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Silke Peters: Kirkeeffekt

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Armin Steigenberger


Kirkes Effekt auf die Welt



Auf dem Einband ist vor grauem Hintergrund ein weißer Ballon zu sehen. Dieser eine weiße herrenlose (!) Ballon, in dem kein Passagier zu sehen ist, wirkt trotz seiner prominenten Position auf dem Cover einsam und verloren: nirgends ist eine Stelle zum Landen. Silke Peters hatte und hat immer das Meer vor Augen. Sie lebt(e) in Greifswald, Rostock und Stralsund, allzeit mit Blick auf die Ostsee, deren Farbnuancen so meergrau, wässrig grünlich oder graubunt vertropft sind wie das Cover ihres Buches. Vor fast einem Jahr genau, Ende April 2016, war Silke Peters’ jüngster Gedichtband Kirkeeffekt, erschienen im freiraum Verlag, bei mir gelandet.

Für mich war Silke Peters’ Gedichtband (darf man das so sagen?) eines der Ereignisse im vergangenen Jahr. Es ist der zweite Band einer geplanten Trilogie. Das Buch darf nicht im Meer untergehen. Ich las Silke Peters’ Gedichtband vergangenes Jahr Anfang Mai in Griechenland, was ja irgendwie passte, mit Blick auf die Bucht von Charaki auf Rhodos, und war schlichtweg begeistert von dem Buch. Das kommt auch daher, dass ich vom Erstling der Reihe Ich verstehe nichts vom Monsun ähnlich angetan war – und genauso eingetaucht bin, um bei Meeresvokabeln zu bleiben.

Ich bin vom Rauschen beunruhigt und messe mich ein
in den Hoch- und Rechtswert des Morgens. Es gibt
Kartoffelrosen und Jägerzaun. Ich stecke die Bilder ein,
in alle Taschen, die ich jetzt noch habe, sie sind ja ganz
geruchlos zu transportieren, die Bilder vom Strand.


Kirkeeffekt nennt sich Luftiges Lehrgedicht, es lässt sich jedoch von Anfang an gar nicht sagen, ob es Gedichte sind. Es erscheint mir eher als lyrische Prosa, die in Abschnitte unterteilt ist. Ist es ein zusammenhängender experimenteller Text? Sind es Aphorismen? Apophthegmata? Vignetten? Epigramme? Alle diese Lesarten sind möglich. Ich möchte die einzelnen Lektüreabschnitte in dieser Besprechung einheitlich als Sentenzen bezeichnen, da sie meist dem grammatikalischen Muster eines oder mehrerer Sätze folgen, auch wenn mir bewusst ist, dass damit die Qualität der einzelnen Textabschnitte nicht komplett umrissen ist. Ich übernehme die Zeilenumbrüche, wie sie im Buch gehandhabt werden. Ich verstehe nichts vom Monsun nannte sich explizit Erzählung. Silke Peters’ letzte beiden Bücher werfen zugleich die alte Frage mit auf, welche Rolle die Form spielt oder die Kategorisierung von Texten, was damit ausgesagt wird. Es ist im Endeffekt nicht wichtig, weil das Buch einen eigenen Weg gehen will und zudem der Text an sich fesselt.

Der Text gerät zu Treibsand, alles ändert alle Zeilen
jeden Tag.


Man kann die einzelnen Textabschnitte wie Solitäre lesen. Es gibt dennoch einen losen roten Faden, ja sogar einen Plot, wo sich Motive immer wieder finden, man kann darin sogar eine Liebesgeschichte sehen, die sich letztlich nicht erfüllt. Es besteht durchweg eine Parallelität der „Ereignisse“; Fäden werden wieder aufgenommen, Stränge kreuzen sich und werden wieder lose. Dennoch verfangen gewisse Themen immer wieder.

Die Form, vermute ich, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie die Autorin ihre Texte notiert. Das Buch wirkt tagebuchartig. Es ist natürlich allenfalls ein literarisches Tagebuch, in dem auch Erlebnisse eines literarischen Ichs niedergeschrieben sind. Der Text ist lakonisch unterschrieben mit der kurzen Zeitangabe Mai 2012–Juni 2014.

Die Mirabilisblüten duften nachts.


Spannend ist die „Mischung“ im Kopf, die sich bei der Lektüre aus der Rezeption der Textcollage und ihrer puzzleartig verteilten Gegenstände nach einer Weile einstellt.

Ich beobachte das Wasser, wie zusammenheilt, was
ich denkend teile.

