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Rolf Jacobsen: Nachtoffen

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Timo Brandt


Eine Art mit der Erde zu sprechen



„Die kleinen Städte der Auvergne,
jede auf ihrem Berg und unter ihrem Himmel,
liegen still und sammeln Zeit.
Sie sammeln Jahre wie die Bienen Honig
und verbergen sie auf ihren Speichern und in kühlen Kellern.“


Dichtung vermag zu illuminieren. Ausgrabungen vorzunehmen, welche in einfachen Landschaften und Gegenständen erstaunliche Dimensionen offenbaren. Oft macht sie in so einen Moment aus einer physischen Peripherie ein Bild für einen Erfahrungshorizont.
    Einer, der diese Kunst der Horizontverschiebung und -erweiterung nahezu perfektioniert hatte, war der Norweger Rolf Jacobsen. Zu Lebzeiten veröffentlichte er fünfzehn Gedichtbände, den ersten im Alter von 26, den letzten im Alter von 78 Jahren. In dem von Klaus Anders übersetzten und nun herausgegeben Band sind Gedichte aus allen Perioden seinen Schaffens versammelt.

„Rost geht von Nagel zu Nagel
und von Eisenplatte zu Eisenplatte im Dunkeln
und untersucht sorgfältig,
ob Zeit darin ist.“


Gerade anfangs, bei den ersten beiden Gedichtbänden, wirken Ton und Gestus noch etwas überspannt. Eine einschlägig-manifestierende, teilweise aber zu heftige Art der Stimmungs-gestaltung herrscht vor, und hier und da wird auf Teufel komm raus versucht, die Sprache zur Verkünderin zu machen, mit ihr die Dinge eifrig zu beziffern. Es gibt schon einige grandiose Stellen, aber noch ist der Zoom zu rasch und zu unbeständig, es wird zu furios vorgegangen und doch zu brav.

Die Farben sind die kleinen Schwestern der Worte. Sie werden niemals Soldaten.
[…]
Sie halten sich ans Haus und hängen in unseren Alltagskammern,
in Küchen und Alkoven, ihre reinen Gardinen auf.


„Das Glück, das nicht kommt, ist Wirklichkeit.“


Das ändert sich in den Bänden nach dem Krieg. Jacobsen war während der deutschen Besatzung (in Ermangelung anderer Möglichkeiten, wie er beteuerte) in die faschistische Partei Norwegens eingetreten und wurde nach dem Krieg zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt. Es findet sich keine Spur Bitterkeit aufgrund dieses Urteils (noch irgendeine andere Form von Vergangenheitsbewältigung) in seinem Werk. Obgleich in seinen Versen hier und da nostalgische Anwandlungen zu finden sind, meist das Ländliche und die unberührtere Natur betreffend – Gedichte waren für Jacobsen wohl nie ein Ort der Rechtfertigung.
    Wohl aber ein Ort der leisen Anklage, der schmalen Inbrunst, der Thematisierung von Verworfenheit. Ein wieder-kehrendes Motiv in seinen Texten ist eine fast schon hauchdünne Fortschrittskritik und eine stets mitschwingende Aufdeckungsintention, ein unterschwelliges Hinweisen mit Klarstellungsfaktor.

„Die vollautomatische Rotationspresse des Erdballs
druckt täglich die Zeitung für alle, die lesen können.
Adressenlos und katalogisiert für die Ewigkeit.
Die Bleiformen der Kontinente liegen fertig gestapelt
als Klischees für die Nacht.“


„Je größer die Städte werden,
desto kleiner die Menschen.
Je höher die Häuser in die Wolken ragen,
desto kleiner werden die, die darin wohnen.“


Man könnte manchmal sogar von einem Reflexionsangebot sprechen. Vor allem in seinem Spätwerk spitzen sich immer wieder Strophen in Fragen zu, werden unaufgeregte Pointen serviert. Ein Urteil oder eine Weisung erteilen die Gedichte selten, meist stupsen sie die Lesenden an oder entfalten vor ihren Augen einige Skizzen des Missstandes.
    So entsteht eine Poesie, die sich mit der Welt in Kontakt befinden will, egal ob es ihr gerade um eine persönliche Erfahrung, eine weitläufigere Beobachtung oder eine simple Feststellung geht. Gestützt wird sie dabei von sehr einfachen Elementen. Wiederkehrende Elementarien bei Jacobsen sind Licht und Schnee und Bäume, sie bilden das Grund-Repertoire, und mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, ganze Welten, ein ganzes Leben aufzufangen. Einzufangen und aufzusagen. Darin: Natur als Sinnbild und als Vorbild.

