Robert Musil: Über die Dummheit
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Robert Musil
Über die Dummheit
Vortrag in
Wien, 1937
Meine Damen
und Herren!
Einer, so
sich unterfängt, über die Dummheit zu sprechen, läuft heute Gefahr, auf
mancherlei Weise zu Schaden zu kommen; es kann ihm als Anmaßung ausgelegt
werden, es kann ihm sogar als Störung der zeitgenössischen Entwicklung
ausgelegt werden. Ich selbst habe schon vor etlichen Jahren geschrieben: »Wenn
die Dummheit nicht dem Fortschritt, dem Talent, der Hoffnung oder der
Verbesserung zum Verwechseln ähnlich sähe, würde niemand dumm sein wollen.« Das
ist 1931 gewesen; und niemand wird zu bezweifeln wagen, daß die Welt auch
seither noch Fortschritte und Verbesserungen gesehen hat! So entsteht
allmählich eine gewisse Unaufschieblichkeit der Frage: Was ist eigentlich
Dummheit?
Ich möchte
auch nicht außer acht lassen, daß ich als Dichter die Dummheit noch viel länger
kenne, könnte ich doch sogar sagen, ich sei manches Mal in kollegialem
Verhältnis zu ihr gestanden! Und sobald in der Dichtung ein Mann
die Augen aufschlägt, sieht er sich überdies einem kaum beschreiblichen
Widerstand gegenüber, der alle Formen annehmen zu können scheint: sei es
persönliche, wie etwa die würdige eines Professors der Literaturgeschichte,
der, gewohnt, auf unkontrollierbare Entfernungen zu zielen, in der Gegenwart
unheilstiftend danebenschießt; sei es luftartig allgemeine, wie die der
Umwandlung des kritischen Urteils durch das kaufmännische, seit Gott in seiner
uns schwer begreiflichen Güte die Sprache des Menschen auch den Erzeugern von
Tonfilmen verliehen hat. Ich habe früher schon ein oder das andere Mal mehr
solcher Erscheinungen beschrieben; aber es ist nicht nötig, das zu wiederholen
oder zu vervollständigen (und anscheinend wäre es sogar unmöglich angesichts
eines Hanges zur Größe, den alles heute hat): es genügt, als sicheres Ergebnis
hervorzuheben, daß sich die unkünstlerische Verfassung eines Volkes nicht erst
in schlechten Zeiten und auf rüde Weise äußert, sondern auch schon in guten und
auf jegliche Weise, so daß Bedrückung und Verbot nur dem
Grade nach verschieden sind von Ehrendoktoraten, Akademieberufungen und
Preisverteilungen.
Ich habe
immer vermutet, daß dieser vielgestaltige Widerstand eines sich der Kunstliebe
rühmenden Volkes gegen die Kunst und den feineren Geist nichts als Dummheit
sei, vielleicht eine besondere Art davon, eine besondere Kunst- und vielleicht
auch Gefühlsdummheit, jedenfalls aber so sich äußere, daß, was wir
Schöngeistigkeit nennen, zugleich auch eine Schöndummheit wäre; und ich sehe
auch heute nicht gerade viele Gründe, von dieser Auffassung abzugehen.
Natürlich läßt sich nicht alles auf die Dummheit schieben, wovon ein so
vollmenschliches Anliegen, wie es die Kunst ist, verunstaltet wird; es muß, wie
besonders die Erfahrungen der letzten Jahre gelehrt haben, auch für die
verschiedenen Arten der Charakterlosigkeit Platz bleiben. Aber nicht dürfte
eingewendet werden, daß der Begriff der Dummheit hier nichts
zu suchen habe, weil er sich auf den Verstand beziehe, und nicht auf Gefühle,
die Kunst hingegen von diesen abhänge. Das wäre ein Irrtum. Selbst der
ästhetische Genuß ist Urteil und Gefühl. Und ich bitte Sie um die
Erlaubnis, dieser großen Formel, die ich Kant entlehnt habe, nicht nur die
Erinnerung anfügen zu dürfen, daß Kant von einer ästhetischen Urteilskraft
und einem Geschmacks urteil spricht, sondern auch gleich die Antinomien
wiederholen zu dürfen, zu denen es führt:
Thesis: Das
Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweis entscheiden).
Antithesis:
Es gründet sich auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber nicht einmal
streiten (eine Einstimmung anstreben).
Und nun
möchte ich fragen, ob nicht ein ähnliches Urteil mit ähnlicher Antinomie auch
der Politik zugrunde liege und dem Wirrsal des Lebens schlechthin? Und darf man
nicht, wo Urteil und Vernunft zu Hause sind, auch ihre
Schwestern und Schwesterchen, die verschiedenen Weisen der Dummheit, erwarten?
So viel über deren Wichtigkeit. Erasmus von Rotterdam hat in seinem
entzückenden und heute noch unverbrauchten »Lob der Torheit« geschrieben, daß
ohne gewisse Dummheiten der Mensch nicht einmal auf die Welt käme!
*
Ein Gefühl
von der ebenso schamverletzenden wie gewaltigen Herrschaft der Dummheit über
uns legen denn auch viele Menschen an den Tag, indem sie sich freundlich und
konspiratorisch überrascht zeigen, sobald sie vernehmen, einer, dem sie
Vertrauen schenken, habe vor, dieses Untier beim Namen zu beschwören. Diese
Erfahrung habe ich nicht nur anfangs an mir selbst machen können, sondern habe
bald auch ihre historische Geltung erfahren, als mir auf der Suche nach
Vorgängern in der Bearbeitung der Dummheit – von denen mir
auffallend wenige bekannt geworden sind; aber die Weisen ziehen es anscheinend
vor, über die Weisheit zu schreiben! – von einem gelehrten Freund der Druck
eines im Jahre 1866 gehaltenen Vortrags zugeschickt worden ist, der zum
Verfasser Joh. Ed. Erdmann, den Hegelschüler und Hallenser Professor, gehabt
hat. Dieser Vortrag, der »Über Dummheit« heißt, beginnt denn gleich damit, daß
man schon seine Ankündigung lachend begrüßt habe; und seit ich weiß, daß das
sogar einem Hegelianer widerfahren kann, bin ich überzeugt, daß es mit solchem
Verhalten der Menschen zu denen, die über Dummheit sprechen wollen, eine
besondere Bewandtnis hat, und befinde mich sehr unsicher in der Überzeugung,
eine gewaltige und tief zwiespältige psychologische Macht herausgefordert zu
haben.
Ich will
darum auch lieber gleich meine Schwäche bekennen, in der ich mich ihr gegenüber
befinde: ich weiß nicht, was sie ist. Ich habe keine Theorie der Dummheit
entdeckt, mit deren Hilfe ich mich unterfangen könnte, die
Welt zu erlösen; ja, ich habe nicht einmal innerhalb der Schranken
wissenschaftlicher Zurückhaltung eine Untersuchung vorgefunden, die sie zu
ihrem Gegenstande gemacht hätte, oder auch nur eine Übereinstimmung, die sich
wohl oder übel bei der Behandlung verwandter Dinge in Ansehung ihres Begriffs
ergeben hätte. Das mag an meiner Unkenntnis liegen, aber wahrscheinlicher ist
es, daß die Frage: Was ist Dummheit? so wenig den heutigen Denkgepflogenheiten
entspricht wie die Fragen, was Güte, Schönheit oder Elektrizität seien. Trotzdem
zieht der Wunsch, sich diesen Begriff zu bilden und eine solche Vorfrage alles
Lebens so nüchtern wie möglich zu beantworten, nicht wenig an; darum bin denn
auch ich eines Tags der Frage anheimgefallen, was Dummheit wohl »wirklich« sei,
und nicht, wie sie paradiere, was zu beschreiben weit eher meine Berufspflicht
und -geschicklichkeit gewesen wäre. Und da ich mir weder auf dichterische Weise
helfen wollte, noch es auf wissenschaftliche tun konnte,
habe ich es auf das naivste versucht, wie es in solchen Fällen allemal
naheliegt, indem ich einfach dem Gebrauch des Wortes dumm und seiner Familie
nachging, die üblichsten Beispiele aufsuchte, und was ich gerade aufschrieb,
aneinander zu bringen trachtete. Ein solches Verfahren hat leider immer etwas
von einer Kohlweißlingsjagd an sich: Was man zu beobachten glaubt, verfolgt man
zwar eine Weile, ohne es zu verlieren, aber da aus anderen Richtungen auf ganz
gleichen Zickzackwegen auch andere, ganz ähnliche Schmetterlinge herankommen,
weiß man bald nicht mehr, ob man noch hinter dem gleichen her sei. So werden
also auch die Beispiele aus der Familie Dummheit nicht immer unterscheiden
lassen, ob sie noch wirklich urständlich zusammenhängen oder bloß äußerlich und
unversehens die Betrachtung vom einen zum andren führen, und es wird nicht ganz
einfach sein, sie unter einen Hut zu bringen, von dem sich sagen läßt, er
gehöre wirklich zu einem Dummkopf.
