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Robert Musil: Triëdere

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Robert Musil
Triëdere!

 
Zeitlupenaufnahmen tauchen unter die bewegte Oberfläche, und es ist ihr Zauber, daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmen sieht. Das hat der Film volkstümlich gemacht; aber es ist schon lange vor ihm auf eine Weise zu erleben gewesen, die sich noch heutigentags durch ihre Bequemlichkeit empfiehlt: indem man nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht. In der Folge ist ein solcher Versuch beschrieben.
    Als Gegenstand diente zu Beginn ein Anschlag am Tor eines schönen alten Hauses, das dem Beobachtungsort gegenüber lag und ein bekanntes staatliches Institut beherbergte; dieser Anschlag verkündete, bei Gebrauch des Triëders, daß das staatliche Institut von neun bis sechzehn Uhr Amtsstunden habe. Schon da erstaunte der Beobachter; denn es war fünfzehn Uhr, und nicht nur war weit und breit kein Beamter mehr zu erblicken, sondern er entsann sich auch nicht, jemals um diese Stunde mit unbewaffnetem Auge einen gesehen zu haben. Endlich entdeckte er hinter einem entlegenen Fenster zwei winzige, dicht nebeneinander stehende Herren, die mit den Fingern an die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen. Aber er entdeckte sie nicht nur, sondern wie sie nun, in dem kleinen Kreis seines Instruments gefangen, dastanden, verstand er sie auch herzlich und bemerkte mit Stolz, wie wichtig das Triëdern für Beamte noch werden könne, und überhaupt für Männer, die eine geheiligte Zahl von Bürostunden abzusitzen haben.
    Als zweites kam dann das Haus daran, worin sich das beobachtete Amt befand. Es war ein altes Palais, mit Fruchtgewinden am Kapitäl der Steinpfeiler und schöner Gliederung nach der Höhe und Breite, und während der Späher noch die Beamten gesucht hatte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich dieses Pfeilerwerk, diese Fenster und Gesimse ins Fernglas hineinstellten; nun, da er sie mit einem gesammelten Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen perspektivischen Korrektheit, mit der sie zu ihm herüberblickten. Er wurde plötzlich inne, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Waagrechten, diese, je weiter seitlich, umso trapezförmiger, zusammengezogenen Fenster, ja diesen ganzen Absturz vernünftiger, gewohnter Begrenzungen in einen irgendwo seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung nur für einen Alp der Renaissance gehalten hatte: eigentlich für eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien, die gerüchtweise übertrieben werde, wenn auch etwas Richtiges an ihr sein möge. Nun sah er sie aber überlebensgroß, und weit schlimmer als das unwahrscheinlichste Gerücht, vor seinen eigenen Augen.
    Wer es nicht glaubt, daß die Welt so ist, der triëdere die Straßenbahn. Vor dem Palais machte sie einen S-förmigen Doppelbogen. Ungezähltemal hatte sie unser Beobachter von seinem zweiten Stockwerk aus daherkommen, eben diesen S-förmigen Doppelbogen machen und wieder davonfahren gesehen; sie, die Straßenbahn: in jedem Augenblick dieser Entwicklung der gleiche längliche rote Wagen. Als er sie nun durch das Triëder betrachtete, bemerkte er aber etwas völlig Anderes: Eine unerklärliche Gewalt drückte plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stießen immer schräger aneinander, gleich sollte er platt sein; da ließ die Kraft nach, er fing hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen lief wieder eine Bewegung, und während der verdutzte Augenzeuge noch den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte, vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, alles so deutlich an dem öffentlichen Ding, und nicht etwa persönlich bloß in seinem Auge, daß er darauf hätte schwören mögen, es sei nicht minder wirklich, als wenn ein Fächer geöffnet und geschlossen wird. Und wer es nicht glauben will, der kann es nachprüfen. Er bedarf nur einer Wohnung dazu, auf die eine Straßenbahn in S-förmiger Schleife zukommt.
    Sobald diese Entdeckung gemacht war, sah sich der Entdecker natürlich die Frauen an; und da enthüllte sich ihm die ganze unverwüstliche Bedeutung menschlichen Kuppelbaus. Was rund ist an der Frau, und damals nach dem Willen der Mode noch sorgfältiger verheimlicht wurde als heute, so daß es bloß als kleine rhythmische Unebenheit im knabenhaften Fluß der Bewegung erschien, wölbte sich unter dem unbestechlichen Blick des Triëders wieder zu den ureinfachen Hügeln, aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht. Rings darum öffneten und schlossen sich, aufgeregt von jedem Schritt, unerwartet viel wispernde Falten im Kleid. Sie verkündeten dem gewöhnlichen Auge das unantastbare Ansehen der Trägerin oder das Lob des Schneiders und verrieten heimlich, was nicht gezeigt wird; denn in Vergrößerung gesehn, werden Impulse zur Ausführung, und durch ein Glas beobachtet, wird jede Frau eine psychologisch belauschte Susanna im Bade des Kleides. Es war aber überraschend, wie bald sich solche kennerhafte Neugierde unter der unverrückbaren und offenbar etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks verflüchtigte und bloß noch als Gefackel und Geflacker zwischen den ewigen, sich gleichbleibenden Werten ausnahm, die keine Psychologie brauchen.
