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Sabina Lorenz

Portraits



Ein Labyrinth aus Geschichten - Sabina Lorenz


Sabina Lorenz, 1967 in München geboren und dort lebend, studierte Sozialpädagogik in München und London. Nach zwei Veröffentlichungen von Gedichtbänden bei der Lyrikedition 2000 ("Die Fremde ist ein Ort", 2007; "Echos für eine Nacht", 2010), erschien 2011 von ihr im P. Kirchheim Verlag der Roman "Aufhellungen", dem ein Satz von Viktor Pelewin als Motto voransteht: "Ich baue ein Labyrinth, worin ich mich verlieren kann, zusammen mit dem, der nach mir sucht."
Da sie zurzeit für eine neue Lyrikpublikation Gedichte schreibt, führten die
Signaturen am 11. Oktober 2013 mit ihr folgendes Gespräch über ihre Arbeitsweise:


KK: Was beschäftigt dich gerade? Hast du deinen neuen Lyrikband schon fertig geschrieben? Oder korrigierst du noch?
SL: Er ist in Arbeit, ich schreibe noch.
KK: Siehst du denn Unterschiede, davor war ja der Roman „Aufhellungen“. Magst du da kurz was zu sagen, zu den „Aufhellungen“, was dich dazu bewegt hat, den zu schreiben bzw. wo da die Unterschiede liegen? War das mehr eine inhaltliche Sache, dass du den geschrieben hast, oder wolltest du die Form ausprobieren?
SL: Die Unterschiede von einem Roman zur Lyrik?
KK: Ja, für einen Lyriker. Du bist hier offensichtlich vom Inhalt hergekommen, nicht?
SL: Ich bin über den Inhalt gekommen. Der wollte erzählt werden und hatte nicht in ein Gedicht gepasst. Und ich würde  sagen, ein Gedicht ist eine Ouvertüre,  der Roman die Oper.
KK: Du hast ja viele Dialoge da auch drin.
SL: Genau.
KK: Und es ist halt ein richtiger Roman. Warum hast du das gemacht, ich meine, das ist ein neues Feld eigentlich, nicht?
SL: Warum hab ich das gemacht? Weil es das Buch noch nicht gab und ich es gerne lesen wollte.  Das Erlebnis, einen Roman zu schreiben, ist tatsächlich ein anderes. Dieser Roman hat mich über Jahre begleitet, die ProtagonistInnen haben sich entwickelt und nach und nach angefangen, selbst ihre Geschichte zu erzählen.

Sabina Lorenz: Aufhellungen. Roman. München (P. Kirchheim Verlag) 2011. 310 S., 22,00 Euro.

Zur Verlagsseite mit Inhaltsangabe
und zehnseiten-Lesung auf ZEIT Online

KK: Beim Gedicht passiert das ja weniger, dass sich das Ich aufspaltet in verschiedene Rollen …?
SL: Das kann auch beim Gedicht passieren. Vor kurzem schrieb mir eine Autorin, das Zitat eines Zen-Meisters, die Sprache trenne uns von dem, was wir beschreiben wollen. Im Augenblick des Niederschreibens geht viel verloren. Das kann dadurch wieder aufgehoben werden, dass man das Gedicht sich selbst entwickeln lässt, auch wenn es sich anderswohin entwickelt, als man es haben wollte. Das bedeutet letztlich, dass ich dem Gedicht zuhören muss.
KK: Da gibt’s ja bei Novalis diese berühmte Stelle des „Monologs“, dass die Sprache sich selber spricht und zur schönsten Poesie finden kann, aber wenn man darüber nachdenkt, …
SL: Genau.
KK: … wird’s Quatsch. Oder nicht mehr poetisch.
SL: Wenn man einem poetischen Text den Willen aufzwingt, wird er krampfig.
KK: Aber beim Gedicht mehrere Stimmen, da wird es dann schwierig, nicht? Da müsstest du schon ein Langgedicht schreiben.
SL: Auch in einem Gedicht können mehrere Stimmen sprechen.

