféhaus grölend breitgemacht. Einer der jungen, schwarzhaarigen
Burschen hatte sich, nachdem er sich mit Kaffee angekleckert hatte, das T-Shirt
ausgezogen. Und Jannis’ Herz hatte zu klopfen begonnen. Er wollte den Blick
abwenden, aber er … konnte einfach nicht. Die Fußballspieler saßen vor dem
breiten Fenster des Cafés. Jannis entschuldigte sich: er müsse auf die
Toilette. Ihm wurde schwindelig, denn das, was er wollte, das wollte er
eigentlich nicht; vielmehr: es durfte
nicht sein. Aber er konnte sich nichts mehr vormachen: er war auf die Toilette
gegangen, nur um beim Rückweg voller Hoffnung, dass die Burschen bis dahin
nicht verschwunden wären, langsamer zurückzugehen: um durch das Fenster den mit
nacktem Oberkörper am Caféhaustisch sitzenden Fußballspieler zu sehen. Und da –
aber er unterdrückte es – schien ihm plötzlich klar, warum ihm die Skulptur des
Michelangelo nicht mehr aus dem Sinn gegangen war …
Monika Naglers
Stimme wurde immer stotternder. Sie forderte, dass man Jannis’ Eltern anrufen
und ihn „sofort!“ abholen lassen solle. ‚Aber dann werde ich Valentin nicht
mehr …‘ dachte Jannis und die Tatsache, dass seine einzige Sorge nunmehr darin
bestand, Valentin nicht mehr sehen zu können, erschien ihm, ebenso wie sie ihn
erschreckte, von einer ungeahnt bergenden Süße. Unwillkürlich traten ihm die
Geschehnisse des heutigen Tages vor Augen: Er und Valentin hätten eigentlich
noch einen dritten Zimmergenossen haben sollen, das Mathematikgenie Ferdinand,
aber der war kurz vor dem Lager krank geworden. Und so waren Jannis und
Valentin zu zweit in dem Zimmer gelandet, in welchem zwei Stockbetten standen;
in deren Mitte ein Nachtkästen mit einer plumpen Lampe. Die Zimmer der Jugendherberge
waren spartanisch. Der Duschraum war eng und man hatte kaum Platz, sich in dem
kleinen Raum um die eigene Achse umzudrehen. Die beiden Burschen, die einander
bisher nur flüchtig kannten – sie besuchten dieselbe Schule – schliefen jeweils
im unteren Teil des Stockbetts. Valentin war heute Morgen früh aufgestanden. Er
zog sich die Unterhose, das einzige Kleidungsstück, das er beim Schlafen
getragen hatte, aus; es glitt auf den Boden. Dann betrat er das Badezimmer.
Jannis tat, als ob er nichts gesehen hätte; aber er linste durch seine
halbgeschlossenen Augen und sah alles. Valentin trat, ein Handtuch um die
Lenden, bald wieder aus dem Badezimmer, dessen helles Licht die eine Hälfte des
noch im Dunklen liegenden Zimmers grell erleuchtete.
„He, wach auf!“,
sagte er lachend und begann sich nun mit dem Handtuch die Haare abzutrocknen.
Jannis’ Herz klopfte. Hinter Valentin schien das grelle Licht und aus dem
Badezimmer trat Dampf. Eine dunstende Korona umgab den sich abreibenden jungen
Mann. Jannis wusste nicht, was er denken sollte, denn die Gedanken lösten sich
in ungekannt rascher Folge ab: das Bild des David des Michelangelo, das in
diesem Augenblick plötzlich Sinn zu machen schien, kämpfte an gegen die
eisernen Worte des donnernden Diakons; aber diese vermochten nichts gegen den
sich aufbäumenden Leib. Jannis fühlte, wie sich der Anblick des sich
abtrocknenden Zimmergenossen allmählich entzog, sich gleichsam auflöste im aus
dem Badezimmer tretenden Dampf; und er fühlte auch, dass nicht Valentin es war,
der sich entzog, sondern dass das Durcheinander in seinen plötzlich zur
Verwirrung gebrachten Sinnen daran schuld war: Er tat, was er nicht tun durfte.