„Denn das Wort ist wie das Gras.
Es IST einfach da. Schneid es kurz,
mach es platt. Und trampele drauf.
Und trampele.
Es wächst wieder nach“


Viele Freuden bietet dieser Band, viele kleine Erleuchtungen. Besinnlich ist ein gutes Wort, um die Stimmung zu beschreiben, die einem von der Lektüre geöffnet wird. Bedrohliches, Bedenkliches, Nachdenkliches, Metaphysisches, das alles ist auch vorhanden, aber nicht der Kern, sondern Nebenprodukt der Sensibilität, des wachen Geistes. Im Zentrum steht der Moment des Gewahrwerdens, der Versuch einer Fassung des Unfasslichen. Egal ob es um die langsame Erosion durch die Flüsse geht:

„Mit ihrem lautlosen Werkzeug
schleifen sie die Kante von einem Flintstein
und legen sie am Strand ab und beginnen von vorne wie einer
ein stilles Pianostück übt.“


Oder um die Friedlichkeit des Schlafes:

„Könnten wir da miteinander sprechen,
wenn unsere Herzen wie halb geöffnete Blumen sind.
Worte drängten hinein
wie goldene Bienen.
- Herr, lehre mich die Sprache des Schlafs.“


In beidem liegt der Glaube an die abgewandte, hervorzubringende Erkenntnis; eine Idee von Dasein als Geheimnis. Einer seiner erfolgreichsten Gedichtbände heißt auch: „Heimliche Leben“.
    Jacobsen versucht behutsam etwas zusammenzusetzen: eine brüchige, von Spalten gesäumte Wirklichkeit, die eigentlich perfekt zusammenpassen müsste. Doch ist ihm klar, dass dieser heile Zustand nicht erreicht werden kann, man kann nur ein Verzeichnis der Teile und Bruchstellen anlegen und dann und wann zwei Teile aneinanderlegen.  

„Nur du selbst bist nicht,
was du glaubst.“


Was erstaunlich an diesen Gedichten ist: sie scheinen nicht gealtert, nicht aktuell, sie scheinen zeitlos. Nichts in ihnen weist voraus oder zurück, nichts an ihnen scheint auf rein ästhetische Effekte abzuzielen oder auf Innovatives; sie genügen sich in ihren Absichten, ihrer Wiedergabe, ihrer eigensinnig-beschaulichen und doch unerhört lebensnahen Gewichtung.


„Wie der Fontäne glitzernder Staub
aufspringt und in sich zusammenfällt,
entspringen alle meine Tage in mir,
gemessen in einer Schale aus Stein.“


Am Ende steht dann manchmal der Moment, in dem klar wird, dass etwas gewiss ist. Nichts kann sich der Veränderung entziehen, aber in der Veränderung selbst gibt es Kammern, Flächen, die unberührt bleiben. In diesen Kammern hallt so manches Dichter*innen-Wort, manche Zeile und sagt, wie es bei Rilke heißt: „zu der stillen Erde sag: ich rinne./ Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin“.
    Einen seiner letzten Gedichtbände verfasste Jacobsen nach dem Tod seiner Frau. Wahrhaft und doch gemessen wird hier über das Verschwinden eines geliebten Menschen gesprochen. Und eigentlich wird alles dargelegt. Und doch ist da die letzte Frage – sie zieht die Dichter*innen an wie Motten das Licht.

„Blitzschnell, wie wenn ein Schalter gedrückt wird,
sind alle Bildspuren hinter dem Auge verschattet,
abgewischt von der Lebenstafel. Oder etwa nicht?“


Rolf Jacobsen: Nachtoffen: Ausgewählte Gedichte. Hrsg. und übers. von Klaus Anders. Berlin (Edition Rugerup) 2017, 160 Seiten. 19,90 Euro.

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