KK: Ja, da sind wir jetzt eigentlich bei dem ersten Punkt: Selbstfindung. Hast du das Gefühl, dass dich Gedichte weiterbringen bei der Selbstfindung oder brauchtest du diesen Roman? Das heißt, Sprache, wie du schon sagtest, spricht sich zwar selber, aber man kann sich darin auch total verlieren. Weil Strömungen in dich eindringen von außen, die sich selber sprechen, und du dann nur noch so eine Art Medium bist, das meint der Monolog von Novalis, glaub ich, dass man da tief in sich eindringen muss, weil wir ja in einer Art Labyrinth sind …
SL: Ob es Selbstfindung ist, ein Gedicht zu schreiben? Oder einen Roman? Das ist es nicht. Während des Schreibens ist ein Gedicht natürlich auch ein Teil des Selbst, aber dann ist es auch wieder vorbei.
KK: Aber das Entstehen (Benn sprach von „Flimmerhärchen“) ist zum Teil unsprachlich, also zunächst mal mehr so eine Mischung aus Zeit, Raum und Rhythmus – hier diese Stelle von dir … "In jener ersten Nacht im Haus an der Salzach spielte Toni in seinem Zimmer Geige. Mal den Anfang einer Ouvertüre, dann begann er eine Arie, aber schließlich war es still und ich hörte dem Regen zu, dock, dock, wie er ans Fenster trommelte, und hörte dem Wecker zu, tick, tick, wie die Zeit verging ...
¹ - nicht? Aus so einem Rhythmus kann ja eine Sprache entstehen, eigentlich. In dir.
SL: Wir leben im Rhythmus und wir existieren darin. Das erste, was wir mitbekommen, ist Rhythmus, der Herzschlag der Mutter, der eigene Herzschlag. Es gibt kein Dasein ohne Rhythmus. Auch unsere Emotionen sind rhythmisch verhaftet. Je nach Emotion verändert sich unser Herzschlag, die Atmung. Dies sprachlich umzusetzen ist eine Möglichkeit, Atmosphäre zu erschaffen.

"Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimnis, - daß wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen."

(Novalis: Monolog 1, 1799/1800)



"Die Lage ist folgende: Der Autor besitzt:
(...)
3. besitzt er einen Ariadnefaden, der ihn aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn - und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand."

(Gottfried Benn: Probleme der Lyrik)

KK: Du hast ja dieses Motto des Labyrinths an den Anfang gestellt. Was ist das für dich, dieses Labyrinth? Ist das eben ein Wahrnehmungs-, ein Bewusstseinslabyrinth, oder ein Gefühlslabyrinth, oder dass die Sprache eben nicht das ausdrückt, was du gerne sagen würdest?
SL: Das Labyrinth ist etwas Archaisches. Wir leben in einem Labyrinth aus Geschichten. Es gibt nie nur eine Geschichte gleichzeitig. Während wir beide hier sitzen und unser Gespräch wie eine Geschichte aufzeichnen, leben in unseren Hinterköpfen andere Geschichten, die das von uns Gesagte aufgreifen, missverstehen, in ihre Geschichten einbauen oder eine andere daraus entwickeln. So wird aus der Tatsache, dass wir beide uns unterhalten, ein Labyrinth aus Geschichten, in dem wir uns begegnen. Wenn wir dort hineingingen, würden wir merken, wie weit verzweigt es ist.