Er schien – konnte es wirklich sein? – zu begehren, was er nicht … aber er
durfte es nicht einmal denken, nein …
Valentin, nachdem
er sich gründlich, vor den Stockbetten stehend, abgetrocknet hatte, schien
nicht daran zu denken, sich etwas anzuziehen. Er war sich seines vorteilhaften
Äußeren bewusst und es schien ihm Freude zu machen, sich vor dem in seinem Bett
liegenden Zimmergenossen zu präsentieren. Jannis’ Atem ging stoßweise und ihm
schien, Valentin wolle ihn jetzt absichtlich quälen. Und ihm schien, Valentin
verachte ihn und mache sich über ihn lustig. Wenn er in diesem Augenblick die
Kraft gehabt hätte … oh ja, er wäre aus dem Bett gesprungen und hätt ihm eine
runtergehaut! Er hätte ihm ins Gesicht geschlagen und geschrien: ‚Hör auf, lass
das! … Du hast ja gar keine Ahnung!‘ Es war dies eine – und dessen war er sich
seltsam bewusst – verzweifelte Vorstellung, an deren Ende Jannis nur eines
fühlte: Neid. Er knirschte mit den Zähnen. Das hatte immerhin ein Gutes: er
konnte endlich seinen Blick abwenden und musste nicht mehr so bloß so tun, als
wende er ihn ab. Er fühlte, wie die Schwellung seines Körpers nachließ; und als
er schließlich, noch mit übergezogener Decke, im Bett lag, starrte er in so
etwas wie verdrossener Müdigkeit auf den Teppichboden. Erst jetzt fiel ihm auf,
dass das kleine Zimmer Teppichboden hatte. Jannis sah die Metallfüße des
Stockbetts, in dem Valentin schlief, der seinerseits mit der gelassenen Ruhe
des von der Natur Bevorzugten sein Handtuch zusammenfaltete und sich nun zu
seinem Bett begab. Jannis sah die behaarten Beine des jungen Mannes. Jeder
Muskel angespannt. Jannis seufzte. Er hätte am liebsten weiterschlafen wollen.
Sein Kopf war schwer und hatte er davor noch etwas gedacht, so war da jetzt nur
ein sinnloses Kreisen, der Versuch, die aus den Fugen geschleuderten Ordnungen
wieder einzusammeln. All seine Kräfte nahm das in Anspruch. Valentin legte
sich, unbekleidet, wie er war, aufs Bett, streckte und reckte sich und stieß
einen – so empfand es Jannis, ohne dabei aber Ärger zu empfinden – provokant
lauten Seufzer aus, indem er an seinem Gemächte fingerte, als arrangiere er mit
konzentrierter Miene ein Blumenbukett.
So begann der
Morgen.
Nach dem Frühstück
im großen Speisesaal, an welches das Besprechungszimmer anschloss, fanden
Spiele statt. Jannis hatte inzwischen wieder Gewalt über sich erlangt. Valentin
war bei allen beliebt. Man mochte ihn. Die Mädchen bewunderten ihn und sein
Haar, das ihm bis zur Schulter reichte. Die Burschen schätzten in ihm den guten
Fußballspieler und Torwart. Jannis hielt sich abseits. Wenn seine Blicke auf
Valentin zu ruhen kamen, dann empfand er – so schien es ihm wenigstens – eine
Art Stolz: weil er es schließlich
war, mit dem Valentin in einem Zimmer wohnte. Irgendwie beruhigte ihn dieser
Gedanke; und bis zum Mittagessen hatte er ihn mit der unerträglichen Realität
des heutigen Vormittags sogar versöhnt.
Am späten
Nachmittag, nach der Mittagsruhe, die die einen lesend, die anderen spazierend
und sich miteinander unterhaltend verbrachten, wurde geschwommen. Jannis war
ein schlechter Schwimmer. Er sah lieber zu. Valentin glänzte auch in dieser
Kunst. Er wurde umschwirrt. Er war der Mittelpunkt freudiger Ausgelassenheit.
Die Mädchen kicherten, wenn sie ihn sahen und hielten sich eng bei ihm. Die
Burschen schubsten ihm von Steg ins Wasser oder nahmen ihn in die Greifzange
Man wollte ihm nah sein, ihn anfassen, berühren und bewundern. Es wurde
gerangelt, gelacht, geblödelt … so verging der Nachmittag. Und da sah Jannis
bei Valentins Tasche dessen Handy liegen. Ihm klopfte das Herz, aber er
bemächtigte sich in einer plötzlichen Aufwallung des Geräts und steckte es ein.