    Genug davon! Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer. Ein Hut, der eine männliche Gestalt nach schöner Sitte krönt, eins mit dem Ganzen des Mannes von Welt und Macht, durchaus ein nervöses Gebilde, ein Körper-, ja sogar ein Seelenteil, entartet augenblicklich zu etwas Wahn-sinnähnlichem, wenn das Triëder seine romantischen Beziehungen zur Umwelt unterbindet und die richtigen optischen herstellt. Die Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten, sobald sie das Glas vom Rocksaum aufwärts als einen sackartigen Raum erfaßt, aus dem zwei geknickte kurze Stelzchen hervorkommen. Und wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit und wie säuglingshaft komisch der Zorn, wenn sie sich, von ihrer Wirkung getrennt, hinter der Sperre des Glases befinden! Zwischen unseren Kleidern und uns und auch zwischen unseren Bräuchen und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, worin wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es dann mit Zinseszins wieder von ihnen ausborgen; darum nähern wir uns auch augenblicklich dem Bankerott, wenn wir ihnen den Kredit kündigen.
    Natürlich hängen damit die vielbelächelten Torheiten der Mode zusammen, die den Menschen ein Jahr lang verlängern und in einem andern Jahr verkürzen, die ihn dick machen und dünn, die ihn bald oben breit und unten schmal, bald oben schmal und unten breit machen, die in einem Jahr alles an ihm empor und im nächsten alles wieder bergab kämmen, die seine Haare nach vorn und hinten, rechts und links streichen. Sie stellen, wenn man sie ohne alles Mitfühlen betrachtet, eine überraschend geringe Anzahl von geometrischen Möglichkeiten dar, zwischen denen auf das leidenschaftlichste abgewechselt wird, ohne die Überlieferung jemals ganz zu durchbrechen. Werden auch noch die Moden des Denkens, Fühlens und Handelns einbezogen, von denen ähnliches gilt, so erscheint unsere Geschichte dem empfindlich gewordenen Auge kaum anders als ein Pferch, zwischen dessen wenigen Wänden die Menschenherde besinnungslos hin und her stürzt. Und doch, wie willig folgen wir dabei den Führern, die eigentlich selbst nur entsetzt voranfliehen, und welches Glück grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn wir Anschluß haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern! Warum das alles?! Vielleicht befürchten wir mit Recht, daß unser Charakter wie ein Pulver auseinanderfallen könnte, wenn wir ihn nicht in eine öffentlich zugelassene Tüte stecken.
    Der Beobachter endete schließlich bei den Füßen, das heißt an der Stelle, wo sich der Mensch aus dem Tierreich erhebt. Und wie unheimlich ist sie bei Mann und Frau! Man weiß ja auch davon einiges schon aus dem Kino, wo berühmte Helden und Heldinnen eilig aus dem Hintergrund hervorwatscheln wie Enten. Aber das Kino dient der Liebe zum Dasein und bemüht sich, dessen Schwächen zu beschönigen, was ihm denn auch mit fortschreitender Technik gelingt. Ganz anders das Triëder! Unerbittlich hält es darauf zu zeigen, wie lächerlich sich die Beine oben von den Hüften abstoßen und wie täppisch sie unten auf Absatz und Sohle landen; das schwankt nicht nur unmenschlich und kommt mit dem dicken Ende zuerst an, sondern vollführt auch dazwischen meistens noch die aufschlußreichsten persönlichen Grimassen. Der Mann hinter dem Instrument hatte binnen fünf Minuten zwei solche Fälle beobachten können. Kaum hatte er einen jungen Kavalier mit Sportkappe aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er auch schon gewahrte, wie dieser gelassen neben seinem Mädchen als Gebieter Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte das Bein mit einem angestrengten winzigen Ruck aus dem Stand schleudern mußte. Kein Arzt, kein Mädchen, auch nicht er ahnte noch das Grauen, das ihm bevorstand; bloß das Triëder löste die kleine Gebärde der Hilflosigkeit aus der allseitigen Harmonie der Brutalität und ließ die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen! Etwas Harmloseres geschah an dem freundlichen, rundlichen Mann in den besten Jahren, der rasch daherkam und der Welt eine wohlwollende, zutuliche Art des Gehens darbot: Nach einem Schnitt durch die Mitte, der die Beine auspräparierte, kam augenblicklich hervor, daß der Fuß ganz scheußlich einwärts aufgekantet wurde; und nun, da an dieser Stelle der Schein durchbrochen war, pendelten auch die Arme eigensinnig in den Schulterpfannen, die Schultern zogen am Genick, und statt eines Ganzen des Wohlwollens war mit einem Male ein menschliches System zu sehen, das nur darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und gar nichts für andere übrig hatte!
    Auf solche Weise trägt also das Fernglas sowohl zum Verständnis des einzelnen Menschen bei als auch zu einer sich vertiefenden Verständnislosigkeit für das Menschsein. Indem es die gewohnten Zusammenhänge auflöst und die wirklichen entdeckt, ersetzt es eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu. Vielleicht empfiehlt man es aber gerade darum vergeblich. Benutzen doch die Menschen das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhöhen, oder im Zwischenakt um nachzusehen, wer da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten.


(Robert Musil - 15. 10. 1926 in Berliner Tagblatt, u.a.)
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