KK: Das Motto des Romans, dass das Labyrinth irgendwie ein Spiel zu zweit ist, zusammen mit der Person, nach der du suchst, oder die nach dir sucht. Also ist da doch eine Art Selbstfindung, denn raus kommst du ja nicht. Hast du die Hoffnung, dass man aus dem Labyrinth zu zweit rauskommen könnte?
SL: Nein. Aber wir sind sprachliche Wesen und können uns nur im Gespräch mit anderen verstehen.
KK: Ja, im Dialog, und den suchst du wahrscheinlich, wenn du schreibst, selbst auch in dir – also, suchst du dir einen Dialogpartner? Stellst du ihn dir vor oder hast du richtig so eine – das wär ja fast Minnelyrik – konkrete Person als Vorstellung?
SL: Manchmal so, manchmal so. Ich schreibe nicht in einem Elfenbeinturm, den gibt es meiner Meinung nach nicht. Ich lebe im Austausch mit anderen Menschen und meiner Umgebung.
KK: Also der Ausgangspunkt ist meistens eine Begegnung?
SL: Das kann alles Mögliche sein.
KK:  Naja, Sylvia Plath, ich hab ihre Tagebuchaufzeichnungen gerade gelesen, hat geschrieben, entweder wenn sie aus einer Depression rauskam oder wenn eine Begegnung da war, also, sagen wir mal, eine Taube tot dalag oder eine Katze deportiert werden musste, also immer wenn ein Mitgefühl da war. Und dann hat sie sich auch mehr oder weniger gezwungenermaßen stundenlang mit Büchern beschäftigt, die sie dazu benutzte, um die Begegnung anzureichern – machst du das auch?
SL:  Es ist  unterschiedlich, wie ich an Texte rangehe. Aber für alle gilt: Inmitten emotionaler Erregung ist bisher noch kein guter Text entstanden. Dazu braucht es Reflexion, die Gelassenheit, den Text dorthin mäandern zu lassen, wohin er will und die Fähigkeit, Metaebenen auszuloten und Strukturen zu schaffen. Das heißt, auch wenn Emotionen die Intention für einen Text waren, braucht es danach noch einiges an Arbeit, um auch eine guten Text daraus zu machen. Natürlich gibt es Themen, die mich beschäftigen, auch welche, an denen ich mich abarbeite.
KK: Ja, jetzt haben wir ja zwei Punkte fürs Labyrinth, den Ariadnefaden, der ist dann praktisch die Suche nach der geeigneten Sprache. Weil du das ja nicht akzeptierst, was du dir so von der Leber weg runter geschrieben hast.
SL: Kurt Drawert schreibt im Nachwort von Martina Webers "erinnerungen an einen rohstoff": "Wenn wir von Romanautoren sagen, sie schreiben doch eigentlich immer dasselbe Buch, so können wir das auf Lyriker vielleicht so übertragen: Sie schreiben immer am selben Gedicht." Vielleicht ist es dieses eine Gedicht, an das wir nie herankommen, für das wir immer neue Wege suchen, um uns dem zu nähern, durch eine neue Sprache und neue Herangehensweisen, die es von einer anderen Seite beleuchten? (lacht)
KK: Ja, es gibt halt einen wunden Punkt in jedem von uns, und da nähert sich ja auch die Empfindungskraft an diesen heran, und – da bohr ich jetzt ein bisschen, du hast diese Korrespondenz in dir, oder suchst sie zumindest, ist das das Publikum, oder ist das eine Person oder Idee? Oder kann das wechseln? Ich gehe einfach von dem Motto nochmal aus, dass man zu zweit …
SL: Das Motto von Viktor Pelewin, das ich "Aufhellungen" vorangestellt habe? „Ich baue ein Labyrinth, worin ich mich verlieren kann, zusammen mit dem, der nach mir sucht.“
KK: Man könnte ja sagen, das kommt so aus dir heraus, und du schreibst das mal runter, und dann sagst du, nein, das ist kein gutes Gedicht, jetzt setzt …
