Simon Konttas: Hinter der Stirn das Schwappen
Montags=Text
Simon Konttas
HINTER
DER STIRN DAS SCHWAPPEN
Ich bin ein
unbedeutender Kollege des von den Medien geliebten, zu Interviews und
Podiumsdiskussionen eingeladenen, vom Fernsehen und Radio zu Rate gezogenen,
vielschreibenden und umtriebigen Philosophen Heinz-Josef Lehmann. Mich kennt
keiner. Heinz-Josefs Büro befindet sich gleich zwei Türen weiter. Dort geht man
ein und aus. Wobei: er befindet sich selten im Büro. Er arbeitet von zuhause
aus, falls man das, was er tut, Arbeit bezeichnen möchte. Kein einziger
eigenständiger Gedanke. Seit zwanzig Jahren, seit seinem legendären
Fernsehauftritt, käut er immer nur ein- und dasselbe wieder. Irgendwie ist es
ihm gelungen, Berühmtheit zu erlangen, ich weiß nicht, wie. Und obgleich sein
Äußeres zu wünschen übriglässt, hat er Verehrerinnen. Das beflügelt seine
Umtriebigkeit im selben Maße wie es sein Denkvermögen verdüstert. Sein Stern
ist – es wäre töricht, das bezweifeln zu wollen – im Sinken. Was aber rede ich
von Lehmann? Wahrscheinlich, weil wir uns soeben auf der Toilette über den Weg
gelaufen sind. Kurzer Gruß, „Servus, Herr Kollege“, „Wie geht’s?“ und die
üblichen rhetorischen Chinoiserien, die man Höflichkeit nennt. Zwischen uns
beiden herrscht kühle Distanz, im Grunde genommen. Er blickt auf mich herab.
Und ich … nein, verachte ihn nicht, er ist mir eigentlich ziemlich egal. So wie
mir seit mindestens einem Jahr schon alles irgendwie schal und egal ist.
Es ist Montag, ein
heller Oktobertag. Ich stehe in meinem Büro, die Tür ist verschlossen. Man hat
einen guten Ausblick auf die Dächer der Stadt; es fällt gerade ein
balsamisch-weiches Mittagslicht in mein Zimmer. Die Deckenlampe ist
ausgeschaltet. Ich stehe gegen die Eingangstür gelehnt und warte auf etwas,
weiß aber nicht mehr, worauf. Ich könnte im Kalender nachsehen, habe aber keine
Lust. Linker Hand mein Schreibtisch, dahinter das obligatorische Buchregal, ein
„Sehet-her-wie-toll-ich-bin“, zwischen Schreibtisch und dem runden Tisch, um
den drei Stühle stehen (die mündlichen Prüfungen finden hier statt) ein
Perserteppich. An den Wänden zwei Ölgemälde, die meine Schwester gemalt hat.
Ich stehe gegen die Tür gelehnt und blicke auf die Terrasse. Ja, in der Tat,
die Büros von Lehmann, mir und einem anderen Kollegen sind durch einen
gemeinsamen Balkon verbunden. Auf dem Korridor hört man Türen auf- und zugehen.
Vielleicht die Putzfrau. Ich könnte jetzt hinausgehen und ein Gespräch mit ihr
führen, ein richtiges, menschliches Gespräch und nicht tagein, tagaus das tun,
was ich sonst immer tue: Phrasen dreschen und Höflichkeitsfloskeln abspulen.
Ich könnte sie, zum Beispiel, fragen, wer sie ist, woher sie kommt, wie es ihr
geht, wie sie über die Runden kommt; was sie heute Abend essen wird, ob sie
Kinder hat. Türen werden auf- und zugeschlagen; ich bleibe gegen meine Tür
gelehnt und gehe – natürlich, wie immer – nicht aus dem Büro heraus. Welch ein
Symbol! Ein Symbol für mein ganzes Leben. Auf meinem Schreibtisch liegen Papiere.