*
Wie man
beginnt, ist unter solchen Umständen aber nahezu einerlei, lassen Sie uns also
irgendwie beginnen: Am besten wohl gleich bei der Anfangsschwierigkeit, daß
jeder, der über Dummheit sprechen oder solchem Gespräch mit Nutzen beiwohnen
will, von sich voraussetzen muß, daß er nicht dumm sei; und also zur Schau
trägt, daß er sich für klug halte, obwohl es allgemein für ein Zeichen von
Dummheit gilt, das zu tun! Geht man nun auf diese Frage ein, warum es als dumm
gelte, zur Schau zu tragen, daß man klug sei, so drängt sich zunächst eine
Antwort auf, die den Staub von Urväterhausrat an sich zu haben scheint, denn sie
meint, es sei vorsichtiger, sich nicht als klug zu zeigen. Es ist
wahrscheinlich, daß diese tief mißtrauische, heute aufs erste gar nicht mehr
verständliche Vorsicht noch aus Verhältnissen stammt, wo es für den Schwächeren
wirklich klüger war, nicht für klug zu gelten: seine Klugheit konnte dem Starken ans Leben gehen! Dummheit hingegen lullt das Mißtrauen
ein; sie »entwaffnet«, wie noch heutigentags gesagt wird. Spuren solcher alten
Pfiffigkeit und Dummlistigkeit finden sich denn auch wirklich noch in Abhängigkeitsverhältnissen,
wo die Kräfte so ungleich verteilt sind, daß der Schwächere sein Heil darin
sucht, sich dümmer zu stellen als er ist; sie zeigen sich zum Beispiel als
sogenannte Bauernschlauheit, dann im Verkehr von Dienstboten mit der bildungszüngigen
Herrschaft, im Verhältnis des Soldaten zum Vorgesetzten, des Schülers zum
Lehrer und des Kindes zu den Eltern. Es reizt den, der die Macht hat, weniger,
wenn der Schwache nicht kann, als wenn er nicht will. Dummheit bringt ihn sogar
»in Verzweiflung«, also unverkennbar in einen Schwächezustand!
Damit stimmt
aufs trefflichste überein, daß ihn die Klugheit leicht »in Harnisch« bringt!
Wohl wird sie am Unterwürfigen geschätzt, aber nur so lange, als sie mit
bedingungsloser Ergebenheit verbunden ist. In dem Augenblick, wo
ihr dieses Leumundszeugnis fehlt und es unsicher wird, ob sie dem Vorteil des
Herrschenden dient, wird sie seltener klug genannt als unbescheiden, frech oder
tückisch; und es entsteht oft ein Verhältnis, als ginge sie dem Herrschenden
mindestens wider die Ehre und Autorität, auch wenn sie ihn nicht wirklich an
seiner Sicherheit bedroht. In der Erziehung drückt sich das darin aus, daß ein
aufsässiger begabter Schüler mit größerer Heftigkeit behandelt wird als ein aus
Dumpfheit widerstrebender. In der Moral hat es zu der Vorstellung geführt, daß
ein Wille um so böser sein müsse, je besser das Wissen sei, wider das er
handle. Sogar die Justiz ist von diesem persönlichen Vorurteil nicht ganz
unberührt geblieben und beurteilt die kluge Ausführung eines Verbrechens meist
mit besonderer Ungunst als »raffiniert« und »gefühlsroh«. Und aus der Politik
mag sich jeder die Beispiele holen, wo er sie findet.
Aber auch
die Dummheit – so wird hier wohl eingewandt werden müssen – vermag zu reizen und besänftigt durchaus nicht unter allen Umständen.
Um es kurz zu machen, sie erregt gewöhnlich Ungeduld, sie erregt in
ungewöhnlichen Fällen aber auch Grausamkeit; und die Abscheu einflößenden
Ausschreitungen dieser krankhaften Grausamkeit, die landläufig als Sadismus
bezeichnet werden, zeigen oft genug dumme Menschen in der Rolle des Opfers.
Offenbar rührt dies davon her, daß sie den grausamen leichter als andere zur
Beute fallen; aber es scheint auch damit zusammenzuhängen, daß ihre nach allen
Seiten fühlbare Widerstandslosigkeit die Einbildung wild macht wie der
Blutgeruch die Jagdlust und sie in eine Öde verlockt, wo die Grausamkeit
beinahe bloß darum »zu weit« geht, weil sie an nichts mehr eine Grenze findet.
Das ist ein Zug von Leiden am Leidenbringer selbst, eine Schwäche, die in seine
Roheit eingebettet ist; und obwohl die bevorrechtete Empörung des beleidigten
Mitgefühls es selten bemerken läßt, so gehören doch auch zur Grausamkeit, wie
zur Liebe, zwei, die zueinander passen! Das zu erörtern,
wäre nun freilich wichtig genug in einer Menschheit, die von ihrer »feigen
Grausamkeit gegen Schwächere« (und so lautet doch wohl auch die gebräuchlichste
Begriffsumschreibung des Sadismus) so geplagt ist wie die gegenwärtige; aber in
Ansehung des verfolgten Zusammenhangs nach seiner Hauptlinie und beim
flüchtigen Einsammeln der ersten Beispiele muß wohl auch das, was davon gesagt
worden, schon als Abschweifung gelten, und im ganzen ist davon nicht mehr zu
gewinnen, als daß es dumm sein kann, sich klug zu preisen, aber auch nicht
immer klug ist, den Ruf der Dummheit zu erwecken. Es läßt sich daran nichts
verallgemeinern; oder die einzige Verallgemeinerung, die schon hier zulässig
wäre, müßte die sein, daß es das klügste sei, sich in dieser Welt überhaupt so
wenig wie möglich bemerkbar zu machen! Und wirklich ist dieser abschließende
Strich unter alle Weisheit auch nicht gar selten gezogen worden. Noch öfter
aber wird von dem menschenscheuen Ergebnis bloß halber oder
nur sinnbildlich-stellvertretender Gebrauch gemacht, und dann führt es die
Betrachtung in den Kreis der Bescheidenheitsgebote und noch umfassenderer
Gebote ein, ohne daß sie den Bereich der Dummheit und Klugheit ganz zu
verlassen hätte.
Sowohl aus
Angst, dumm zu erscheinen, als auch aus der, den Anstand zu verletzen, halten
sich viele Menschen zwar für klug, sagen es aber nicht. Und wenn sie sich doch
gezwungen fühlen, davon zu sprechen, umschreiben sie es, indem sie etwa von
sich sagen: »Ich bin nicht dümmer als andere.« Noch beliebter ist es, so
unbeteiligt und sachlich wie möglich die Bemerkung anzubringen: »Ich darf von
mir wohl sagen, daß ich eine normale Intelligenz besitze.« Und manchmal kommt
die Überzeugung von der eigenen Klugheit auch hintenherum zum Vorschein, so
etwa in der Redensart: »Ich lasse mich nicht dumm machen!« Um so
bemerkenswerter ist es, daß sich nicht nur der heimliche einzelne Mensch in seinen Gedanken als überaus klug und wohlausgestattet
ansieht, sondern daß auch der geschichtlich wirkende Mensch von sich, sobald er
die Macht dazu hat, sagt oder sagen läßt, daß er über alle Maßen klug,
erleuchtet, würdig, erhaben, gnädig, von Gott auserlesen und zur Historie
berufen sei. Ja, er sagt es auch von einem anderen gern, von dessen
Widerspiegelung er sich bestrahlt fühlt. In Titeln und Anreden, wie Majestät,
Eminenz, Exzellenz, Magnifizenz, Gnaden und ähnlichen hat sich das versteint
erhalten und ist kaum noch von Bewußtsein beseelt; aber in voller Lebendigkeit
zeigt es sich alsogleich wieder, wenn der Mensch heute als Masse spricht.
Namentlich ein gewisser unterer Mittelstand des Geistes und der Seele ist dem
Überhebungsbedürfnis gegenüber völlig schamlos, sobald er im Schutz der Partei,
Nation, Sekte oder Kunstrichtung auftritt und Wir statt Ich sagen darf.