Er wusste noch nicht, wozu. Er fühlte nur, dass er es tun musste. Als es zu
dämmern begann, schichteten Robert Ostritz, Sebastian und einige der
Jugendlichen das Lagerfeuer auf, in einer Senke unweit des Ziegelhauses, in dem
die Schar ihre Nachtruhe verbrachte.
Es wurden Würste
über dem offenen Feuer gebraten; eines der Mädchen hatte die Idee, dass man
Jesus-Lieder singen könne. Also packte Robert die Gitarre aus und die
Jugendlichen aßen und sangen. Jannis hatte eigentlich keinen Hunger, aber er aß
doch; er spürte in seiner Hosentasche Valentins Telefon, das vor einigen
Stunden als verloren gemeldet wurde. Jetzt – im Nachhinein – hätte er nicht
sagen können, wie es gekommen war zu dem, wozu es nun einmal unwiderruflich und
einmalig gekommen war; irgendwann – die letzte Glut war schon erloschen –
standen die beiden Zimmergenossen in einer unbeleuchteten Ecke der
Jugendherberge. Und dort trat Valentin an Jannis heran und flüsterte: „Ich
weiß, dass du’s hast. Gib’s mir bitte zurück. Oder was willst du dafür haben?“
Und dann war’s geschehen. Valentin hatte seinen Mund Jannis’ Mund genähert, als
plötzlich Monikas Stimm ertönte: „Sofort aufhören!“ Aber da war’s schon zu
spät.
Mit zitternden
Händen überreichte Jannis Valentin sein Telefon. Und jetzt konnte er nicht
schlafen. Eine ihm bisher tatsächlich ungeahnte Wachheit hatte ihn überwältigt.
War der Mond immer schon so hell gewesen? Und die Menschen: waren sie immer
schon so lebendig gewesen? Jeder und jede auf seine Art und Weise? Jannis stand
draußen vor dem Fenster. Er hörte, wie ein Sessel gerückt wurde.
„Aber Monika,
jetzt sei doch nicht so …“, hörte Jannis den Jugendleiter Robert reden.
„Ich ka-ka-kann
das nicht du-du-dulden!“, gab sie von sich. Jannis hatte genau gehört, worum es
ihr gegangen war: man müsse die beiden Burschen, die sich dergestalt unsittlich
betragen hatten, augenblicklich von ihren Eltern abholen lassen; und zuerst
müsse man sie trennen, denn sie schliefen ja – „Ein Ska-kanda-a-a-l!“ – im
selben Zimmer und wer weiß, was sie da noch anstellen würden!
Jannis hörte, wie
eine Tür geöffnet wurde. Das war nun offenbar Monika, die wutentbrannt den Raum
verließ. Es ging das Gerücht, dass sie, die schon seit Jahren im kirchlichen
Dienst tätig war, eine alte Jungfer und überdies in Sebastian Krotz, einen
Studenten der Theologie, verliebt sei. Die Jugendlichen erzählten sich alle
möglichen Geschichten. Man machte sich hinter Monikas Rücken über sie lustig.
Jannis hatte die sich in hektischen, abgehackten Bewegungen Mitteilende aber
immer irgendwie bemitleidet. Sie erinnerte ihn an jemanden; bis vor kurzem
hätte er aber nicht sagen können, an wen, aber heute …
Jannis schlich die
Ziegelmauer entlang, bis zu einem anderen Fenster, nämlich dem des Speisesaals.
Und dort sah er, was er erwartet hatte: Monika saß jetzt am selben Tisch wie
Sebastian, der schon gestern um diese Uhrzeit allein im Speisesaal gesessen
war, um mit seiner Freundin zu telefonieren. Das hatte Jannis von Melinda,
einem Mädchen aus der Gruppe, beiläufig erfahren.
„Die haben nämlich
einen Streit miteinander, der Sebastian und dem seine Tussi“, hatte Melinda
eine ihr von Stefanie weitergegebene Information zum Besten gegeben.
Auch hier waren
die Fenster gekippt.