Das Buch ist dabei angenehm unaufdringlich, und doch prägt sich manche Sentenz daraus ein wie ein Donnerschlag. Mir drängen sich beim Lesen Beschreibungen auf wie: pure Poesie, nah am Axiom.

Wenn die Ostsee lebt, regnet es Glasquallen für dich.


Anfangs hatte ich den Eindruck, der Band sei unter Verwendung einer gewissen Sprech„maske“ geschrieben, die das literarische Subjekt die Welt durch den Kirkefilter sehen lässt.

Ich schwanke im Jet stream = Die Düse, durch die der
Text geht, ist ein kontrolliertes Experiment mit einer
Niederlage im Riedgras.


Die Sprache wirkt an ihrer Oberfläche eher schlicht und zurückgenommen, wenngleich immer wieder ein Wort aus einer naturwissenschaftlichen Fachsprache herausblitzt. Darüber hinaus ist ein Sich-Reiben an technizistischen Termini und ihrer Kakophonie kaum zu übersehen. Daraus lese ich eine immanente Kritik an der Technikgläubigkeit und am (westlich dominierten) modernistischen Techniküberhang.

Eurofighter landen in Laage, sie starten auf einem
Flugfeld. Der Tim Bird wurde von einer Wolke
verschluckt.


Der Sprechakt ist in manchen Teilen öffentlich-anklagend, schlägt teils auch um in provokative Ironie und wird da historisch brisant, wo es um Raketen, Staustrahltriebwerke u. ä. geht. Neben Peenemünde auf Usedom (unweit der Heimat der Autorin) musste ich dabei mehrfach an die unterirdische Raketenproduktionsstätte Dora Mittelbau im Thüringer Salzstollen denken, wo zigtausende KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter ihr Leben ließen. Eine Parallele zu Dokumen-tationen, wie sie derzeit auf TV-Sendern wie N24 laufen, ist kaum zu übersehen, wo die zweifelhaften „Errungenschaften“ der Nazikonstrukteure in x Folgen als „bahnbrechend“ glorifiziert werden, weil sie ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus waren. Besagte TV-Sendungen sind eine Hymne auf Wernher von Braun, der doch alles nur in den Dienst der späteren Mondlandung stellen wollte …


Ich heirate eine Rakete.


Immer wieder tauchen Begriffe auf, die gewissermaßen Naziterminologie konterkarieren, auch die Suche in der Forschung nach schwerem Wasser zur Nutzung der Kräfte der Atomenergie zur Massenvernichtung.

Wie Wasserfarn in einem Fluss ich bin, schwerelos in einem
salzigen Wasser.


Wo es einerseits den Technik„sprech“ gibt, tauchen auf der anderen Seite stille Bilder mit floralem Vokabular auf, eine Art Gegenentwurf. Auf Silke Peters Website sind diese beiden Pole gut nebeneinander dargestellt.

Da gibt es eine fluide Mechanik der Scherkräfte und
einen wilden Fisch am Himmel, nein auf den Tafeln.


Silke und ich hatten schon vor ein paar Jahren über ihren Band gesprochen, den sie damals vorbereitete, und wenn ich mich recht erinnere, war der Arbeitstitel (diese Indiskretion sei mir gestattet ...) anfangs Kirkenavigation, was ich ebenfalls faszinierend fand – vor allem in Bezug auf den Haupthelden der Odyssee. Wo man sich die Navigation bei einem zeitgenössisch Verirrten noch halbwegs vorstellen kann, wie er auf seinem fabrikneuen Navi herumwischt und sich ärgert, dass er in den unendlichen Weiten der mediterranen See (ein Raum, der heute zudem große Tragik auf sich geladen hat) ohne Netz völlig lost ist, war die Sache für Ulysses aka Odysseus dramatischer und Grund für viele Bücher. Für mich klingt Kirkeeffekt als Titelgebung nicht nur „effektiver“, sondern auch spannender weil geheimnisvoller.

Die Stadt ist klein und gerade recht, wenn ich jetzt die
Kreise der Effektivität nachrechne.


Ein „Effekt“ ist immer etwas, das eine Wirkung hat. Ich deute den Buchtitel zunächst als Anspielung auf naturwissenschaftliche oder soziopolitische Effekte, so gesehen ist Kirkeeffekt eine Konterkarierung eingeführter Effekte, deren bekannteste wahrscheinlich der Doppler-Effekt, der Moiré-Effekt oder der Faraday-Effekt sind. Es gibt in allerhand Bereichen derartige Effekte, und so ist es eine Überlegung wert, worin denn der Kirkeeffekt zu sehen wäre, auf die Gesellschaft, auf das Verhalten, auf die Geschlechterrollen bezogen.

