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Rainer René Mueller: geschriebes. selbst mit stein

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Dirk Uwe Hansen

Gedicht als Graphik als Partitur


Ich habe mit Ungeduld gewartet auf dieses Buch seit ich es gleich nach seiner Ankündigung voller Vorfreude bestellt habe — bei einer Auflage von nur 300 Exemplaren schien mir das geboten zu sein (daher will ich auch gern schon zu Beginn meiner Besprechung empfehlen, das Buch zu kaufen).  Zudem ist es die erste Publikation von Gedichten Rainer René Muellers seit 2015 bei Engeler der Band POÈMES – POËTRA mit einer Auswahl der Texte dieses großen Dichters erschienen ist, und da lag seine letzte Buchveröffentlichung, der zwanzigseitige Zyklus „Schneejagd“ unter dem Pseudonym Ellis Eliescher, schon mehr als zwanzig Jahre zurück. Ein Dichter also, der sich rar macht, oder besser, ein Dichter, der viel zu wenig wahrgenommen und gedruckt wird (in den Anthologien von Killy und Conrady zum Beispiel fehlt er, von den Lesebüchern für den Deutschunterricht ganz zu schweigen, ich halte das für einen Skandal).

Aber zurück zum Buch, das zunächst durch seine äußere Gestalt auffällt (und das ist keine unbedeutende Äußerlichkeit, denke ich, nichts an diesem Buch ist unbedeutend): französische Broschur im Format 184 × 297 mm, ein Heft also, und eines, das sich schwer ins Regal stellen lässt — das allerdings werde ich auch jetzt, nachdem ich es zweimal gelesen habe, nicht so bald tun; es wird noch eine ganze Weile auf meinem Schreibtisch liegen, um immer wieder in die Hand genommen zu werden.
    Im Gegensatz zur Schlichtheit von Heftformat und Klammerheftung steht der Schutzumschlag aus transparentem Papier und vor allem das weinrote, luxuriöse Vor- und Nachsatzblatt. Bei mir stellt sich sofort eine Assoziation von Blättern mit Graphiken unter Japanpapier in der samtaus-geschlagenen Schublade eines Kupferstichkabinetts ein.

Ungewöhnlich großzügig auch ist die Platzierung der Gedichte mit ihrem bisweilen ungewöhnlichen Zeilenfall: Jedes bekommt eine Doppelseite Raum, die Versoseiten bleiben leer.
    So bewege ich mich zunächst blätternd durch das Buch wie durch die Räume einer großzügig gehängten Ausstellung von Graphiken, und mein Auge bleibt dabei immer wieder an Details hängen, die später genauer betrachtet sein wollen. „Steine aux fleurs“ und „Litophanie“ gleich auf dem ersten Blatt, „Narbengewerbe“, dann in einer Strophe „Nieselglanz“, „Grabgang“ und „Fleischwerdung“, „Boisserée“, „Klagegestein“, „Schneeschaum“ und immer wieder Passagen in Jiddisch, dieser traurig schönen Sprache. Mueller ist ein jüdischer, ein deutscher, ein europäischer Dichter, entsprechend weit ist der kulturelle Raum, in dem sich seine Gedichte bewegen, vom Tanach über Hölderlin und Else Lasker Schüler bis zu Lisa Olstein, von Monteverdi bis Ligeti, vom Hebräischen über das Jiddische zum Deutschen und Französischen… Man mag die Gedichte voraussetzungsreich nennen (ja, vieles musste ich nachlesen, um die Texte begreifen zu können), intellektuelle Spielereien sind sie nicht. Im Gegenteil (falls dies denn überhaupt ein Gegensatz ist), wenn Mueller die großen Themen Shoa und Antisemitismus aufnimmt, ist seine Verbitterung unmittelbar ergreifend:

(S. 11)
Rosa Eliescher summt,
                                              singt —
neben dem Kachelofen
( mit'm zur Locke gedrejhten Haar )
dem Enkel das Rottelied :

„… hmt'tata, hmt'tata, źydulla bachraty …“*
*(„rumtata, rumtata, guck die judenschlampe (judensau) da“)
                    

(S. 33)
„s'ist wohl dein Glatzenschutz, da
auf'm Kopp“ : Tipp-kick, April,
April : Berlin
         
Auffällig ist, wie viele verschiedene Arten zu Sprechen Mueller zur Verfügung stehen, wie er Umgangssprache mit faktischem und liturgischem Sprechen zu mischen versteht:

Am Fuß der Treppe
                                  „vehachir mechorer“ / „et le chante qui chante“
                                  Chronik, Buch II, Kap. 29, Vers 28

                                                                                             zutiefst,
zutiefst : aufgeschlagen am Fuß der Treppe
                                                                      nach
Blitzschlag mit Herz, einer Corona mit Haar-
brand-/ geruch (neurologisch) : dieser

                                                                      vergebliche
Helligkeitsaufschlag auf Fliesen, ( achtzehn-
hundertfünfzig ) beblutet : der Glasscherben steckt
noch im Oberarm, rechts; so'n Sickern …

zwischen den Fingern der im Gelenk
gebrchenen linken Hand. — : ritorno d'ulisse

                                                                      — défibrillateur.
… die Stahlstifte in der Mittelhand eitern dann raus :
                                                                      Hineni, Hineni
                                           
Neben der Vielzahl von Sprechweisen zeigt sich in diesem Gedicht eine weitere Qualität der Texte, für die ich Rainer René Mueller so sehr schätze, und die sich am besten mit einem Vers aus dem Gedicht „Tropus, Ostern“ beschreiben lässt:

… für'n Aug'nblick, etwas
wie Braille / -schrift, das
: zu Tastende, das Seh'n

das Fühlen vor Augen,
das Blinde im Pergamon
               
Muellers Gedichte beschreiben nicht nur, worum es geht, sie machen sichtbar und fühlbar, was verhandelt wird. Jedes der Gedichte eröffnet eine eigene Welt, die man sehen, schmecken und fühlen kann. Und folgerichtig kann auch jeder Text seine eigene Grammatik entwickeln und seine eigene Form. Auffällig ist dabei Muellers Gebrauch von Satzzeichen und Zeilenfall.
 
… man nähme / an, …
auf, das :        den
                                  Haken kosen :
als Schlachtstück, — man nähme, namentlich
an : etwas wie : recours

… an : Mann, … Name, An-
nahme               

Hier wird mit Doppelpunkten und Schrägstrichen kein (grammatikalischer) Satz strukturiert, hier wird ein (musikalischer) Satz geschaffen, werden Stimmen zu-, gegen- und umeinander geführt: „so etwas / wie Gregorianik —“ heißt es dann auch in den nächsten Zeilen.
    „Geschriebes selbst mit Stein“ ist ein in so vielerlei Hinsichten wichtiges Buch, dass ich die am Anfang ausgesprochene Empfehlung wiederholen muss: Kaufen Sie es! Und möge es dem Dichter Rainer René Mueller endlich die Aufmerksamkeit bescheren, die ihm gebührt.


Rainer René Mueller: geschriebes. Selbst mit stein. Gedichte. Heidelberg (Edition aouey) 2018. 56 S. 18,00 Euro.
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