Ich bin seit den frühen Morgenstunden hier. Am Nachmittag habe ich ein Seminar
zu halten. Man hat mich auf dem Korridor gesehen. Die Menschen glauben, ich
säße in meinem Zimmer und dürfe nicht gestört werden. ‚Er arbeitet, er schreibt
an seinem neuen Artikel‘ denken sie vielleicht. Ich bin zufrieden, wenn meine
Anwesenheit zu solchen Meinungen Anlass gibt. Hauptsache, ich werde in Ruhe
gelassen.
Ich habe also
entrümpelt. Zwei Schubladen und einen Kasten ausgeräumt. Papier, Papier,
Papier. Längst vergessene Aufzeichnungen, alte Unterlagen, Exzerpte aus den
Werken von Schopenhauer und Heidegger; dazu hatte ich ein Seminar vor drei
Jahren; alte Seminararbeiten meiner Studenten, die mir gut gefallen haben;
nicht wegen des mir schon seit Jahren Ekel und Überdruss verursachenden
Inhalts, sondern weil sie, zur Abwechslung, gut und nachvollziehbar geschrieben
waren. Die meisten können sich nicht einmal als Doktoranden, geschweige denn
Anwärter zum Magister- oder, wie das neuerdings heißt, Mastergrad verständlich
ausdrücken: unfähig, auch nur zwei Gedanken miteinander zu verknüpfen; plumpe
Redewendungen, falsche Verben an der falschen Stelle, eine aufgeblähte oder
abgehackte Syntax, der man anmerkt, dass sie eigens für solche Arbeiten
geschauspielert wird, während die betreffenden Herrschaften sich in ihrem
alltäglichen Leben weiß Gott wie ausdrücken. Die andere Seite – Studenten, die
nur noch reden und schreiben wie philosophische Automaten – sind mir aber
ebenso zuwider. Ich hatte letztes Jahr einen von diesem Schlag: ein junger
Student, keine fünfundzwanzig, immer im Anzug, mit Aktentasche, der in
druckreifen Sätzen sprach und zum Gespött seiner Mitstudenten wurde, ohne es
selber zu merken, so wie alle Narren, die nicht merken, wenn sie anderen auf
die Nerven gehen oder sich lächerlich machen. Er wollte bei mir eine Arbeit
über Nietzsche schreiben; ich verwies ihn auf Lehmann. Eine unerträgliche,
schleimige Figur, die ich froh war los zu sein.
Das viele Papier,
die entrümpelten Unterlagen: die entsetzen mich keineswegs. Ich weiß nur zu
gut, dass viel im Laufe der Zeit zusammenzukommen pflegt. Was mich entsetzt,
ist vielmehr die ungeklärte, unbeantwortete Frage, was von all dem
Geschriebenen und Zusammengetragenen, Exzerpierten und Bearbeiteten letztlich
übrig bleibt. Habe ich nur Papier angehäuft oder habe ich mich, als Mensch, als
fühlendes, denkendes Subjekt, verändert? Sähe ich mich genötigt, diese Frage
abschlägig zu bescheiden – und immer mehr beschleicht mich die Ahnung, dass ich
es werde tun müssen –, würde mich so etwas wie Unruhe, ja Panik gar befallen.
Ich sage, „würde“ mich befallen. Das ist falsch. Faktum nämlich ist: diese
Panik hat mich bereits befallen.