Mit einem
Vorbehalt, wie er sich von selbst versteht und beiseite bleiben mag, läßt sich diese Überheblichkeit auch Eitelkeit nennen, und wirklich wird
die Seele vieler Völker und Staaten heute von Gefühlen beherrscht, unter denen
unleugbar die Eitelkeit einen vordersten Platz einnimmt; zwischen Dummheit und
Eitelkeit besteht aber seit alters eine innige Beziehung, und vielleicht gibt
sie einen Fingerzeig. Ein dummer Mensch wirkt gewöhnlich schon darum eitel,
weil ihm die Klugheit fehlt, es zu verbergen; aber eigentlich bedarf es nicht
erst dessen, denn die Verwandtschaft von Dummheit und Eitelkeit ist eine
unmittelbare: Ein eitler Mensch erweckt den Eindruck, daß er weniger leistet,
als er könnte; er gleicht einer Maschine, die ihren Dampf an einer undichten
Stelle entweichen läßt. Der alte Spruch: »Dummheit und Stolz wachsen auf einem
Holz« meint nichts als das, ebenso wie der Ausdruck, daß Eitelkeit »verblende«.
Es ist wirklich die Erwartung einer Minderleistung, was wir mit dem Begriff der
Eitelkeit verbinden, denn das Wort »eitel« besagt in seiner Hauptbedeutung
beinahe das gleiche wie »vergeblich«. Und diese Verminderung
der Leistung wird auch dort erwartet, wo in Wahrheit Leistung ist: Eitelkeit
und Talent sind ja nicht selten auch miteinander verbunden; aber wir empfangen
dann den Eindruck, es könnte noch mehr geleistet werden, hinderte sich der
Eitle nicht selbst daran. Diese zäh anhaftende Vorstellung der
Leistungsverminderung wird sich später auch als die allgemeinste Vorstellung
herausstellen, die wir von Dummheit haben.
Das eitle
Verhalten wird aber bekanntlich nicht nur darum gemieden, weil es dumm sein
kann, sondern vornehmlich auch als Störung des Anstands. »Eigenlob stinkt«,
sagt ein Kernwort, und es bedeutet, daß Großsprecherei, viel von sich selbst zu
reden und sich zu rühmen, nicht nur als unklug, sondern auch als unanständig
gilt. Wenn ich nicht irre, gehören die davon verletzten Forderungen des
Anstands zu den vielgestaltigen Geboten der Zurückhaltung und des
Abstandhaltens, die dazu bestimmt sind, den Eigendünkel zu schonen,
wobei vorausgesetzt wird, dieser sei in einem anderen nicht geringer als in
einem selbst. Solche Distanzgebote richten sich auch gegen den Gebrauch zu
offener Worte, regeln Gruß und Anrede, gestatten nicht, daß man einander ohne
Entschuldigung widerspreche, oder daß ein Brief mit dem Worte Ich beginne,
kurz, sie fordern die Beachtung gewisser Regeln, damit man einander nur nicht
»zu nahe trete«. Ihre Aufgabe ist es, den Umgang auszugleichen und zu ebnen,
die Nächsten- und Eigenliebe zu erleichtern und gleichsam auch eine mittlere
Temperatur des menschlichen Verkehrs zu erhalten; und solche Vorschriften
finden sich in jeder Gesellschaft vor, in der primitiven sogar noch mehr als in
der hochzivilisierten, ja auch die wortlose tierische kennt sie, was sich
vielen ihrer Zeremonien leicht ablesen läßt. Im Sinne dieser Distanzgebote ist
es aber nicht nur untersagt, sich selbst, sondern auch andere aufdringlich zu
loben. Jemand ins Gesicht zu sagen, daß er ein Genie oder ein Heiliger sei,
wäre fast ebenso ungeheuerlich, wie es von sich selbst zu
behaupten, und sich selbst das Gesicht zu beschmieren und die Haare zu raufen,
wäre nach heutigem Gefühl nicht besser, als einen andern zu beschimpfen. Man
begnügt sich mit den Bemerkungen, daß man nicht gerade dümmer oder schlechter
als andere sei, wie es denn auch vorhin schon erwähnt worden ist!
Es sind
offenbar die maßlosen und zuchtlosen Äußerungen, worauf in geordneten Zuständen
der Bann ruht. Und so vorhin von der Eitelkeit die Rede war; darin Völker und
Parteien sich heute in Ansehung ihrer Erleuchtung überheben, muß jetzt
nachgeholt werden, daß die sich auslebende Mehrzahl – geradeso wie der einzelne
Größenwahnsinnige in seinen Tagträumen – nicht nur die Weisheit gepachtet hat,
sondern auch die Tugend und sich tapfer, edel, unbesieglich, fromm und schön
vorkommt; und daß in der Welt besonders ein Hang ist, daß sich die Menschen, wo
sie in großer Zahl auftreten, alles gestatten, was ihnen einzeln verboten ist. Diese Vorrechte des groß gewordenen Wir machen heute geradezu
den Eindruck, daß die zunehmende Zivilisierung und Zähmung der Einzelperson
durch eine im rechten Verhältnis wachsende Entzivilisierung der Nationen,
Staaten und Gesinnungsbünde ausgeglichen werden soll; und offenbar tritt darin
eine Affektstörung, eine Störung des affektiven Gleichgewichts in Erscheinung,
die im Grunde dem Gegensatz von Ich und Wir und auch aller moralischen
Bewertung vorangeht. Aber ist das – wird man wohl fragen müssen – noch
Dummheit, ja hängt es mit Dummheit auch nur auf irgend eine Art noch zusammen?
Verehrte
Zuhörer! Niemand zweifelt daran! Aber lassen Sie uns lieber doch noch vor der
Antwort an einem Beispiel, das nicht unliebenswürdig ist, Atem holen! Wir alle,
wenn auch vornehmlich wir Männer, und besonders alle bekannten Schriftsteller,
kennen die Dame, die uns durchaus den Roman ihres Lebens anvertrauen möchte und
deren Seele sich anscheinend immer in interessanten Umständen befunden
hat, ohne daß es zu einem Erfolg gekommen wäre, den sie vielmehr erst von uns
erwartet. Ist diese Dame dumm? Irgend etwas aus der Fülle der Eindrücke
Kommendes pflegt uns zuzuflüstern: Sie ist es! Aber die Höflichkeit wie auch
die Gerechtigkeit erfordern die Einräumung, daß sie es nicht durchaus und immer
ist. Sie spricht viel von sich, und sie spricht überhaupt viel. Sie urteilt
sehr bestimmt und über alles. Sie ist eitel und unbescheiden. Sie belehrt uns
oft. Sie ist gewöhnlich mit ihrem Liebesleben nicht in Ordnung, und überhaupt
glückt ihr das Leben nicht so recht. Aber gibt es denn nicht andere Arten von
Menschen, auf die alles oder das meiste davon auch zutrifft? Viel von sich zu
sprechen, ist beispielsweise auch eine Unart der Egoisten, der Unruhigen und
sogar einer Art von Schwermütigen. Und alles zusammen trifft vornehmlich auf
die Jugend zu; bei der es geradezu unter die Wachstumserscheinungen gehört,
viel von sich zu sprechen, eitel zu sein, belehrend und mit dem Leben nicht recht in Ordnung, mit einem Wort, genau die gleichen
Abweichungen von Klugheit und Anstand aufzuweisen, ohne daß sie deshalb dumm
wäre oder dümmer, als es auf natürliche Weise dadurch bedingt ist, daß sie –
eben noch nicht klug geworden ist!