SL: ... der Zensor ein.
KK: Der ist ja zunächst mal dein Verstand oder deine Erfahrung, dein Wissen im Kunstbereich – und das war eben die Frage, die dahinter steckt – da könntest du ja ein Vorbild haben, keinen Dichter oder so, es kann ja irgendwas sein, eine Idee oder ein anderer Mensch, für den du das schreibst?
SL: Über diese Frage hab ich noch nie nachgedacht (lacht). Nein, das mach ich nicht. Ich schreibe nicht für eine Person. Manchmal widme ich einer Person ein Gedicht.
KK: Aber du misstraust ja im Grunde der Sprache.
SL: Ja.
KK: Und das ist ja auch nichts Neues, sondern seit über 100 Jahren misstrauen im Grunde alle Dichter der Umgangssprache und der Syntax oder der Grammatik, weil sie meinen, das würde dieses Labyrinth sein, das man nicht aufbrechen kann.
SL: Wir können nur das nachvollziehen, was wir emotional begreifen.  Deswegen genügt mir Sprache nicht, die zweidimensional, d.h. beschreibend, bleibt, sie muss dreidimensional werden, d.h. einen Raum aufmachen, der erzählen kann, was sie verschweigt.
KK: Ja, das ist natürlich die hohe Kunst des Schreibens, zwischen den Worten …
SL: ... zwischen den Worten Zugang zu bieten durch Bilder und Rhythmus. Sich davon berühren zu lassen, ist dann aber eine Leistung, die der Leser oder die Leserin selber erbringt.
KK: Nun ja, die Musik trägt dich, wenn ich dich richtig verstanden habe – ist das eine dieser Dimensionen des Schreibens, von der du sprichst, die eine Art Begleitmusik ist, in der du schreibst? Erzeugst du sie äußerlich, indem du Platten auflegst … oder ist sie in dir dann?
SL: Ich lese meine Texte laut. Sie sind vorgetragene Sprache. Sowohl die Lyrik, als auch die Prosa.
KK: Rede könnte man fast sagen?
SL: Könnte man sagen.
KK:  Also hast du doch einen Ansprechpartner. Rede geht ja nur, wenn du jemand ansprichst, eigentlich. Oder dich selbst, ich meine, du kannst dich auch selber ansprechen. Ja, und wenn jetzt diese Melodie in dir nicht schwingt, dann schreibst du auch nicht, oder?
SL: Die kommt hoffentlich mit dem Schreiben. Wenn ich nur drauf warten würde, dass die Melodie schwingt, würde ich nicht sehr viel produzieren (lacht).
KK: Und diesen Trugcharakter des Bedeutungssystems dessen, was du dann ausdrückst, wie versuchst du den zu umgehen?
SL: Wenn ich ein Gedicht schreibe, das mehrere Ebenen enthält und über eine Erzählperspektive verfügt, die diese Ebenen tragen kann, dann ist es ein gelungenes Gedicht. Nicht nur Prosa hat Erzählperspektiven, auch Lyrik. Das lyrische Ich ist die Erzählperspektive. Es muss durch das Thema tragen können, gleichzeitig aber auch die anderen Ebenen tragen. Manchmal suche ich länger nach dem lyrischen Ich: Wer ist diese Person, wie spricht und denkt sie? Zu wem spricht sie, in welcher Umgebung hält sie sich auf? So detailliert und komplex muss die Perspektive natürlich nicht bei allen Texten sein. Je vielschichtiger das Gedicht, desto komplexer das lyrische Ich. Etwa bei "Schichten von Schnee", dessen ursprüngliche Intention das Erlebnis war, in meinem neuen Reisepass meinen Fingerabdruck gespeichert zu wissen. Die Tatsache - Speicherung unserer Fingerabdrücke - berührt viele Ebenen, strukturell, gesellschaftlich, politisch, persönlich. Zumindest ein paar davon wollte ich poetisch einfangen, und dazu brauchte ich eine Perspektive, die diese tragen kann.