Gestern war
Sonntag, ein schöner Herbstnachmittag. Besuch bei meiner Schwester auf dem
Lande. Ich setzte mich aufs Rad und fuhr los. Eine milde Herbstsonne. Eine
kühle Brise. Ich fuhr und fuhr und fühlte, wie gleichsam hinter meiner Stirn –
ich konnte das Gefühl seltsamerweise genau verorten, indem ich zugleich wusste,
dass dieser Ort nur gewissermaßen ein symbolischer war – meine Gefühle, wie
aufgewühltes Wasser, überschwappten. Es war, wie wenn mein Kopf voll von
Gefühlsflüssigkeit gewesen wäre. Der Abend brach an. Ich fuhr an Reihenhäusern
vorbei. Lauter weiße Reihenhäuser, kein Mensch in den Gärten, kein Hund, keine
Kinder, nichts. Kein einziger Laut. Das Licht der Abendsonne. Weiße Wände, in
ein honigwarmes Leuchten getaucht. Auf einer Hauswand der Schatten eines Astes,
wie ein Schattenspiel aus den Tagen vor dem Kinematographen. Ich hielt inne,
betrachtete den Astschatten und das Gefühlswasser in meinem Kopf schwappte und
schwappte, konnte sich aber keinen Ausgang verschaffen. Ich fuhr weiter. Dann:
eine Waldlichtung. Eine Bank mit Tisch für müde Wanderer. Ich stellte das
Fahrrad ab und setzte mich kurz. Ein Käfer krabbelte auf den Holzbrettern des
Tisches. Er sah seltsam aus: wie ein Marienkäfer, nur gelblich, mit weißen
Punkten. Ein Albinomarienkäfer, sagte ich mir. Das kleine Ding tat mir
irgendwie leid. Ich platzierte meine Hand auf den Tisch. Der Käfer zögerte
einen Augenblick, krabbelte dann über meinen Fingernagel; krabbelte auf das
trockene Blatt, das ich ihm hinhielt, öffnete kurz sein Panzerchen, unter dem
die Flügel verborgen gefaltet sind; und krabbelte weiter. Dann schnippte ich
den Marienkäfer auf den Waldboden und fuhr weiter. Eine menschenleere Straße,
zu beiden Seiten Gehsteige. Ein Kind, mit einer eingepackten Gitarre auf dem
Rücken, kam mir auf seinem Tretroller entgegen, stürzte plötzlich. Ich hielt
wieder inne und fragte den Burschen: „Alles okay?“. Der lächelte freundlich und
sagte „Ja!“. Ein kurzer Augenblick der Versöhnung, der meinen Gedanken wieder
Kontur gab. Inzwischen: das Licht in den Wipfeln der Bäume kupferfarben,
herbstlich, abendlich. Hinter meiner Stirn schwappte es, als müsse ich gleich
weinen, aber ich konnte nicht. Ich hätte gern geweint, aber irgendwie gelang es
mir nicht; vielleicht, weil ich es eine Sekunde zu früh gewollt hatte. Wenn man es will, dann weiß man, dass man es will
und es gelingt nicht. Das leidige Bewusstsein. Irgendwo rief ein Kuckuck, nur
ein Mal, lustlos, als wäre damit für einen Sonntag genug getan. Endlich
gelangte ich an eine befahrene Straßenkreuzung. Ein Bus fuhr vorüber, dasselbe
Modell wie der Bus, mit dem ich damals zur Schule gefahren war. Ich war jeden
Tag erst gegen achtzehn Uhr nachhause gekommen, immer mit dem Bus. Ich war
einer der letzten, der ausstieg. Vergeudete Schuljahre, verbracht mit Arbeit
und Lernen. Papier, Papier, Papier. Der Bus stimmte mich melancholisch. Ebenso
wie der einsame Schrei des Kuckucks vorhin.