„Ich ver-ste-stehe
das einfach nicht, wie der Robert das ver-ver-tei-ei-digen kann!“, entrüstete
sich Monika.
„Bist du dir ganz
sicher, dass die beiden sich wirklich geküsst haben?“, fragte Sebastian, dessen
Telefon vor ihm auf dem Tisch lag, neben einer Tasse, aus der es noch dampfte.
Und Monika schilderte ihm ausführlich, wobei genau sie vor wenigen Stunden die
beiden Burschen ertappt hätte: sie hätte eigentlich gar nicht zum Lagerfeuer
schauen wollen; es wäre – bei der Schilderung dieser ihr moralisches Feingefühl
verletzenden Geschehnisse stotterte sie vor lauter Aufregung, sodass sie für
ihre Schilderung doppelt so lang brauchte wie jemand, der ruhig und sachlich
gesprochen hätte – also reiner Zufall gewesen, dass sie, um einen letzten
Kontrollblick dorthin zu werfen, noch einmal aus dem Haus gegangen sei; und
dies sei zu aller hier Anwesenden Heil geschehen, denn wer weiß, was noch alles geschehen wäre, hätte sie
nicht im letzten Augenblick noch unzüchtigere Aktionen mit entschiedenem
Widerstand zu verhindern gewusst!
„Aber, schau, das
sind doch nur junge Burschen, ich meine, in dem Alter probiert man halt alles
aus, mal dies, mal das … und …“, versuchte Sebastian anzusetzen, aber er wurde
von Monika Nagler unterbrochen, die beinah kreischte: „Woa-a-a-nders vielleicht
ja, aber hie-i-ier ni-nicht!“
Sebastian seufzte,
denn er hatte jetzt wirklich andere Sorgen …
„Und dass der
Ro-robert das auch noch gu-gu-utheißt! Ich … begreife da-as nicht!“, gab die
Frau von sich.
Wie seltsam es
war, fühlte Jannis, dergestalt Gesprächsthema zu sein. Wäre es also nach Monika
gegangen, hätte man ihn vom Lager entfernen müssen; Sebastian und Robert aber
betrachteten das von Monika in moralischer Entrüstung Ausgeschmückte
offensichtlich als Lappalie.
Jannis schlich an
der Ziegelmauer entlang. Hier war ein Eck des Hauses. Der Vollmond beleuchtete
den Weg. Noch drei Schritte und er wäre bei der Eingangstür in den Korridor, in
dem die Zimmer lagen. Behutsam drückte er die Klinke nach unten. Die Tür
öffnete sich. Jannis betrat den im Dämmerlicht liegenden Gang und schloss
hinter sich die Tür, so langsam und lautlos wie möglich. Wenn er jetzt Pech
hätte, dachte er, würde das Licht angehen, Monika würde mit ihren abgehackten
Bewegungen ums Eck stürmen und wieder ein Gezeter anstimmen, trotz all der
begütigenden Worte von Robert und Sebastian. Niemand aber kam. Der Boden des
Korridors spiegelte, als fiele auch auf ihn das Mondlicht. Am anderen Ende
befand sich die Tür zum hell erleuchteten Speisesaal, wo nun Monika und
Sebastian saßen und sich miteinander unterhielten. Vielleicht würden sie länger
dort sitzen; wenn die Gerüchte stimmten, dass sie in ihn verliebt war. Aber
Jannis bezweifelte es, wobei: die Mädchen haben, was dergleichen Dinge
anbelangt, meistens recht …
Endlich stand er
vor seiner und Valentins Tür. Er klopfte behutsam und hoffte, dass niemand käme
und Licht machte. Nicht nur, dass es seine Stimmung, wie er fühlte, ruinieren
würde; es würde auch alles wieder durcheinanderbringen, so wie heute Vormittag,
wo er nicht gewusst hatte, ob er Valentin hassen oder lieben sollte.
„Es ist offen!“,
hörte er die Stimme seines Zimmergenossen. Jannis ärgerte sich; warum hatte er
nicht einfach geöffnet? Er betrat das Zimmer, in dem es dunkel war wie in einem
Sack.
„Warte“, hörte er
Valentins Stimme. Der griff nach etwas – so hörte es sich an – auf dem
Nachtkästchen. Und dann leuchtete der Bildschirm seines Handys. Jannis stand
vor der Tür. Linker Hand war die jetzt geschlossene Tür ins Badezimmer.
