Prolegomena zu einer Theorie der Collage
Jan Kuhlbrodt
Prolegomena zu einer Theorie der Collage
Vorsatz 1
Viktor Schklowski in „Kunst als Verfahren“: Somit kann eine Sache 1) geschaffen sein als prosaische und wahrgenommen werden als dichterische, 2) geschaffen sein als dichterische und wahrgenommen werden als prosaische. Das zeigt, dass das Künstlerische, das, was sich auf die Poesie einer gegebenen Sache beziehen lässt, Resultat der Art unseres Wahrnehmens ist; künstlerisch nun wollen wir Dinge nennen, die in besonderen Verfahren hergestellt wurden, deren Zweck darin bestand, dass diese Werke mit größtmöglicher Sicherheit als künstlerisch wahrgenommen würden.
Vorsatz 2
Arthur C. Danto in „Die Verklärung des Gewöhnlichen“: Wir haben uns an die Möglichkeit von zwei äußerlich ununterscheidbaren Objekten gewöhnt, von denen das eine ein Kunstwerk ist und das andere nicht.
1
Die Theorie der Collage ist eine Collage.
Soweit, als das Material, das sie benutzt, dem Werkzeugkasten philosophisch-ästhetischen Denken entspringt.
Es geht der Theorie der Collage nicht darum, den vorhandenen Theorien eine neue in sich geschlossene Theorie entgegenzusetzen (das wäre unmöglich und machte auch keinen Sinn, weil geschlossene Theorien ihrem Gegenstand nichts zusetzen aber ihm zusetzen), sondern dass was ihr brauchbar erscheint, zu verwenden. Es geht darum, das in den Theorien sedimentierte Wissen aufzuwirbeln. In der Abfolge der Theorien lösen sich nicht die Wahrheiten ab, sie wechseln die Gestalt.
Die Theorie der Collage ist also eine offene Theorie. Im Moment, da ihr Gang unterbrochen wird, stellt sie sich als ein Ganzes dar, als frozen moment.
Als abgeschlossene Theorie wäre sie (wie jede andere Theorie auch) im Moment ihres vermeintlichen Abschlusses schon historisch. Ist eine Theorie aber historisch geworden, so ist es auch ihr Gegenstand.
Der Inhalt der Theorie der Collage ist somit beweglich, ist der Prozess des Nachdenkens über die Theorie selbst. Insofern ist die Theorie der Collage ihre eigene Theorie.
Dort wo sie Außertheoretischem ähnelt, ist sie Analogie. Sie will ihrem Gegenstand so ähnlich wie möglich sein. Sie will sich selbst so ähnlich wie nötig sein. Widersprüche nimmt sie in Kauf.
Der marxistisch-strukturalistische Anglist Robert Weimann schreibt in seinem (meiner Meinung nach epochalen) Werk „Shakespeare und die Macht der Mimesis“ unter der Überschrift „Zeit und Stoff in der Sinngebung“:
Indem Shakespeare diesen geschlossenen Horizont der Repräsentation einerseits überschreitet, folgt er doch andererseits seinem Vorgänger tief hinein in die geschichtliche Welt von „Verkehr und Arbeit.“ In diesem Sinne darf des reifen Shakespeares dramatische Praxis durchaus als Vollzug jener theoretischen Projektion gesehen werden, die in dem Schlüsselsatz von Lylys Prolog gipfelt: „Time has confounded our mindes, our mindes the matter – die Zeit hat unsern Geist verwirrt, unser Geist den Stoff.“ (158)
2
Die Theorie der Collage ist eine Theorie der Kunst überhaupt. Die Collage, wie sie uns als Kunstform entgegentritt, ist ihr kein zentraler Gegenstand.
Dichtung aber ist kein schweifendes Ersinnen des Beliebigen und kein Verschweben des bloßen Vorstellens und Einbildens in das Unwirkliche. (Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. Die Wahrheit und die Kunst. In: Holzwege. Frankfurt am Main 1950. S. 58.)
Es fällt dem Autoren dieser Thesen schwer, sich positiv auf Martin Heidegger zu beziehen. Alle Haare stellen sich ihm auf, aber wenn es ihm so scheint, als ob Heidegger recht habe, dann könnte es sein, dass Heidegger recht hat. Der Autor aber spürt am Hals das Hanfseil.
Diese Theorie jedoch heißt Theorie der Collage, weil sie collagiert.
Diese Theorie ist Kunst insofern sie selbst Collage ist.