Ich stellte das
Fahrrad ab und betrat das Häuschen meiner Schwester. Inzwischen breitete sich
das Zwielicht aus. Kindergeschrei von einem nahegelegenen Spielplatz. Ich saß
in der Küche meiner Schwester, die kurz zuvor mit ihrem Mann in ein Konzert
gefahren war. Ich sollte, wenn ich nachhause führe, hinter mir gut zuschließen,
hatte sie gesagt; und den Fleischstrudel, den sie zum Kühlen aufs Fensterbrett
gestellt hatte, zugedeckt auf den Tisch stellen; und das Fenster dann gekippt
lassen. Ich saß vor dem Küchentisch und starrte ins Leere. Draußen krächzte ein
Fasan. Meine Stirn war heiß, als hätte ich Fieber. Ich trank ein Glas Milch und
hatte Lust auf eine Zigarette, in der Hoffnung, dass diese das Schwappen
zerstreuen oder zumindest beruhigen würde. Ein Motorrad beschleunigte; ein
kreischendes Aufheulen. Ich strich über meine Bartstoppeln. Es kratzte. Der
Fleischstrudel dampfte schon lange nicht mehr. Ich blickte auf die Uhr: Zeit,
nachhause zu fahren. Meine Hände begannen zu zittern. Die Unruhe, schon wieder.
Plötzlich, von draußen, ein Geräusch, als klopfe jemand mit einer Gabel auf ein
Glas, wie vor einer Ansprache um Aufmerksamkeit heischend. Aber die Ansprache
blieb aus. Oder hörte ich das Klopfen nur in meinem Kopf? Das Schwappen hatte
sich ein wenig beruhigt. Und ich wusste, dass mein Wissensdurst nichts anderes
war und ist, als ein Ersatz für das körperliche Leben, das ich nicht habe, das
ich entbehre. Ich lebe noch zu drei Vierteln in der Lüge; vor zehn Jahren habe
ich noch zur Gänze in der Lüge gelebt. Vielleicht also noch zwanzig Jahre, um
mich gänzlich zu befreien? Kann ich so lange warten? Das viele Papier jetzt auf
meinem Schreibtisch.
Die Panik, die
mich befallen hat. Das Zittern meiner Hände gestern Abend, das wässrige
Schwappen der Gefühle, die Sehnsucht nach Tränen angesichts des Schattens eines
kahlen Astes. Ein unscheinbares Ziehen in meinem Kopf und sogleich die
hypochondrische Angst, es handle sich um eine schwere Krankheit, um einen
Tumor; dabei ist es vielleicht nur ein Ziehen im Zuge einer Muskelverspannung.
Die vielen Stapel Papier, die ich heute wegwerfen werde, befördern nur eine
einzige Sehnsucht: nackt und bar vor der Welt zu stehen, alles Papier in den
Mistkübel zu schmeißen, es los sein, ein für allemal.
Der letzte Sommer
war arbeitsreich; ich hatte mir absichtlich zu viel vorgenommen, weil ich mich
im Juni bei einem Seminar in Tamara verliebt hatte, eine Studentin. Das sagt sich
so leicht; und klingt mit dem Wörtchen „weil“ verbunden so banal. Aber … Es ist
einfach so. Es anders zu sagen, zu denken, habe ich keine Lust, ja keine Kraft
zumal. Zum ersten Mal verliebt seit zehn Jahren. Wenn man aber keine Aussichten
auf Erfolg hat, erstickt man die jeden Augenblick zu erwartende Verzweiflung
und die keinen Ort kennende Angst vorm leeren Raum (vielleicht häufen wir
deshalb so viel Papier an, Wissen, Dinge …?) mit Betriebsamkeit, um abends in
den eigenen vier Wänden nicht wahnsinnig zu werden. Ständig Termine, Treffen,
privater oder offizieller Natur. So sind die letzten Monate vergangen. Und man
fühlt sich trotzdem wie ein Leuchtturm: hellsichtig, stabil im besten Sinne,
aber zugleich statisch, wie jemand, der nicht vom Fleck kommt; und vor allem:
bedroht. Überall Sturm und Wellen und Gischt und Meer und unklare
Unendlichkeit, tagein, tagaus.