Zunächst ist Kirke für mich keine Figur, die mir angenehm wäre. Das kann an meiner Sicht liegen, ich bin ein „weißer Mann an der Spitze der Nahrungskette“. Kirke ist, ähnlich wie Kalypso, das lernte ich schon als Teenager, „von Übel“, bei Homer eine théa¹, die ihre Verführungskünste walten lässt und Männer behext: eine recht dubiose Gestalt, die ihre Wirkung als Sagengestalt längst gezeitigt hat?

Heute mag sich der Blick auf Odysseus dahingehend relativiert haben, als man in ihm auch jemand sehen kann, der sich 20 Jahre lang ausgetobt hat, um sein posttraumatisches Belastungssyndrom seitens des Krieges dadurch zu überwinden, dass er 20 Jahre lang mit seinen Kumpels um Häuser und Inseln gezogen ist und dabei mordend, brandschatzend und seitenspringend sich exzessiv ausgelebt hat, fast nebenbei etliche Heldentaten vollbracht hat, weil er, König von Ithaka, unangefochten der Listenreichste unter der Sonne war. Was aber ist mit all den anderen, zumal mit den Frauenfiguren der Ilias und vor allem der Odyssee? Nausikaa, Kirke, Kalypso, Skylla
², mal ganz abgesehen von den griechischen Göttinnen, die im Machismo-Konzert des Olymp auch nur, wenn überhaupt, jeweils die zweite Geige spielen. Die sterbliche und alleinerziehende Penelope hockte demzufolge daheim in ihrem „Kammerl“, strickte bei Tag und trennte bei Nacht wieder auf. Die vertrösteten Freier wurden nervös. Aber Penelope wartete selbstverständlich treu bis ultimo auf ihren Schwerenöter mit Abenteurerflair³.

Was ist dieser Kirkeeffekt? Diese Frage hat mich tiefer und tiefer in das Buch hineingezogen. Zum generellen Verständnis erlaube ich mir eine kleine Abschweifung zu den Frauenfiguren bei Homer. Als Teenager ging es mir nicht ein, warum Ulixes nicht bei Kalypso blieb. Ewige Jugend, ewige Liebe hatte sie ihm versprochen, dafür lässt er sie glatt stehen und fährt stattdessen heim zu Penelope. Ist das für einen Helden
dieser Güteklasse nicht irgendwie – dumm? Zumal er sich von ihr ja unsterblich hätte machen lassen können und trotzdem heimfahren hätte können? Das Kapitel „Kalypso“ stand auf dem Lehrplan des humanistischen Gymnasiums mit ganz klarem Lernziel: Sich bewusst für Sterblichkeit und das „richtige“ Leben entscheiden, sprich seiner Familie treu zu sein. Zumal es gerade mit der Treue bei den hellenischen Göttern nicht allzu weit her war. Aber – ob er sich von der Meernymphe Kalypso – nach siebenjähriger Verzauberung durch Vergessen – überhaupt aus eigener Kraft hätte lösen können? Immerhin gab ihn Kalypso nur auf den dringlichen Ratschluss der Götter wieder her.

Wir hätten da gern eine anthropologische Zurichtung
für das ganze Zeug. Da kann ja noch geforscht werden.


Kirke ist da wesentlich sichtbarer „von Übel“, zumindest, was die damaligen Zuschreibungen angeht. Sie blieb mir immer suspekt, blieb seltsam düstere Figur. Kirke bot ihm, dem Sohn des Laertes, Einhalt und Unterschlupf, aber verwandelte seine Gefährten, Eurylochos & Co., in Schweine, umgarnte und verzauberte schlussendlich auch den „Haupthelden“ der Odyssee.

Die Fingerspitzen werden taub, sie fühlen die Wärme
des Teelichtes nicht mehr.


Auch Kirke verwendet Kräuter, um ihre zumeist männlichen Gäste zu verzaubern. Wie es scheint, ist auch sie eine der Wegbereiterinnen der späteren Stigmatisierung mancher Frauen als Hexen. Deshalb könnte man beispielsweise die Frage aufwerfen, wie viel Kirkeeffekt in der Inquisition steckt?

Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen Bedürfnissen: er will eigentlich nur zweierlei, sein Brot und seine Kunst – panem et Circen... Nietzsches berühmtes Sprachspiel in der Verquickung von „Circe“ und „circenses“, Brot und Spiele, nur eben als Behexung, deutet schon unsere kulturelle Prägung an – wie tief Circe in der westlichen Psyche sitzt.

Frauen müssen heute noch fürchten, von ihrem Partner für eine Circe gehalten zu werden, die sie verhext und wenigstens symbolisch in Schweine verwandelt hat. Wie viele Männer lassen sich bis heute (un)gern bezirzen? Der Kreis derart Bezirzter lässt sich heutzutage im Sinne von LBGT noch weiter öffnen. Und Kirke sitzt dergestalt ganz tief in der westlich europäischen Psyche; tiefer als Kalypso, Penelope oder Nausikaa. Medea ist Kirkes Nichte. Da es ein männliches Pendant in dieser Form nicht gibt, zumindest keinen mit diesen zweifelhaften, um nicht zu sagen abgrundtief bösartigen Absichten, scheint der Kirkeeffekt etwas per se Weibliches zu sein. Man muss lange nachdenken, bis man in der antiken Mythologie oder überhaupt in der Mythologie ein männliches Wesen findet, was ähnlich „vertrackte“ Skills hat wie Kirke. Männermordend, -verhexend, mit dem Teufel im Bunde, sprich mit allem Bösen dieser Welt. Merlin ist der erklärte Sohn des Teufels, doch er wählte den Weg des Guten. Luzifer ist der gefallene Engel, Polyphem eine „arme Sau“
. Allerdings wäre es heute müßig, die antiken Griechen ihres Machismo, ihres Patriarchats, zu zeihen.


Als wir uns über die Feldkarten beugten, dort in der
Gondel, steuerten wir für eine Weile nicht mehr.


Der Ballon ist wiederkehrendes Motiv bei Peters. Immerhin scheint es so zu sein, dass das lyrische Ich die Gabe von Medikamenten wiedergibt, also ein „Ballongefühl“ als Zustand.

Alfred Wegener hatte seine Mütze vergessen, da oben im


Ballon.


Im Gesamttext kommen einige Welten zusammen, die Ballonwelt, die Pflanzenwelt, die Partnerschaftswelt, die Selbstreflexionswelt, die Technikwelt – und sie durchkreuzen und befruchten sich. Insgesamt überwiegt der collagierte Charakter der Sentenzen.


Nachts habe ich die Luftkrankheit. Ich esse eine Wolke.
Das Flugzeug soll keine Kugel mehr sein, sondern
gerichtete Dreiecksfläche. Was werden wir spüren. Die
Stadt wird zu einem schwarzen Loch. Wir züchten Reis
auf der Wolke und wohnen in Ballons.


Kurioserweise hat man ab einer gewissen Lektüre das Gefühl, sich auszukennen; sie wirkt mitunter sogar vertraut, aufgrund refrainartiger Motive, wenn z. B. das Pflanzen- oder Liebesmotiv nach einer Weile wieder aufgegriffen wird. Dadurch wird der Band bisweilen angenehm zugänglich, auch wenn er in anderen Teilen knifflig und sperrig wirkt, was ich aber gerade das Reizvolle daran finde.

Wer ist mit wem verschwistert = die Liebe, die Wahrheit
und die Schönheit.


Immer ist Liebe im Spiel. Ich bin ganz ungleichmäßig, ja schief bin ich in dir / enthalten. Gelegentlich „passiert“ ein Enjambement, wobei ich vermute, dass die Zeilenbrüche, vor allem, wenn sie die Möglichkeit, die das Blatt bietet, nicht ausreizen, genau so gewollt sind.

Wir grüßen uns heute nicht ganz vollständig. Für eine
Stunde fühlte ich mich ganz mit deiner Inszenierung
verschmolzen. Dann musste ich in die Dämmerung blinzeln.


Die Darstellung kratzt immer wieder an zwischenmenschlichen Tabus und deckt manche Dynamiken auf, die einem evtl. gar nicht bewusst sind.

Ich musste noch einmal vorbehaltlos die Wahrheit sagen
= Ich liebe dich.


Auffallend oft verwendet die Autorin in ihren Sentenzen das = Zeichen, das 2014 als Symbol der Ehe für alle auftauchte.

Eine Zeile lang war Tönung in den Worten.


Auch das Schreiben als solches wird wiederkehrendes Motiv. Hier scheinen sich das authentische Ich der Autorin und das literarische Ich zu begegnen.

Wo ist der Rest, die Kladde von damals, als ich vergaß
mitzuschreiben oder rechtzeitig heimzugehen.