„Mach zu!“, sagte
Valentin. Wie dumm!, auch das hatte er vergessen. Wachheit und Verwirrung waren
es, die ihn heute den ganzen Tag lang heimgesucht hatten, wie ein helles,
leuchtendes Kreisen. Jannis drehte sich um. Der Bildschirm gab genug Licht.
Leise drehte er den Schlüssel im Schloss. Durften die Jugendlichen ihre Zimmer
eigentlich zusperren? Er wusste es nicht. Wenn er sich recht erinnerte, war es
eigentlich verboten, aus Sicherheitsgründen … wenn es einen ernsthaften
Krankheitsfall gäbe oder so … dann müssten die Leiter … Aber jetzt dachte er
wieder, ob er etwas dürfe oder nicht dürfe. Er fühlte es dumpf und verscheuchte
den Gedanken. Dann blieb er bei der Tür stehen.
„Was ist, steh
nicht so herum!“, flüsterte Valentin. Er leuchtete Jannis mit dem Bildschirm
seines Handys.
„Komm her“, sagte
er. Jannis Herz begann wieder zu klopfen. Er näherte sich dem Bett. Plötzlich
war es wieder stockfinster. Dann hörte Jannis die schwere Bettdecke, unter der
er letzte Nacht geschwitzt hatte, sich bewegen. Er streckte seine Hand aus, um
die Kante des Stockbetts im Dunkeln zu ertasten. Allmählich aber nahmen seine Augen
etwas wahr.
„Setz dich daher“,
hörte Jannis die Stimme seines Zimmergenossen. Dann ein einladendes Klopfen am
Bett, so wie man einem Hund ein Zeichen gibt, indem man auf einen Sessel tippt,
um ihm anzudeuten, dass er hüpfen solle. Jannis verstand und setzte sich.
„Ist die Tür zu?“,
fragte Valentin.
„Ja“, sagte
Jannis, der jetzt Valentins Hand um sein rechts Handgelenk spürte. Valentin zog
ihn zu sich. Jannis hörte, wie das Bettzeug raschelte. Dann zog er seinen Kopf
ein, um nicht an der Unterkante des oberen Betts anzustoßen; und schlüpfte
hinein. Er spürte den warmen Atemhauch seines Zimmergenossen im Nacken. Es war,
als ob ein kribbelnder Fieberschauer seinen ganzen Körper durchzöge. Er spürte,
wie er die Augen schloss. Er spürte es nur, denn es war stockdunkel im Zimmer.
Dann fühlte er Valentins Arm sich um seine Schulter legen; und im Rücken fühlte
er die allmählich seinen Köper erreichende Wärme, aus der er schloss, dass
Valentin nackt war. So lagen sie einfach nur da. Ihr Atem ging ruhig.
Und so erwachte er
am nächsten Morgen. Durch das Fenster über dem Nachtkästchen drang hellstes
Tageslicht. Am Korridor war Roberts Stimme zu hören: „Aufstehen! Frühstück in
einer Viertelstunde! Aufstehen, alle miteinander!“, rief der Jugendleiter,
indem er den Gang auf und ab ging und an die Türen hämmerte. Jannis lag mit geöffneten Augen im Bett.
Valentins regelmäßiger Atem war das einzige, was er hörte, nachdem Roberts
Geschrei verklungen war. So lag er da und starrte auf sein leeres Bett, auf dem
die Decken und Polster fein säuberlich arrangiert waren, so wie er es von
zuhause gewohnt war, Ordnung, Reinlichkeit und pflichtgemäßen Anstand wahrend.
Jannis musste lächeln. Wie unwirklich das alles war … wie seltsam wahr es sich plötzlich anfühlte,
ja das war’s wirklich: wahr … Konnte es daher, fragte er sich – ja, konnte es daher …? Aber sein Gedanke
wurde zerrissen. Robert klopfte hämmernd auf die Tür: „Aufstehen, ihr zwei!“
Jannis erschrak.
Aber die Tür war gewiss geschlossen. Robert – er hörte es – entfernte sich
wieder, um nochmals an alle Türen zu poltern. Langsam drehte er sich im Bett
um, langsam …