Die Gefühle, die
ich vor Abschluss des Sommersemesters für Tamara zu hegen begann, mir in den
letzten zehn Jahren völlig fremd gewesene Gefühle, ließen keinen Zweifel zu
darüber, dass ich meine besten Jahre vergeudet habe mit Vorlesungen,
nervenaufreibenden Terminen, Sitzungen und administrativen Kinkerlitzchen. Ich
ersticke die Hoffnungslosigkeit mit Betriebsamkeit. So vergeht die Zeit sehr schnell,
ein Tag ist wie der andere, ich schwebe unbetroffen über die Dinge hinweg und
empfinde dabei doch – dieses Gefühl fliehend und es zugleich durch mein
Verhalten befördernd – das grausam Kreisförmige der Zeit. Da es nicht üblich
ist, mit Menschen, die man nicht gut kennt, über die eigenen Empfindungen zu
sprechen, sind weder Kollege Lehmann noch die Putzfrau noch die Studenten
darüber im Bilde, was mich eigentlich bewegt. Es dürfte ihnen aber auch völlig
gleichgültig sein, denn ich bin für sie ein Niemand, ebenso wie sie, im Grunde,
für mich lauter Niemande sind. Lehmann – zumindest vorhin auf der Toilette hat
er so gewirkt (allein die Art, wie er mir halb spöttisch, halb mitleidig
zugelächelt hat) – ist mit seiner hochbezahlten Beamtenexistenz zufrieden. Aber
vielleicht irre ich mich und ihm geht es genauso wie mir. Es ist, wie gesagt, nicht üblich über die
eigenen Gefühle zu sprechen. Man tratscht auf dem Korridor, wenn man sich
zufällig über den Weg läuft, tauscht ein paar beiläufige Floskeln aus und wünscht
sich viel Erfolg für diesen Vortrag, jene Vorlesung und so weiter. Die Ruhe,
die man dabei ausstrahlt, ist trügerisch; und sie hat auch keinen anderen
Zweck, als trügerisch zu sein. Nichts banaler als diese Feststellung. Ist diese
Ruhe aber wesentlich bereits Resignation, oder, gleichsam schon eine Stufe
bedenklicher, ein kastriertes Gefühl?
Ich kann Vorträger über Heideggers „Sein und Zeit“ halten, über das Mitleid bei
Nietzsche, über den Zeitbegriff bei Cusanus und dessen Rezeption bei Tillich
und Cassirer und weiß der Kuckuck, was noch alles, weiß aber auf diese Frage
keine befriedigende Antwort. Ich weiß es nicht. Und wüsste auch nicht, wo ich
nachschauen sollte. Ich kann es also nicht sagen, aus mindestens zwei Gründen:
erstens, weil ich niemals gelernt habe, meinen eigenen Gefühlen nachzuforschen
und zweitens, weil ich es gewohnt bin, mich zusammenzureißen. Die Gewohnheit,
die Zucht der Kultur siegt, scheint’s, am Ende über alles. So kann ein ganzes
Menschenleben in grausamer Askese verlebt werden, in einem fruchtlosen Hass
gegen geschlossene Räume, in einer verzweifelten Abneigung gegen die
zimmerdumpf-lauwarme Beamtenexistenz: ein ganzes Leben, sage ich, ohne auch nur
eine einzige Veränderung.