Meine Damen
und Herrn! Die Urteile des täglichen Lebens und seiner Menschenkunde treffen
eben wohl meistens zu, gewöhnlich aber auch noch daneben. Sie sind nicht um
einer richtigen Lehre willen entstanden, sondern stellen eigentlich bloß
geistige Zustimmungs- und Abwehrbewegungen dar. Auch dieses Beispiel lehrt also
nur, daß etwas dumm sein kann, aber es nicht sein muß, daß die Bedeutung mit
der Verbindung wechselt, in der etwas auftritt, und daß die Dummheit dicht
verwoben mit anderem ist, ohne daß irgendwo der Faden hervorstünde, der das
Gewebe in einem Zug auftrennen läßt. Sogar die Genialität und die Dummheit
hängen unlöslich zusammen, und daß es, bei Androhung der Strafe, für dumm zu
gelten, verboten ist, viel zu reden und viel von sich zu
reden, wird von der Menschheit auf eigentümliche Weise umgangen: durch den
Dichter. Er darf im Namen der Menschlichkeit erzählen, daß es ihm geschmeckt
hat, oder daß die Sonne am Himmel steht, darf sich selbst offenbaren,
Geheimnisse ausplaudern, Geständnisse machen, rücksichtslos persönliche
Rechenschaft ablegen (wenigstens halten viele Dichter darauf!); und alles das
sieht ganz so aus, als ob sich die Menschheit da in einer Ausnahme etwas
gestattet, was sie sich sonst verböte. Sie spricht auf diese Weise unablässig
von sich selbst und hat mit Hilfe des Dichters die gleichen Geschichten und
Erlebnisse schon millionenmal erzählt, bloß die Umstände abwandelnd, ohne daß
irgendein Fortschritt und Sinnesgewinn für sie hervorgekommen wäre: sollte sie
da, im Gebrauch, den sie von ihrer Dichtung macht, und in deren Anpassung an
diesen Gebrauch, nicht am Ende auch der Dummheit verdächtig sein? Ich, für
meine Person, halte das keineswegs für unmöglich!
Zwischen den Anwendungsbereichen der Dummheit und der
Unmoral – letzteres Wort in dem heute nicht üblichen weiteren Sinn verstanden,
der beinahe das gleiche wie Ungeistigkeit, aber nicht wie Unverständigkeit, ist
– besteht jedenfalls eine verwickelte Identität und Verschiedenheit. Und dieses
Zusammengehören ist ohne Zweifel ähnlich, wie es Joh. Ed. Erdmann an einer
bedeutenden Stelle seines vorhin erwähnten Vortrags mit den Worten ausgedrückt
hat, daß die Roheit »die Praxis der Dummheit« sei. Er sagte: »Worte sind...
nicht die einzige Erscheinung eines Geisteszustandes. Derselbe offenbart sich
auch in Handlungen. So auch die Dummheit. Das Dumm- nicht nur sein, sondern
handeln, das Dummheiten begehen« – also die Praxis der Dummheit – »oder die
Dummheit in Action, nennen wir Rohheit.« Diese gewinnende Behauptung lehrt nun
nicht weniger, als daß Dummheit ein Gefühlsfehler sei – denn Roheit ist doch
einer! Und das führt geradeswegs in die Richtung jener »Affektstörung « und »Störung des affektiven Gleichgewichts« zurück, die
andeutungsweise schon erwähnt werden konnte, ohne daß sie eine Erklärung
gefunden hätte. Auch die in Erdmanns Worten liegende Erklärung kann mit der
Wahrheit nicht ganz übereinstimmen, denn abgesehen davon, daß sie bloß auf den
rohen, ungeschliffenen einzelnen Menschen im Gegensatz zur »Bildung« gezielt
hat und keineswegs alle Anwendungsformen der Dummheit umfaßt, ist doch auch die
Roheit nicht bloß eine Dummheit und die Dummheit nicht bloß eine Roheit, und es
bleibt darum an dem Verhältnis von Affekt und Intelligenz, wenn sie sich zur
»angewandten Dummheit« vereinen, noch manches zu erklären, das erst, und am
besten wohl wieder an Beispielen, hervorgekehrt werden muß.
*
Sollen dabei
die Umrisse des Begriffes der Dummheit richtig hervortreten, ist es vor allem anderen nötig, das Urteil zu lockern, daß die Dummheit bloß
oder vornehmlich ein Mangel an Verstand sei; wie denn auch schon erwähnt worden
ist, daß die allgemeinste Vorstellung, die wir von ihr haben, die des Versagens
bei den verschiedensten Tätigkeiten, die des körperlichen und geistigen Mangels
schlechthin zu sein scheint. Es gibt dafür in unseren heimischen Mundarten ein
ausdrucksvolles Beispiel, die Bezeichnung der Schwerhörigkeit, also eines körperlichen
Fehlers, mit dem Worte »derisch« oder »terisch«, das wohl »törisch« heißt und
damit der Dummheit nahe steht. Denn genau so wie da wird der Vorwurf der
Dummheit volksmäßig auch sonst gebraucht. Wenn ein Wettkämpfer im
entscheidenden Augenblick nachläßt oder einen Fehler begeht, sagt er nachher:
»Ich bin wie vernagelt gewesen!« oder: »Ich weiß nicht, wo ich meinen Kopf
gehabt hab'!«, obgleich der Anteil des Kopfes am Schwimmen oder Boxen immerhin
als unscharf begrenzt gelten darf. Ebenso wird unter Knaben und Sportbrüdern einer, der sich ungeschickt anstellt, dumm heißen, auch wenn er
ein Hölderlin ist. Auch gibt es geschäftliche Verhältnisse, unter denen ein
Mensch, der nicht listig und gewissenlos ist, als dumm gilt. Alles in allem
sind das die Dummheiten zu älteren Klugheiten als der, die heute öffentlich in
Ehren steht; und wenn ich gut unterrichtet bin, sind in der altgermanischen
Zeit nicht nur die moralischen Vorstellungen, sondern auch die Begriffe von
dem, was kundig, erfahren, weise ist, also die intellektuellen Begriffe in
Beziehung zu Krieg und Kampf gestanden. So hat jede Klugheit ihre Dummheit, und
sogar die Tierpsychologie hat in ihren Intelligenzprüfungen herausgefunden, daß
sich jedem »Typus von Leistung« ein »Typus von Dummheit« zuordnen lasse.
Wollte man
darum einen allgemeinsten Begriff der Klugheit suchen, so ergäbe sich aus
diesen Vergleichen etwa der Begriff der Tüchtigkeit, und alles, was untüchtig
ist, könnte dann gelegentlich auch dumm heißen; in Wirklichkeit ist es auch
dann so, wenn die zu einer Dummheit gehörende Tüchtigkeit
nicht wörtlich als Klugheit angesprochen wird. Welche Tüchtigkeit dabei im
Vordergrund steht und zu einer Zeit den Begriff der Klugheit und Dummheit mit
ihrem Inhalt erfüllt, hängt von der Form des Lebens ab. In Zeiten persönlicher
Unsicherheit werden sich List, Gewalt, Sinnesschärfe und körperliche
Geschicklichkeit im Begriff der Klugheit ausprägen, in Zeiten vergeistigter –
mit den leider nötigen Einschränkungen läßt sich auch sagen: – bürgerlicher
Lebensgesinnung tritt die Kopfarbeit an ihre Stelle. Richtiger gesagt, es
sollte das die höhere Geistesarbeit tun, aber im Gang der Dinge ist daraus das
Übergewicht der Verstandesleistung geworden, das der geschäftigen Menschheit in
das leere Gesicht unter der harten Stirn geschrieben steht; und so ist es
gekommen, daß heute Klugheit und Dummheit, als könnte es gar nicht anders sein,
bloß auf den Verstand und die Grade seiner Tüchtigkeit bezogen werden, obwohl
das mehr oder minder einseitig ist.
Die mit dem Worte dumm von Ursprung verbundene
allgemeine Vorstellung der Untüchtigkeit – sowohl in der Bedeutung der
Untüchtigkeit zu allem als auch in der Bedeutung jeder beliebigen Untüchtigkeit
– hat denn auch eine recht eindrückliche Folge, nämlich die, daß »dumm« und
»Dummheit«, weil sie die generelle Unfähigkeit bedeuten, gelegentlich für jedes
Wort einspringen können, das eine besondere bezeichnen soll. Das ist einer der
Gründe, warum der gegenseitige Vorwurf der Dummheit heute so ungeheuerlich
verbreitet ist. (In andrem Zusammenhang auch die Ursache davon, daß sich der
Begriff so schwer abgrenzen läßt, wie unsere Beispiele gezeigt haben.) Man sehe
sich die Bemerkungen an, die sich an den Rändern anspruchsvollerer Romane
vorfinden, die längere Zeit im fast anonymen Leihbüchereiverkehr gestanden
sind; hier, wo der Leser mit dem Dichter allein ist, drückt sich sein Urteil
mit Vorliebe in dem Worte »dumm!« aus oder in dessen Äquivalenten, wie »blöd!«,
»Unsinn!«, »unaussprechliche Dummheit!« und ähnlichem. Und
ebenso sind das die ersten Worte der Empörung, wenn der Mensch in
Theateraufführungen oder Bilderausstellungen gegen den Künstler in Masse
auftritt und Anstoß nimmt. Auch des Wortes »Kitsch« wäre hier zu gedenken, das
als erstes Urteil unter Künstlern selbst so beliebt ist wie kein anderes; ohne
daß sich aber, wenigstens meines Wissens nicht, sein Begriff bestimmen und
seine Verwendbarkeit erklären ließe, es sei denn durch das Zeitwort
»verkitschen«, das in mundartlichem Gebrauch soviel besagt wie »unter dem Preis
abgeben« oder »verschleudern«. »Kitsch« hat also die Bedeutung von zu billiger
oder Schleuderware und ich glaube wohl, daß sich dieser Sinn, natürlich ins
Geistige übertragen, jedesmal unterlegen läßt, wo das Wort unbewußt richtig
gebraucht wird.