Schichten von Schnee

1

Wie Kiesel der Himmel: jederzeit umkehrbar diese / Facetten, mausgrau beispielsweise der Baum, der / steif durchs Fenster starrt, irgendwie neutral, und / mittags hasten Leute auf altem Schnee, dunkler / als Weiß, heller als Schwarz, im driftenden Dampf / verschwimmen die Konturen ihrer Gesichter, so / rauchgrau, oder wie würdest du es nennen?

2

Taubengrau, vielleicht: und kratzen nach Futter im Harsch, / heimzuholen in die Höfe voll unerlaubter Nischen, / Federn, feingenadelt, vor Anspannung glatt, atmen sie flach, auch / sie. Glücklicher Schnee, sagst du, kommt immer noch / unerwartet, versetzt die Stadt in Hysterie, begräbt sich / selbst. Dann warten wir im Begrabenen. Dann fällt uns ein, / dass Schnee niemals derselbe ist.

3

Z.B. im dünnen Schnee die Spurrillen: Fingerabdrücke / wie auf dem Silbertablett unserer Reisepässe, / biometrische Samples, die nicht uns gehören, alte Fragen / in der Dringlichkeit von Hieroglyphen, seltsamer Abakus / Vermessung Mensch: Streiktage,   Bandscheibenvorfälle, / meuternd. Ziehen wir Nummern, warten auf abgeschabtem / PVC, aschgrau, oder


4

Halbtöne nur: Wie eine Angst besiegt wird und plötzlich / eine andere aus ihr spricht. Dies ist vom Verschwinden / auf die Mitwirkungspflicht wird ausdrücklich / hingewiesen, übersetze die Sätze mit Subjekt, Objekt: wer? / Eine Differenzierung, nur Diskussionsgrundlage, / umständehalber: Können wir 60 Grautöne unterscheiden, / werden sie beeinflusst durch Farbflächen nebenan.

5

Erinnernd an brüchiges Papier in Aktenschränken: StAM / NSDAP 1557 Betreff: Einsatz brachliegender Arbeitskräfte, / hier: Erfassung von Stillsitzern. Ein Stempel war die Antwort, / aber was war die Frage? H., den 14.8.46: / Form 2: List of all persons of United Nations and other / foreigners. Name, Vorname, Geschl., Heimatort: unbek. / Kopien in Schatten von Druckerschwärze.

6

Ein Graustich: als ob Statisten die Rollen übernehmen, behauptend, / dass irgendein Gott auf ihrer Seite steht in dem Bemühen, / alles zu töten was Angst macht. Der Morgen begrenzt sich / auf einen Ort. Hier taumeln Tauben im U-Bahnschacht. / Ostwindflüchter. Vor anfahrenden Zügen flattern sie auf. / Wir schlafen ein. Wir evakuieren uns schnell, brauchen / keine Scanner, um uns nackt zu sehen.

7

Ohne Sättigung: Weißkittelhunger auf Beugung deines / Geschlechts, zwittrig, kindlich unter Skalpellen, vermessen / fotografiert, bougiert, jahrzehntelanges Kotzen im Dienst / von m □ w □ , und dann wachst du eines Morgens auf / und weißt, dass nicht nur deine Akte verschwunden ist, / sondern du, eingefügt ins Silbertablett des Reisepasses / w □. Das ist die Antwort, aber was war die Frage.

8

In Schichten von Schnee: abstumpfende Streumittel, Laub / und eine beinamputierte Luftratte, beinahe unsichtbar, / das Gefieder ohne Schimmer, kristallisiert unter einem Baum, der /  innen stumm.  Als wär sie wie Kiesel vom Himmel gefallen, als / hätte sie im dünnen Licht ihre Räumlichkeit verloren. Immer noch / Januar. Dir legt sich eine Flocke aufs Gesicht.  Als sie / geschmolzen, siehst du älter aus.







WIE gewohnt die Echos für eine Nacht, wie
flatternde Vögel im Zimmer gefangen,wenn wir
uns Geschichten erzählen, und noch und noch
bin ich gerannt, den Federn hinterher, zu müde
für Schlaf. Den Schlaf erzählen wir uns nicht.
Wir liegen in unterschiedlichen Teilen der Welt
und reiben uns die Ellenbogen rot. Die Stimme
allein macht noch keinen Ort.