Man ist es eben so
und nicht anders gewohnt und man bildet sich ein, auch diese Hürde der
Selbstüberwindung noch nehmen zu können, auch diese Müdigkeit „übertauchen“ zu
können; bis man am Ende ein jammerläppisches, von seinen Nerven malträtiertes,
nervös-zittriges, unzufriedenes und anderen Menschen das Leben schwermachendes
Gemüse ist. Vielleicht ist ja auch Lehmann bereits ein Gehirngemüse? Sehr gut
möglich. Sein Stern ist ja, wie gesagt, im Sinken: Zeit seines Lebens keine
einzige eigenständige Konzeption entwickelt, immer nur Heidegger, Kierkegaard und
Nietzsche wiedergekäut; ein Buch nach dem anderen veröffentlicht, in dem er
sich über die ihm seit den Jugendtagen geläufigen Philosophen auslässt; eine
Vorlesung nach der anderen über das Schöne und die abendländische Ästhetik,
ohne dabei selber auch nur im Ansatz imstande zu sein, einen einzigen Strich zu
malen oder ein Gedicht zu schreiben. Blutleerer Theoretiker, hoch gelobter
Kritiker des zeitgenössischen Bildungswesens, beliebter Interviewgast und
zierende Krone jeder bildungsbürgerlichen Podiumsdiskussion; hochbezahlter
Redner, der neulich im Scherz gemeint hat, er wisse gar nicht, was er mit den
hohen Gagen, die er bekomme, überhaupt noch anfangen solle: Stumpfsinn,
Talentlosigkeit und mutloser Undank, kurzum.
Mag sein, dass
auch Lehmann das Kreisförmige der Tage empfindet und zwar als Grauen und Last
und nicht als zyklischen Lebensstrom. Mag sein, dass auch er den Hass gegen die
geschlossenen Räume empfindet; und gerade deshalb so oft außer Haus ist.
Immerhin hat er alle vier Jahre etwa eine studentische Geliebte, wenn man’s
glauben kann. Gewiss, das erfrischt. Oder verblödet, je nachdem; oder macht
zufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand und täuscht über dessen talentlose
Erbärmlichkeit hinweg, die in einem vollkommenen Mangel an wirklicher schöpfersicher
Unruhe besteht, die wesentlich etwas anderes ist als Betriebsamkeit und das
Bedürfnis, sich aus bequemer Unfähigkeit zu richtiger Arbeit mit Terminen
zuzudecken: Es wird wiedergekäut, gekäut und verdaut, immer dasselbe.
Dazwischen vögelt und masturbiert man, liest Zeitungen und käut und käut
wieder, immer dasselbe. Den ungebetenen Umstand, dass man eigentlich keinen
Glauben mehr an die Langfristigkeit der eigenen Arbeit hat, kann man mit
solchen Ausfluchten wohlanständig ersticken. Ich sehe meine abgearbeiteten
Papierstapel und kann mir nichts mehr vormachen, wenn ich mir, ehrlich und mit
Bewusstheit, die Frage vorlege, ob ich denn an die Langfristigkeit dieser Dinge
tatsächlich noch glaube. Nein. Und warum nicht? Ganz einfach. Weil ich mich an
nichts mehr von dem, was in diesen Papierstößen festgehalten ist, erinnern
kann. Alles in den Orkus des Vergessens gestürzt; und das, obwohl ich viele,
viele Arbeitsstunden an die Auftürmung dieser Papiermengen verwendet habe. Ich
hätte es genauso gut bleibenlassen können, tat es aber nicht. Wie denn auch?