Da Schleuderware,
Kram hauptsächlich nach der mit ihnen verbundenen Bedeutung von untüchtiger,
untauglicher Ware in das Wort eingehen, die Untüchtigkeit und Untauglichkeit aber auch die Grundlage für den Gebrauch des Wortes dumm
bildet, ist es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß wir geneigt sind,
alles, was uns nicht recht ist – zumal wenn wir es, abgesehen davon, als hoch
oder schöngeistig zu achten vorgeben! – als »irgendwie dumm« anzusprechen. Und
zur Bestimmung dieses »Irgendwie« ist es bedeutsam, daß der Gebrauch der
Dummheitsausdrücke innig durchdrungen wird von einem zweiten, der die ebenso
unvollkommenen Ausdrücke für das Gemeine und sittlich Widerwärtige umfaßt, was
den Blick zu etwas zurückleitet, das ihm schon einmal aufgefallen ist, zu der
Schicksalsgemeinschaft der Begriffe »dumm« und »unanständig«. Denn nicht nur
»Kitsch«, der ästhetische Ausdruck intellektueller Herkunft, sondern auch die
moralischen Worte »Dreck!«, »widerlich!«, »scheußlich!«, »krankhaft!«, »frech!«
sind kernhaft-unentwickelte Kunstkritiken und Urteile über das Leben.
Vielleicht enthalten diese Ausdrücke aber noch eine geistige Anstrengung, einen
Unterschied an Bedeutung, auch wenn sie unterschiedslos
benutzt werden; dann springt als letztes für sie der wirklich schon halb
sprachlose Ausruf »Solch eine Gemeinheit!« ein, der alles andere ersetzt und
sich mit dem Ausruf »Solch eine Dummheit!« in die Herrschaft der Welt zu teilen
vermag. Denn offenbar ist es so, daß diese beiden Worte gelegentlich für alle
anderen einspringen können, weil »dumm« die Bedeutung der generellen
Untüchtigkeit und »gemein« die der generellen Sittenverletzung angenommen hat;
und belauscht man, was Menschen heute übereinander sagen, so scheint es, daß
das Selbstporträt der Menschheit, wie es unbeaufsichtigt aus gegenseitigen
Gruppenaufnahmen entsteht, durchaus nur aus den Abwandlungen dieser beiden
mißfarbenen Worte gemischt ist!
Vielleicht
lohnt es sich, darüber nachzudenken. Sonder Zweifel stellen sie beide die
unterste Stufe eines nicht zur Ausbildung gelangenden Urteils, eine noch völlig
ungegliederte Kritik dar, die wohl fühlt, etwas sei falsch,
aber nicht anzugeben vermag, was. Der Gebrauch dieser Worte ist der
schlichteste und der schlechteste abwehrende Ausdruck, der sich finden läßt, er
ist der Anfang einer Erwiderung und schon auch ihr Ende. Das hat etwas von
einem »Kurzschluß« an sich und wird besser verständlich, wenn berücksichtigt
wird, daß Dumm und Gemein, was immer sie bedeuten mögen, auch als Schimpfworte
benutzt werden. Denn die Bedeutung von Schimpfworten liegt bekanntlich nicht so
sehr an ihrem Inhalt als an ihrem Gebrauch; und viele unter uns mögen die Esel
lieben, werden aber beleidigt sein, wenn man sie einen nennt. Das Schimpfwort
vertritt nicht, was es vorstellt, sondern ein Gemisch von Vorstellungen,
Gefühlen und Absichten, das es nicht im mindesten auszudrücken, sondern nur zu
signalisieren vermag. Nebenbei bemerkt, ist ihm das mit den Mode- und
Fremdworten gemeinsam, weshalb solche unentbehrlich erscheinen, auch wenn sie
sich vollkommen ersetzen ließen. Aus diesem Grunde ist an
Schimpfworten auch etwas unvorstellbar Aufregendes, das wohl mit ihrer Absicht
übereinstimmt, aber nicht mit ihrem Inhalt; und am deutlichsten zeigt sich das
vielleicht an den Hänsel- und Neckworten der Jugend: ein Kind kann »Busch!«
oder »Moritz!« sagen und damit ein anderes auf Grund geheimer Beziehungen in
Raserei versetzen.
Was sich so
von den Schimpf-, Neck-, Mode- und Fremdworten sagen läßt, läßt sich aber auch
von den Witz-, Schlag- und Liebesworten sagen; und das Gemeinsame aller dieser,
sonst so ungleichartigen, Worte ist es, daß sie im Dienst eines Affekts stehn
und daß es gerade ihre Ungenauigkeit und ihre Unsachlichkeit sind, was sie im
Gebrauch befähigt, ganze Bereiche besser zutreffender, sachlicher und richtiger
Worte zu verdrängen. Offenbar besteht im Leben manchmal ein Bedürfnis darnach,
und sein Wert soll ihm gelassen werden; aber dumm, sozusagen die gleichen Wege
wandelnd wie die Dummheit, ist es ohne Zweifel, was in solchen Fällen
geschieht; dieser Zusammenhang läßt sich am deutlichsten an
einem Haupt- und Staatsbeispiel der Kopflosigkeit, an der Panik studieren. Wenn
etwas auf einen Menschen einwirkt, das zu stark für ihn ist, sei es ein jäher
Schreck oder ein anhaltender seelischer Druck, so kommt es vor, daß dieser
Mensch plötzlich »etwas Kopfloses« tut. Er kann zu brüllen beginnen, im Grunde
nicht anders, als es ein Kind macht, kann »blindlings« vor einer Gefahr
davonlaufen oder sich ebenso blindlings in die Gefahr stürzen, eine berstende
Neigung zum Zerstören, zum Schimpfen oder zum Jammern kann ihn erfassen. Alles
in allem wird er an Stelle einer zweckmäßigen Handlung, die von seiner Lage
gefordert würde, eine Fülle anderer hervorbringen, die scheinbar immer, allzu
oft aber auch wirklich zwecklos, ja zweckwidrig sind. Man kennt diese Art des
Widerspiels am besten durch den »panischen Schreck«; aber wenn das Wort nicht
zu eng verstanden wird, läßt sich auch von Paniken der Wut, der Gier und sogar der Zärtlichkeit sprechen, wie denn auch überall dort, wo sich
ein Aufregungszustand auf eine ebenso lebhafte wie blinde und sinnlose Weise
nicht genugtun kann. Daß es eine Panik der Tapferkeit gebe, die sich von der
der Angst bloß durch die umgekehrte Wirkungsrichtung unterscheide, ist von
einem ebenso geistvollen wie tapferen Manne bereits längst bemerkt worden.
Psychologisch
wird das, was sich beim Eintreten einer Panik abspielt, als ein Aussetzen der
Intelligenz, und überhaupt der höheren geistigen Artung, angesehen, an deren
Stelle älteres seelisches Getriebe zum Vorschein kommt; aber es darf wohl
hinzugefügt werden, daß mit der Lähmung und Abschnürung des Verstandes in
solchen Fällen nicht sowohl ein Hinabsinken zum instinktiven Handeln vor sich
geht als vielmehr eines, das durch diesen Bereich hindurch bis zu einem
Instinkt der letzten Not und einer letzten Notform des Handelns führt. Diese
Handlungsweise hat die Form völliger Verwirrung, sie ist
planlos und scheinbar von der Vernunft wie von jedem rettenden Instinkt
verlassen; aber ihr unbewußter Plan ist der, die Qualität der Handlungen durch
deren Zahl zu ersetzen, und ihre nicht geringe List beruht auf der
Wahrscheinlichkeit, daß sich unter hundert blinden Versuchen, die Nieten sind,
auch ein Treffer findet. Ein Mensch in seiner Kopflosigkeit, ein Insekt, das so
lange gegen die geschlossene Fensterhälfte stößt, bis es durch Zufall bei der
geöffneten ins Freie »stürzt«, sie tun in Verwirrung nichts anderes, als es mit
berechnender Überlegung die Kriegstechnik tut, wenn sie ein Ziel mit einer
Feuergarbe oder mit Streufeuer »eindeckt«, ja schon wenn sie ein Schrapnell
oder eine Granate anwendet.