(Sabina Lorenz: Echos für eine Nacht, 13)


UND NUN

Wie sich auf der Durchreise Gänse
unter Touristen mischten, ich saß, du sprangst
an den Gleisen entlang, still verwachsen
mit Heckenrosen, Hornkraut im Schienenbett.
Vergessen, dass du keine Steppschuhe trugst
und auf einmal dieser Angstflügel, die Gänse
kehren wieder und ihr Schrei: Eil! Eil! Wann
geht der Zug. Verlorene Federn
vom letzten Jahr. Du hobst sie auf, grinstest
in die Augen der Touristenkameras, breit, und
strichst und strichst diese zerzausten
Dinger. Versuch. Ein Spiel. Du saßt
ich sprang. War ja nichts zu sehen als Licht.

(Sabina Lorenz: Die Fremde ist ein Ort, 10)



BETREFF: RE:

Zu sein was unsere Sprache macht, dies war
mein Zimmer, in dem sie sich aufrollte, da
begannen die Dinge zu reden
: Ein Stummel Liebe aufgelesen, das Licht
im Fenster gegenüber, wo Schemen gehen.
Wie knurrende Wiesel umkreisten wir uns
mit Kaskaden aus dem eigenen Wörterbuch
surrten in Ferngesprächen (Wortosmosen)
zur Bedeutungsklärung unverstandener Begriffe
: 10 oder 20 oder 30 Jahre zurück, den Weg
des eigenen Schattens.
Ich sah ihn sein Bild fressen, da, wo kein
Vergleichen mehr war, Begreifen inbegriffen
die Aufzählungen der Tage. Nie hätte ich
gewusst was ein Bruchstabe ist.

(Sabina Lorenz: Echos für eine Nacht, 24)


WEISS

Gerne vergesse ich viel, z.B.
das Mückengeschwader vergangene
Nacht wir müssen durch die Finsternis
in langzähnigen Nächten entwöhntes
Vergessen, Tagesrauch
an seinem Gerüst erstickt. Schon länger
kommt keine Post bei mir an, und die
U-Bahn-Kontrolleure vergessen, mich
nach meiner Fahrkarte zu fragen.

(Sabina Lorenz: Die Fremde ist ein Ort, 59)



[INTERVIEW MIT HERRN A. ÜBER HELDEN]

Nachts ist die Zeit der Halbgötter, Riesen, dann
werden noch einmal alle Kämpfe gekämpft, Bild
um Bild flimmert im Halbdunkel, ein flatterndes
Telegramm, der Atem, fremdes Tier, greift
von hinten an
                                 schnaubt
Inspiration. Stiebendes Fell, in der Nacht
ist es laut, jault, wenn alle Klingeln versagen, so
hält dein Gegner dich hoch in der Luft. Aber noch
hat er mich nicht erstickt, sagst du, du schaltest
auf ein anderes Programm.
                               (Herkules. Nachts
gibt es andauernde Wiederholungen.) Du
kämpfst, du gewinnst, du lachst, kein Problem
wenn ich nur die Erde berühren könnte, aber
du kämpfst, du verlierst irgendwann, das ist
normal. Gaia bringt
                               immer neue Helden
hervor, und binnen Augenblicken
ist der Spuk vorbei. Der Rest ist Psyche
sagst du, oder berührst du stets die Erde.
Nichts als Verwandlungen. Woraus sonst
entstehen Geschichten.

(Sabina Lorenz: Echos für eine Nacht, 43)

KK: Ja – aber da waren wir ja eben: deine Lyrik, die bisherige, hat für den Leser, also hat oft eine gewisse Verhaltenheit, eine Bescheidenheit, die davon kommt, dass du den Leser nicht in die Richtung zwingst. Du deutest sie eigentlich nur an. Das heißt, der andere hat die Möglichkeit, das zu ignorieren.
SL: Bescheidenheit ist mir noch nicht nachgesagt worden (lacht).
KK: Ich mein damit nicht die Syntax oder das Metrum, sondern die Lautstärke. Es gibt leise Lyriker und sehr laute, ich glaube, das kann man so sagen.
SL: Es kommt  auf das Thema an. Ich habe auch schon laute Gedichte geschrieben.
KK: Zum Beispiel?