Wie etwa letzte Woche: das Seminar. Ich hatte gehofft, dass Tamara anwesend
wäre. War sie aber nicht. Kaum hatte ich den Raum betreten und gesehen, dass
sie nicht da war, erfasste mich ein Gefühl verzweifelter Aushöhlung. Behaglich
plaudernd und auf den Beginn meiner Einleitungsworte wartend, saßen die
Studenten da; wenn sie gewusst hätten, wie es in meinem Inneren aussah. Es war
absurd. Die ganze sich mir bietende Lage war absurd und irreal. Jedes Wort, das
im Folgenden aus meinem Mund kam, musste ich mir, so empfand ich es,
schmerzhaft auspressen. Und nachdem ich es ausgepresst hatte, verklang es
flatternd im Raum wie ein fremdes Wort. Als wäre ich geteilt, gespalten,
plötzlich inexistent. Ich betrat nach dem Seminar schwankend mein Büro und ließ
mich auf den Sessel hinter meinem Schreibtisch fallen, erschöpft wie nach einer
stundenlangen Wanderung. Und allmählich fühlte ich, zu meiner Beruhigung, wie
das normale, alltägliche Selbstgefühl wieder in mir Einzug hielt. Das also
waren meine Hände, meine Beine. Das war mein Schreibtisch, das war meine auf
dem Tisch abgelegte Brille. Ich begriff, dass ich kurz davor gewesen war, mich
aufzulösen. Deshalb war mir alles so absurd vorgekommen: weil ich mich beinah
verflüssigt hätte, in jämmerliche Gleichgültigkeit, in ein
„Das-hängt-mir-alles-zum-Hals-heraus“. Vielleicht ist das Schwappen hinter
meiner Stirn ein ähnliches Phänomen: eine Art Ankündigung, Präludium, eine Art
schwächeres Symptom der Auflösung meiner selbst in die einzelnen Bestandteile,
ich weiß es nicht. Mag sein, dass die Gewöhnung, über dergleichen abstrakte
Dinge nachzudenken, ohne dabei aber auch einen Millimeter näher an die eigenen
Gefühle heranzukommen, sie nur verschlimmert, anstatt sie erträglicher zu
machen. So saß ich also an jenem Abend, nach dem Seminar, auf meinem Sessel, um
wieder zu mir zu kommen und fragte mich, wie es denn sein konnte, dass die
Menschen sich allen Notwendigkeiten so gefügig unterwerfen; ich fragte mich
das, weil mir selber in jenem Moment nichts
selbstverständlich erschien, rein gar nichts. Ich sagte mir: ‚Nichts ist mir
selbstverständlich, nicht einmal das Glück.‘ Und ich fühlte, dass dieser Satz
ein Synonym für ‚denkender Mensch‘ war. Das ging mir durch den Kopf. Ich
empfand die Richtigkeit dieser Feststellung, mich verdross zugleich ihre
Zusammenhanglosigkeit zu dem soeben Empfundenen, aber eigentlich war mir auch
das egal. Ich musste wieder irgendwie zu mir kommen, das war die Hauptsache;
mich fassen, Gewalt über mich erlagen. Ich wusste ja nur zu gut – und machte
mir diesbezüglich auch gar nichts vor –, weshalb ich mich so ausgehöhlt gefühlt
hatte: weil ich, ohne es mir einzugestehen, mit aller Leidenschaft und Hoffnung
erwartet hatte, dass Tamara anwesend wäre. Ich hatte fest damit gerechnet, es
inständig gehofft; und dann hatte mich die Banalität der Situation eines
Besseren belehrt und mein Körper, mein Geist hatte nicht anders auf die
groteske Enttäuschung, die einem körperlichen Faustschlag gleichkam, antworten
können, als dadurch, mich selber in meine Bestandteile aufzulösen. Ich hatte
also noch – sollte ich deshalb frohlocken? – Erwartungen und war imstande, eine
Enttäuschung zu empfinden; ich lebte
also. Aber musste ich denn so leben? So am Rande eines mich aushöhlenden
Wahnsinns …?
Mit geschlossenen
Augen lehne ich mich gegen die Tür meines Büros; vor mir die offene Balkontür.
Da klopft es plötzlich. Schlagartig ersteht ihr Bild vor meinem Auge. Ich stoße
mich, möglichst lautlos, von der Tür ab. Könnte es denn wirklich Wahrheit sein?
Ich weiß im selben Augenblick, dass meine Hoffnung mir Trugbilder vorgaukelt;
dass es nicht sie ist. Und trotzdem vermag ich gegen dieses Bild der vor meiner
Tür stehenden jungen Frau nichts. Und ich weiß, dass, wenn ich öffne, ich enttäuscht
sein werde, ebenso wie ich letzte Woche beim Seminar bis zur Selbstauflösung
enttäuscht war; und ich weiß auch, dass ich diese Enttäuschung überspielen und
meine Maske zur Schau tragen werde, sodass mein Gegenüber nichts ahnen wird
über das in meiner Seele sich ereignende: statisch, stabil, hellsichtig, aber
bedroht, wie ein Leuchtturm. Und es klopft wieder.