Mit anderen
Worten heißt das, ein gezieltes Handeln durch ein voluminöses vertreten zu
lassen, und nichts ist so menschlich, wie die Beschaffenheit von Worten oder
Handlungen durch deren Menge zu ersetzen. Nun ist an dem Gebrauch undeutlicher
Worte aber etwas sehr dem Gebrauch vieler Worte Ähnliches,
denn je undeutlicher ein Wort ist, um so größer ist der Umfang dessen, worauf
es bezogen werden kann; und von der Unsachlichkeit gilt das gleiche. Sind diese
dumm, so ist Dummheit durch sie mit dem Zustand der Panik verwandt, und auch
der übermäßige Gebrauch dieses Vorwurfs und seinesgleichen wird einem seelischen
Rettungsversuch mit archaisch-primitiven – und, wie wohl mit Recht gesagt
werden kann, krankhaften – Methoden nicht allzu fern stehen. Und wirklich läßt
sich an dem rechten Gebrauch des Vorwurfs, etwas sei wahrhaftig eine Dummheit
oder eine Gemeinheit, nicht nur ein Aussetzen der Intelligenz erkennen, sondern
auch die blinde Neigung zum sinnlosen Zerstören oder Flüchten. Diese Worte sind
nicht nur Schimpfworte, sondern sie vertreten einen ganzen Schimpfanfall. Wo
etwas bloß noch durch sie ausgedrückt werden kann, ist die Tätlichkeit nahe.
Auf früher erwähnte Beispiele zurückzukommen, Bilder werden in solchen
Fällen mit Regenschirmen angegriffen (noch dazu an Stelle dessen, der sie
gemalt hat), Bücher werden, als ließen sie sich so entgiften, zur Erde
geschleudert. Aber auch der entmächtigende Druck ist vorhanden, der dem
vorangeht und von dem es befreien soll: man »erstickt fast« an seinem Ärger;
»kein Wort genügt«, außer eben den allgemeinsten und sinnärmsten; es bleibt
einem »die Sprache weg«, man muß sich »Luft schaffen«. Das ist der Grad der
Sprachlosigkeit, ja Gedankenlosigkeit, der dem Zerbersten vorangeht! Er
bedeutet einen schweren Zustand der Unzulänglichkeit, und schließlich wird der
Ausbruch dann gewöhnlich mit den tief durchsichtigen Worten eingeleitet, daß
einem »endlich etwas zu dumm geworden« sei. Dieses Etwas ist man aber selbst.
In Zeiten, wo große, zupackende Tatkraft sehr geschätzt wird, ist es notwendig,
sich auch an das zu erinnern, was ihr manchmal zum Verwechseln ähnlich sieht.
*
Meine Damen und Herren! Man spricht heute vielfach von
einer Vertrauenskrisis der Humanität, einer Krisis des Vertrauens, das bis
jetzt noch in die Menschlichkeit gesetzt wird; sie ließe sich auch eine Panik
nennen, die im Begriffe ist, an die Stelle der Sicherheit zu treten, daß wir
imstande seien, unsere Angelegenheiten in Freiheit und mit Vernunft zu führen.
Und wir dürfen uns nicht darin täuschen, daß diese beiden sittlichen, und auch
sittlich-künstlerischen Begriffe, Freiheit und Vernunft, die als Wahrzeichen
der Menschenwürde aus dem klassischen Zeitalter der deutschen
Weltbürgerlichkeit auf uns gekommen sind, schon seit der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts oder einem wenigen später nicht mehr so ganz bei Gesundheit
gewesen sind. Sie sind allmählich »außer Kurs« gekommen, man hat nichts mehr
mit ihnen »anzufangen« gewußt, und daß man sie einschrumpfen ließ, ist weniger
der Erfolg ihrer Gegner als der ihrer Freunde gewesen. Wir dürfen uns also auch
nicht darin täuschen, daß wir, oder die nach uns, wohl nicht
zu diesen unveränderten Vorstellungen zurückkehren werden; unsere Aufgabe, und
der Sinn der dem Geist auferlegten Prüfungen, wird es vielmehr sein – und das
ist die so selten begriffene schmerzlich-hoffnungsvolle Aufgabe eines jeden
Zeitgeschlechts – den immer nötigen, ja sehr erwünschten Übergang zum Neuen mit
möglichst geringen Verlusten zu vollziehen! Und um so mehr, als man den
Übergang auf bewahrend-veränderte Ideen, der zur rechten Zeit stattfinden muß,
verabsäumt hat, bedarf man bei solchem Tun helfender Vorstellungen von dem, was
wahr, vernünftig, bedeutend, klug, und also in verkehrter Spiegelung auch von
dem, was dumm ist. Welcher Begriff oder Teilbegriff der Dummheit läßt sich aber
bilden, wenn der des Verstandes und der Weisheit wankt? Wie sehr sich die
Anschauungen mit den Zeiten ändern, dafür möchte ich als ein kleines Beispiel
bloß anführen, daß in einem ehedem sehr bekannten psychiatrischen Lehrbuch die
Frage: »Was ist Gerechtigkeit?« und die Antwort darauf: »daß
der andere bestraft wird!« als ein Fall von Imbezillität angeführt
werden, wogegen sie heute die Grundlage einer viel erörterten Rechtsauffassung
bilden. Ich fürchte also, daß sich selbst die bescheidensten Ausführungen nicht
werden abschließen lassen, ohne auf einen von zeitlichen Wandlungen
unabhängigen Kern wenigstens hinzudeuten. So ergeben sich noch einige Fragen
und Bemerkungen.
Ich habe
kein Recht, als Psychologe aufzutreten, und will es auch nicht tun, aber
wenigstens einen flüchtigen Blick in diese Wissenschaft zu werfen, ist wohl das
erste, wovon man sich in unserem Fall Hilfe erhoffen wird. Die ältere
Psychologie hat zwischen Empfindung, Wille, Gefühl und Vorstellungsvermögen
oder Intelligenz unterschieden, und für sie ist es klar gewesen, daß Dummheit
ein geringer Grad von Intelligenz sei. Die heutige Psychologie hat die
elementare Unterscheidung der Seelenvermögen aber ihrer Wichtigkeit entkleidet,
hat die gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung der
verschiedenen Leistungen der Seele erkannt und – hat damit die Antwort auf die
Frage, was Dummheit psychologisch bedeute, viel weniger einfach gemacht. Es
gibt natürlich eine bedingte Selbständigkeit der Verstandesleistung auch nach
heutiger Auffassung, doch sind dabei selbst in den ruhigsten Verhältnissen
Aufmerksamkeit, Auffassung, Gedächtnis und anderes, ja beinahe alles, was dem
Verstand angehört, wahrscheinlich auch von den Eigenschaften des Gemüts
abhängig; wozu dann überdies noch im bewegten Erleben ebenso wie im
durchgeistigten eine zweite Durchdringung von Intelligenz und Affekt kommt, die
schier unlöslich ist. Und diese Schwierigkeit, Verstand und Gefühl im Begriff
der Intelligenz auseinanderzuhalten, spiegelt sich natürlich auch im Begriff
der Dummheit wider; und wenn zum Beispiel von der medizinischen Psychologie das
Denken geistesschwacher Menschen mit Worten beschrieben wird wie: arm, ungenau,
unfähig der Abstraktion, unklar, langsam, ablenkbar, oberflächlich,
einseitig, steif, umständlich, überbeweglich, zerfahren, so läßt sich
ohneweiters erkennen, daß diese Eigenschaften teils auf den Verstand, teils auf
das Gefühl hinweisen. Man darf also wohl sagen: Dummheit und Klugheit hängen
sowohl vom Verstand als auch vom Gefühl ab; und ob das eine oder das andere
mehr, ob zum Beispiel bei der Imbezillität die Schwäche der Intelligenz »im
Vordergrund steht« oder bei manchem angesehenen moralischen Rigoristen die
Lahmheit des Gefühls, das mag den Fachleuten überlassen bleiben, indes wir
Laien uns auf etwas freiere Weise behelfen müssen.