Ab und zu mischen sich in einer Sentenz mehrere Themen, wodurch diese zu einem ganz besonders angereicherten Konglomerat wird.

Ein Stück Herzmuskel hatte sich transsubstantiert.
Eine Reise ergibt ein neues Gedicht. Wir sind
eingesperrt in unserer Enge. Ich atme zu laut. Mein
somatisches Gedächtnis sagt = Kassandra,
Manganknollen und Hirsche.


So tauchen aus der griechischen Mythologie weitere Zusammenhänge auf.

Der Mohn, der Mohn zieht nach der Blüte ein =
Schneckenfraß und schwache Träume, wie ein zu bunter
Cocktail aus narrativen Elementen. Wann wird uns
übel. Ich gewinne meinen Mut aus den verblühten
Syringen.


In den Sentenzen toben sich physikalische Kräfte aus, werden auf das Psychische umgebogen und entfachen somit eine ganz eigene Poesie: dort, wo Dinge zusammenkommen, die in der Alltagswelt nicht zusammengehören. Da wird es, wie überall in der Kunst, zur Komposition und es entsteht ein neuer, unbetretener Raum.

Anziehungskräfte ausloten, Einsamkeit liebkosen, die in einem Satz liegt. Sammeln und auskosten, was nicht verloren sein will, sich mit der Zerstückelung der Zeit anfreunden. Ein Gedicht. (Klappentext)


Anderes folgt einer inneren Landkarte.

Ich verrate euch nicht die geheimen Standorte der Boswellia. (..)


Dennoch lese ich vieles daran mimetisch, als ein zusammengesetztes, komponiertes und wohlcollagiertes Konzert an Ideen, Bonmots, Aphorismen, Malaisen, skurrilen Gedankensplittern und aber auch sehr poetischen Findungen, um nicht zu sagen Miniaturen, da ich das Wort als zweischneidig empfinde. Die Texte sind weder klein noch niedlich, sondern zeigen auch und überall die Zähne, sind politisch machtvoll und hochrelevant, kreisen, wenn man so will, um die Gebrauchsspuren am Allerheiligsten. Oder auch um die Missbrauchsspuren daran.

Der ganze moderne Alltag, wie wir ihn ständig erleben, mehr noch, unsere „übliche“ Anschauungsweise, wie wir momentan die Dinge sehen, wird einem vor Augen und gelegentlich ad absurdum geführt: als guter böser Spiegel, als panoptisches Mosaik, in heiteren bunten Steinen schillernd, in verzerrten Fehlfarben aneckend, zu einem Fischauge verzerrt. So werden auch Tendenzen der Literatur vorgeführt.


Ein Gedicht, in dem die Überraschung zum Tand, zum
Talmi wird, lässt alles einstürzen.


Wo es einem im Lauf der Lektüre sympathisch wird, vertraut wird, und einem diese Art zu sprechen nahegeht, entzieht es sich gleichzeitig. Und man versteht in summa nicht mehr viel – ein weiterer Kirkeeffekt? Der witzigste „Effekt“ des Buches war, zu sehen, wie überaus fleißig mein Hirn zwischendurch immer wieder neue Zuordnungsmuster entwarf, Varianten der Deutung, und alles ergab dennoch immer wieder ein präzises Bild, wenn auch fragil, im Fluss befindlich, veränderlich.

Kurt Drawert schrieb in einer Rezension des Vorgängerbandes: „Mehr kann Sprache nicht leisten.“ Und dennoch könnte ich nichts konkretisieren, nicht auf den Punkt bringen, worum „es geht“ – das genau macht den Reiz aus.

Dieses Buch wird geschrieben worden sein.
Alle schreiben.



¹
Göttin.
²
Im Band erwähnt.

³ Gerade dahingehend sind alle Neuverfilmungen, zumal in ihrer HD-Pompösität, eigentlich schwer zu ertragen.
Zumal als die Koryphäe der List.
Die Polyphemepisode ist übrigens eine Sage, die, wie anhand von Höhlenmalereien etc. sichtbar wird, schon in der Jungsteinzeit erzählt wurde.
Alfred Lothar Wegener (* 1. November 1880 in Berlin; † November 1930 in Grönland) war ein deutscher Meteorologe sowie Polar- und Geowissenschaftler. (Quelle: Wikipedia)



Silke Peters: Kirkeeffekt. Luftiges Lehrgedicht. Greifswald (freiraum-verlag) 2016. 134 S. 14,95 Euro.

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