„Herr Professor?“,
höre ich eine männliche Stimme. Da fällt mir ein, dass ich heute – ist es denn
schon so spät? – eine Prüfung abnehmen muss. Es ist also scheinbar der
betreffende Student. War es denn das, worauf ich gewartet habe? Weshalb ich es
vorgezogen habe, nicht in meinen Kalender zu blicken? Überpünktlich ist er,
wenn’s wahr ist. Eine verdrießliche Müdigkeit erfasst mich, als müsste ich mit
kalten, klammen Händen eine ebenso kalte Bleiplatte streicheln. Kalt sind meine
Hände, kalt ist das Gesicht dieses jungen Menschen, farblos und für mich
uninteressant. Immerhin aber ist er einer derjenigen, deren Seminararbeiten auf
meinem Stapel liegen: weil sie gut geschrieben sind und einen Gedanken
stringent ausführen. Ein talentierter junger Mann also. Ich werde ihm Fragen
stellen, höflich sein; denn es ist nicht üblich, nicht höflich zu sein und den
gegenwärtig wahren Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Er wird ebenso höflich
sein und mir verschweigen, dass er Probleme hat, die Miete für sein WG-Zimmer
zu berappen; verschweigen, dass seine Mutter arbeitslos ist und er sich schämt,
aus einer Arbeiterfamilie zu stammen, vor der er sich pausenlos für sein
Studium rechtfertigen muss, sodass er nicht nur seelisch, sondern, wegen seiner
Arbeit, auch körperlich zu leiden hat: schlaflose Nächte, Geldsorgen,
allmählich in ihm aufsteigendes, ihn beunruhigendes Ressentiment gegen alle,
die mehr Zeit, mehr Geld, die Eigentum und Sicherheit haben. Er würde mir all
diese Dinge am liebsten erzählen, seine Seele ausschütten, ich weiß es.
Stattdessen lächelt er höflich, wie ich; ich stelle ihm Fragen, gebe ihm einen
Einser (denn er ist, wie gesagt, ein guter Student), er wird sich für einen
Augenblick erleichtert fühlen, aber kaum steht er wieder draußen auf der
Straße, wird ihn wieder die den Erfolg eines Prüfung verdunkelnde Besorgtheit
packen; oder die unruhige Angst davor, ob er’s rechtzeitig ins Lokal schafft,
wo er heute noch vier Stunden wird arbeiten müssen, wie jeden Montag, Dienstag
und Donnerstag. Ich öffne die Tür und der junge Mann betritt mein Büro.
„Grüß Sie Gott,
bitte, nehmen Sie nur Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, frage ich
ihn. Er zögert, erstaunt über meine joviale Freigiebigkeit. Ich nehme ihm die
Last der Entscheidung ab, indem ich sage: „Ich würde jetzt auch einen trinken“,
obwohl ich eigentlich gar keine Lust auf Kaffee habe.
„Okay, gern, in
dem Fall, danke“, sagte er und ich sehe, wie er eine entspannte Körperhaltung
einnimmt. Und so beginne ich, wie immer in solchen Situationen, ein die
Prüfungsstimmung erleichterndes Gespräch übers Wetter oder dergleichen
Banalitäten. Immerhin: ich kann nett sein. Die Studenten schätzen mich deshalb.
Ich behandle sie mit Respekt und ausgesuchter Höflichkeit. Ich bin nachsichtig,
verstehe Probleme wie die des an meinem Tisch Sitzenden und bilde mir nicht
ein, anders als Lehmann, ein unüberbietbarer Meisterdenker zu sein. Wie auch
immer: dann setze ich mich mit den beiden Kaffeetassen an meinen runden Tisch,
räuspere mich, seufze und … incipit comedia.