Im Leben
versteht man unter einem dummen Menschen gewöhnlich einen, der »ein bißchen
schwach im Kopf« ist. Außerdem gibt es aber auch die verschiedenartigsten
geistigen und seelischen Abweichungen, von denen selbst eine unbeschädigt
eingeborene Intelligenz so behindert und durchkreuzt und irregeführt werden
kann, daß es im ganzen auf etwas hinausläuft, wofür dann die Sprache wieder nur das Wort Dummheit zur Verfügung hat. Dieses Wort
umfaßt also zwei im Grunde sehr verschiedene Arten: eine ehrliche und schlichte
Dummheit und eine andere, die, ein wenig paradox, sogar ein Zeichen von
Intelligenz ist. Die erstere beruht eher auf einem schwachen Verstand, die
letztere eher auf einem Verstand, der bloß im Verhältnis zu irgend etwas zu
schwach ist, und diese ist die weitaus gefährlichere.
Die ehrliche
Dummheit ist ein wenig schwer von Begriff und hat, was man eine »lange Leitung«
nennt. Sie ist arm an Vorstellungen und Worten und ungeschickt in ihrer
Anwendung. Sie bevorzugt das Gewöhnliche, weil es sich ihr durch seine öftere
Wiederholung fest einprägt, und wenn sie einmal etwas aufgefaßt hat, ist sie
nicht geneigt, es sich so rasch wieder nehmen zu lassen, es analysieren zu
lassen oder selbst daran zu deuteln. Sie hat überhaupt nicht wenig von den
roten Wangen des Lebens! Zwar ist sie oft unbestimmt in ihrem Denken, und die
Gedanken stehen ihr vor neuen Erfahrungen leicht ganz still,
aber dafür hält sie sich auch mit Vorliebe an das sinnlich Erfahrbare, das sie
gleichsam an den Fingern abzählen kann. Mit einem Wort, sie ist die liebe
»helle Dummheit«, und wenn sie nicht manchmal auch so leichtgläubig, unklar und
zugleich so unbelehrbar wäre, daß es einen zur Verzweiflung bringen kann, so
wäre sie eine überaus anmutige Erscheinung.
Ich mag mir
nicht versagen, diese Erscheinung noch mit einigen Beispielen auszuzieren, die
sie auch von anderen Seiten zeigen und die ich Bleulers Lehrbuch der
Psychiatrie entnommen habe: Ein Imbeziller drückt, was wir mit der Formel »Arzt
am Krankenbett« abtäten, mit den Worten aus: »Ein Mann, der hält dem andern die
Hand, der liegt im Bett, dann steht da eine Nonne.« Es ist die Ausdrucksweise
eines malenden Primitiven! Eine nicht ganz klare Magd betrachtet es als
schlechten Scherz, wenn man ihr zumutet, sie solle ihr Erspartes der Kasse
übergeben, wo es Zinsen trage: So dumm werde niemand sein,
ihr noch etwas dafür zu bezahlen, daß er ihr das Geld aufbewahre! gibt sie zur
Antwort; und es drückt sich darin eine ritterliche Gesinnung aus, ein
Verhältnis zum Geld, das man vereinzelt noch in meiner Jugend an vornehmen alten
Leuten hat wahrnehmen können! Einem dritten Imbezillen endlich wird es
symptomatisch aufgeschwärzt, daß er behauptet, ein Zweimarkstück sei weniger
wert als ein Markstück und zwei halbe, denn – so lautet seine Begründung: man
müsse es wechseln, und dann bekäme man zu wenig heraus! Ich hoffe, nicht der
einzige Imbezille in diesem Saal zu sein, der dieser Werttheorie für Menschen,
die beim Wechseln nicht aufpassen können, herzlich zustimmt!
Um aber
nochmals auf das Verhältnis zur Kunst zurückzukehren, die schlichte Dummheit
ist wirklich oft eine Künstlerin. Statt auf ein Reizwort mit einem andern Wort
zu erwidern, wie es in manchen Experimenten einstens sehr üblich war, gibt sie
gleich ganze Sätze zur Antwort, und man mag sagen, was man
will, diese Sätze haben etwas wie Poesie in sich! Ich wiederhole, indem ich
zuerst das Reizwort nenne, einige von solchen Antworten:
»Anzünden: Der Bäcker zündet das Holz an.
Winter: Besteht aus Schnee.
Vater: Der hat mich einmal die Treppe
hinuntergeworfen.
Hochzeit: Dient zur Unterhaltung.
Garten: In dem Garten ist immer schön Wetter.
Religion: Wenn man in die Kirche geht.
Wer war Wilhelm Tell: Man hat ihn im Wald gespielt; es
waren verkleidete Frauen und Kinder dabei.
Wer war Petrus: Er hat dreimal gekräht.«
Die Naivität
und große Körperlichkeit solcher Antworten, der Ersatz höherer Vorstellungen
durch das Erzählen einer einfachen Geschichte, das wichtige Erzählen von
Überflüssigem, von Umständen und Beiwerk, dann wieder das abkürzende Verdichten
wie in dem Petrus-Beispiel, das sind uralte Praktiken der
Dichtung; und wenn ich auch glaube, daß ein Zuviel davon, wie es recht in
Schwang ist, den Dichter dem Idioten annähert, so ist doch auch das
Dichterische in diesem nicht zu verkennen, und es fällt ein Licht darauf, daß
der Idiot in der Dichtung mit einer eigentümlichen Freude an seinem Geist
dargestellt werden kann.
Zu dieser
ehrlichen Dummheit steht nun die anspruchsvolle höhere in einem wahrhaft nur zu
oft schreienden Gegensatz. Sie ist nicht sowohl ein Mangel an Intelligenz als
vielmehr deren Versagen aus dem Grunde, daß sie sich Leistungen anmaßt, die ihr
nicht zustehen; und sie kann alle schlechten Eigenschaften des schwachen
Verstandes an sich haben, hat aber außerdem auch noch alle die an sich, die ein
nicht im Gleichgewicht befindliches, verwachsenes, ungleich bewegliches, kurz,
ein jedes Gemüt verursacht, das von der Gesundheit abweicht. Weil es keine
»genormten« Gemüter gibt, drückt sich, richtiger gesagt, in dieser
Abweichung ein ungenügendes Zusammenspiel zwischen den Einseitigkeiten des
Gefühls und einem Verstand aus, der zu ihrer Zügelung nicht hinreicht. Diese
höhere Dummheit ist die eigentliche Bildungskrankheit (aber um einem
Mißverständnis entgegenzutreten: sie bedeutet Unbildung, Fehlbildung, falsch
zustande gekommene Bildung, Mißverhältnis zwischen Stoff und Kraft der
Bildung), und sie zu beschreiben, ist beinahe eine unendliche Aufgabe. Sie
reicht bis in die höchste Geistigkeit; denn ist die echte Dummheit eine stille
Künstlerin, so die intelligente das, was an der Bewegtheit des Geisteslebens,
vornehmlich aber an seiner Unbeständigkeit und Ergebnislosigkeit mitwirkt.
Schon vor Jahren habe ich von ihr geschrieben: »Es gibt schlechterdings keinen
bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist
allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit
dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.« Die damit angesprochene Dummheit ist keine
Geisteskrankheit, und doch ist sie die lebensgefährlichste, die dem Leben
selbst gefährliche Krankheit des Geistes.
Wir sollten
sie gewiß jeder schon in uns verfolgen, und nicht erst an ihren großen
geschichtlichen Ausbrüchen erkennen. Aber woran sie erkennen? Und welches
unverkennbare Brandmal ihr aufdrücken?! Die Psychiatrie benutzt heute als
Hauptkennzeichen für die Fälle, die sie angehen, die Unfähigkeit, sich im Leben
zurechtzufinden, das Versagen vor allen Aufgaben, die es stellt, oder auch
plötzlich vor einer, wo es nicht zu erwarten wäre. Auch in der experimentellen
Psychologie, die es vornehmlich mit dem Gesunden zu tun hat, wird die Dummheit
ähnlich definiert. »Dumm nennen wir ein Verhalten, das eine Leistung, für die
alle Bedingungen bis auf die persönlichen gegeben sind, nicht vollbringt«,
schreibt ein bekannter Vertreter einer der neuesten Schulen dieser
Wissenschaft. Dieses Kennzeichen der Fähigkeit sachlichen Verhaltens, der Tüchtigkeit also, läßt für die eindeutigen »Fälle« der Klinik
oder der Affenversuchsstation nichts zu wünschen übrig, aber die frei
herumlaufenden »Fälle« machen einige Zusätze nötig, weil das richtige oder
falsche »Vollbringen der Leistung« bei ihnen nicht immer so einleuchtend ist.