SL: „Mehrkomponentenkleber für drei Stimmen und eine Putzfrau“.
KK: Das heißt, eine der Ebenen ist bei dir immer eine sozialpolitische?
SL: Nicht immer. Aber wir leben in einem sozialpolitischen Raum, und der durchdringt unser Leben in allen Facetten. Deshalb wirken sozialpolitische Sichtweisen oft in meine Liebesgedichte mit hinein, ebenso wie umgekehrt in Gedichten mit einem gesellschaftspolitischen Thema eine Liebesgeschichte im Hintergrund mitspielen kann. Und hier sind wir wieder beim Labyrinth.
KK: Viele spielen ja heutzutage, um nochmal auf dieses Bedeutungssystem der Sprache zurückzukommen, um das Labyrinth zu verlassen, stark mit der Semantik, mit dem Sinn. Sie verdrehen den Sinn oft in einem Satz – das sind dann zwar von der Sprachfähigkeit her komplette Sätze, aber sie ergeben keinen Sinn, also sie sind widersinnig, weil sie semantisch scheinbar willkürlich Dinge verknüpfen. Sowas machst du ja nicht?
SL: Nein, das habe ich bisher nicht gemacht (lacht). Ich weiß nicht, warum ich das tun sollte. Ich überlege, wie ich es am besten formulieren kann. Vielleicht mit dem Satz von Watzlawick: Du kannst nicht nicht kommunizieren. Und was ist Poesie anderes als Kommunikation? Deshalb ist es für mich fast eine Notwendigkeit, in und mit meinen Texten "Ich" sagen zu können. Trotz oder gerade wegen aller Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Das macht es für mich interessant. Vielleicht macht man sich dadurch angreifbarer? (geht an den PC) – Da – ein Absatz aus einem neuen Gedicht, der  dazu passen könnte:


Wie „Ich“ sagen? Ist die Rolle der Zeugen doch seriöser
im kollektiven Radius der Geschichten. Die Rolle der Zeugen
ist nicht die Rolle der Opfer. Zeugen wird geglaubt. Wir dienten
mit unseren Stimmen, unsere Körper, Bögen, im gnadenlosen
Lächeln aufgespannt, setzten Worte, die allen zugehörig sind.
Niemand musste Angst vor Gefühlen haben. Niemand musste
Angst vor uns haben. Zeugen sind Statisten des Geschehens.

KK: Das schreibst du gerade, ja?
SL: Das ist ein Absatz aus einem Gedicht, das ich gerade überarbeitet habe.
KK: Wie ist denn das bei deiner Metrik, du schreibst ja freie Verse weitestgehend, und hast aber Melodie und Rhythmus in dir. Und damit schreibst du, und wenn du es dann laut vorliest, merkst du, wo’s noch nicht stimmt?
SL: Wenn ich’s laut vorlese, höre ich, wenn irgendetwas nicht stimmt. Ich schreib etwas, ich lese laut, das ist ein wiederkehrender Vorgang.
KK: Aber du schreibst nicht laut?
SL:  Es ist dabei schon sehr laut in meinem Kopf (lacht). Das fängt mit einem Satz in einem bestimmten Rhythmus an, und dann wird dieser Rhythmus durch das ganze Gedicht hindurch gezogen.
KK: Wie wird dein neuer Band sich denn unterscheiden von den anderen Bänden? Kannst du da was zu sagen?
SL:  Dazu möchte ich noch nichts sagen.


***

¹ "Aufhellungen", 1, 18.

Sabina Lorenz: Die Fremde ist ein Ort. Gedichte. München (Lyrikedition 2000) 2007. 74 S.,  8,50 Euro.
Sabina Lorenz: Echos für eine Nacht. Gedichte. München (Lyrikedition 2000) 2010. 91 S.,  9,50 Euro.
Sabina Lorenz: Aufhellungen. Roman. München (P. Kirchheim Verlag) 2011. 310 S.,  22,00 Euro.


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