Erstens liegt doch in der Fähigkeit, sich allezeit so zu verhalten, wie es ein
lebenstüchtiger Mensch unter gegebenen Umständen tut, schon die ganze höhere
Zweideutigkeit der Klugheit und Dummheit, denn das »sachgemäße«, »sachkundige«
Verhalten kann die Sache zum persönlichen Vorteil benutzen oder ihr dienen, und
wer das eine tut, pflegt den, der das andre tut, für dumm zu halten. (Aber
medizinisch dumm ist eigentlich nur, wer weder das eine noch das andere kann.)
Und zweitens läßt sich auch nicht leugnen, daß ein unsachliches Verhalten, ja
sogar ein unzweckmäßiges, oft notwendig sein kann, denn Objektivität und
Unpersönlichkeit, Subjektivität und Unsachlichkeit haben Verwandtschaft
miteinander, und so lächerlich die unbeschwerte
Subjektivität ist, so lebens-, ja denkunmöglich ist natürlich ein völlig
objektives Verhalten; beides auszugleichen, ist sogar eine der
Hauptschwierigkeiten unserer Kultur. Und schließlich wäre auch noch
einzuwenden, daß sich gelegentlich keiner so klug verhält, wie es nötig wäre,
daß jeder von uns also, wenn schon nicht immer, so doch von Zeit zu Zeit dumm
ist. Es ist darum auch zu unterscheiden zwischen Versagen und Unfähigkeit,
gelegentlicher oder funktioneller und beständiger oder konstitutioneller
Dummheit, zwischen Irrtum und Unverstand. Es gehört das zum wichtigsten, weil
die Bedingungen des Lebens heute so sind, so unübersichtlich, so schwer, so
verwirrt, daß aus den gelegentlichen Dummheiten der einzelnen leicht eine
konstitutionelle der Allgemeinheit werden kann. Das fuhrt die Beobachtung also
schließlich auch aus dem Bereich persönlicher Eigenschaften hinaus zu der Vorstellung
einer mit geistigen Fehlern behafteten Gesellschaft. Man
kann zwar, was psychologisch-real im Individuum vor sich geht, nicht auf
Sozietäten übertragen, also auch nicht Geisteskrankheiten und Dummheit, aber
man dürfte heute wohl vielfach von einer »sozialen Imitation geistiger Defekte«
sprechen können; die Beispiele dafür sind recht aufdringlich.
*
Mit diesen
Zusätzen ist der Bereich der psychologischen Erklärung natürlich wieder
überschritten worden. Sie selbst lehrt uns, daß ein kluges Denken bestimmte
Eigenschaften hat, wie Klarheit, Genauigkeit, Reichtum, Löslichkeit trotz
Festigkeit und viele andere, die sich aufzählen ließen; und daß diese
Eigenschaften zum Teil angeboren sind, zum Teil neben den Kenntnissen, die man
sich aneignet, auch als eine Art Denkgeschicklichkeit erworben werden; bedeuten
doch ein guter Verstand und ein geschickter Kopf so ziemlich das gleiche.
Hierbei ist nichts zu überwinden als Trägheit und Anlage,
das läßt sich auch schulen, und das komische Wort »Denksport« drückt nicht
einmal so übel aus, worauf es ankommt.
Die
»intelligente« Dummheit hat dagegen nicht sowohl den Verstand als vielmehr den
Geist zum Widerpart, und wenn man sich darunter nicht bloß ein Häuflein Gefühle
vorstellen will, auch das Gemüt. Weil sich Gedanken und Gefühle gemeinsam
bewegen, aber auch weil sich in ihnen der gleiche Mensch ausdrückt, lassen sich
Begriffe wie Enge, Weite, Beweglichkeit, Schlichtheit, Treue auf das Denken wie
auf das Fühlen anwenden; und mag der daraus entstehende Zusammenhang selbst
noch nicht ganz klar sein, so genügt es doch, um sagen zu können, daß zum Gemüt
auch Verstand gehört und daß unsere Gefühle nicht außer Verbindung mit Klugheit
und Dummheit sind. Gegen diese Dummheit ist durch Vorbild und Kritik zu wirken.
Die damit
vorgetragene Auffassung weicht von der üblichen Meinung ab, die durchaus nicht falsch, wohl aber äußerst einseitig ist und nach der ein
tiefes, echtes Gemüt des Verstandes nicht brauchte, ja durch ihn bloß
verunreinigt würde. Die Wahrheit ist, daß an schlichten Menschen gewisse
wertvolle Eigenschaften, wie Treue, Beständigkeit, Reinheit des Fühlens und
ähnliche ungemischt hervortreten, aber das doch eigentlich nur tun, weil der
Wettbewerb der anderen schwach ist; und ein Grenzfall davon ist uns vorhin im Bilde
des freundlich zusagenden Schwachsinns zu Gesicht gekommen. Nichts liegt mir
ferner, als das gute, rechtschaffene Gemüt mit diesen Ausführungen erniedrigen
zu wollen – sein Fehlen hat sogar geziemlichen Anteil an der höheren Dummheit!
– aber noch wichtiger ist es heute, ihm den Begriff des Bedeutenden
voranzusetzen, was ich freilich nur noch gänzlich utopischerweise erwähne.
Das
Bedeutende vereint die Wahrheit, die wir an ihm wahrnehmen können, mit den
Eigenschaften des Gefühls, die unser Vertrauen haben, zu etwas Neuem, zu einer
Einsicht, aber auch zu einem Entschluß, zu einem erfrischten
Beharren, zu irgend etwas, das geistigen und seelischen Gehalt hat und uns oder
anderen ein Verhalten »zumutet«; so ließe sich sagen, und was im Zusammenhang
mit der Dummheit das wichtigste ist, das Bedeutende ist an der Verstandes- wie
an der Gefühlsseite der Kritik zugänglich. Das Bedeutende ist auch der
gemeinsame Gegensatz von Dummheit und Roheit, und das allgemeine Mißverhältnis,
worin heute die Affekte die Vernunft zerdrücken, statt sie zu beflügeln,
schmilzt im Begriff der Bedeutung zu. Genug von ihm, ja vielleicht schon mehr,
als zu verantworten sein möchte! Denn sollte noch etwas hinzugefügt werden
müssen, so könnte es nur das eine sein, daß mit allem Gesagten durchaus noch
kein sicheres Erkennungs- und Unterscheidungszeichen des Bedeutenden gegeben
ist und daß wohl auch nicht leicht ein ganz genügendes gegeben werden könnte.
Gerade das führt uns aber auf das letzte und wichtigste Mittel gegen die
Dummheit: auf die Bescheidung.
Gelegentlich sind wir alle dumm; wir müssen
gelegentlich auch blind oder halbblind handeln, oder die Welt stünde still; und
wollte einer aus den Gefahren der Dummheit die Regel ableiten: »Enthalte dich
in allem des Urteils und des Entschlusses, wovon du nicht genug verstehst!«,
wir erstarrten! Aber diese Lage, von der heute recht viel Aufhebens gemacht
wird, ist ähnlich einer, die uns auf dem Gebiet des Verstandes längst vertraut
ist. Denn weil unser Wissen und Können unvollendet ist, müssen wir in allen
Wissenschaften im Grunde voreilig urteilen, aber wir bemühen uns und haben es
erlernt, diesen Fehler in bekannten Grenzen zu halten und bei Gelegenheit zu
verbessern, wodurch doch wieder Richtigkeit in unser Tun kommt. Nichts spricht
eigentlich dagegen, dieses exakte und stolz-demütige Urteilen und Tun auch auf
andere Gebiete zu übertragen; und ich glaube, der Vorsatz: Handle, so gut du
kannst und so schlecht du mußt, und bleibe dir dabei der Fehlergrenzen deines
Handelns bewußt! wäre schon der halbe Weg zu einer
aussichtsvollen Lebensgestaltung.
Aber ich bin
mit diesen Andeutungen schon eine Weile am Ende meiner Ausführungen, die, wie
ich schützend vorgekehrt habe, nur eine Vorstudie bedeuten sollen. Und ich
erkläre mich, den Fuß auf der Grenze, außerstande, weiterzugehen; denn einen
Schritt über den Punkt, wo wir halten, hinaus, und wir kämen aus dem Bereich
der Dummheit, der selbst theoretisch noch abwechslungsreich ist, in das Reich
der Weisheit, eine öde und im allgemeinen gemiedene Gegend.