Die Kunst als Ganzes ist ein dynamischer Gegenstand, und nur als dynamische Theorie kann die Theorie der Collage ihm gerecht werden. Insofern schmiegt sie sich mimetisch an ihren Gegenstand. Wenn er sich bewegt/verändert, macht es auch seine Theorie.
2.1
Die Collage als Kunstform ist der Theorie der Collage Gegenstand wie andere Kunstformen auch.
Wenn sich die Theorie der Collage einer Collage zuwendet, fasst sie auch dieses Werk als Moment im dynamischen Kunstganzen auf. Das Ganze ist aber nicht zu überblicken, weil es veränderlich ist.
Die Theorie der Collage ist wie jede Theorie eine zu kleine Bedeckung, was sie abdeckt, gibt sie an andere Stelle frei. (Zumal der Autor in vielen, den meisten Collagen kunsthandwerklichen Schnickschnack sieht.) Allerdings findet er in einigen bedeutenden Kunstwerken das Collagierte recht deutlich hervortreten.
Stellvertretend seien hier Pounds Cantos genannt, auf die noch zurückgekommen werden wird. Stellvertretend heißt nicht, dass sie für Anderes stehen, sondern nur, dass sie eine Leerstelle füllen, die anderes anders füllt. Aber vielleicht ist es so, dass an ihnen eben etwas sichtbar wird, was an anderen Werken im Verborgenen bleibt. Zum Beispiel ihre Brüchigkeit, aber auch ein Zwang, den sie auf ihr Material und sich selber ausüben. Ein Zwang, der den Rezipienten immer wieder in Verlegenheit bringt. Der Gang durch die Cantos ist weiß Gott kein Sonntagsspaziergang, aber man kehrt belehrt heim. Und aufgeklärter als ihr Autor.
Ähnlich geht es einem bei der Brechtlektüre; allein dessen kollektives Verfahren, das Schuften seiner Mitarbeiterinnen für den Chef, legt hier ein Collageprinzip nahe, auch wenn der Herr das Kollektiv im Ergebnis zurücknimmt und die personalisierte Marke als Originalgenie verkauft. Auch hier lässt die Arbeit einen unbeeindruckten Autor zurück. Gut vielleicht für sein Publikum.
2.2
Kunst ist Collage.
Alle Kunst bedient sich vorgefundenem Material und setzt es in ihren je eigenen Kontext. Material kann Stoff sein, oder Struktur. (Ein Sprachkunstwerk erfindet die Sprache nicht, die Malerei nicht die Farben. Aber mit ihrem Auftreten verändern die Werke den Kontext.)
Kunst erinnert sich an sich selbst im gegenwärtigen Zustand.
Die Theorie der Collage ist paradox.
Die Platte muss an der Stelle einen Kratzer haben, denn es macht ein komisches Geräusch. Und da ist etwas, was das Herz zusammenschnürt: nämlich, dass die Melodie überhaupt nicht von dem leichten Krächzen der Nadel auf der Platte berührt wird. Sie ist so weit – so weit dahinter. Auch das verstehe ich: die Platte wird verkratzt und nutzt sich ab, die Sängerin ist vielleicht tot […]. Aber hinter dem Existierenden, das von einer Gegenwart in die nächste fällt, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, hinter diesen Klängen, die von Tag zu Tag zerfallen, zerkratzt werden und in den Tod gleiten, bleibt die Melodie dieselbe, jung und fest, wie ein erbarmungsloser Zeuge.
(Sartre, Jean-Paul: Der Ekel. Rowohlt, Reinbek. S. 196.)
2.2.1
Kunst ist ein ungleichmäßig gekrümmter Spiegel.
Die Metapher ist eine unvollständige Übertragung.
Die Tänzerin tanzt nicht und ist auch keine Frau.
3
Es gibt keinen Realismus.
3.0.1
Die Frage nach dem Sein der Dinge ist keine Frage der Darstellung. Das Dargestellte hat im Werk sein Sein.
Material im Kontext der Kunst ist künstlerisches Material, der Rückschluss auf Außerkünstlerisches ist nicht möglich, außer im Kontext eines Anderen (Theorie, Ideologie, Politik) und lässt das Werk unberührt. Im außerkünstlerischen Kontext wird das Kunstwerk These mit einer formulierbaren Aussage. Diese Aussage aber ist Aussage des Interpreten.
Werke der Kunst sind nur insofern realistisch, als dass sie sich selbst abbilden.
3.1
Alles ist real.
3.2
Eine Theorie erhält sich dadurch am Leben, dass der Moment ihrer Erfüllung versäumt ward, aber alle Theorien bleiben unerfüllt. So auch eine Theorie der Collage. Theorien müssen an der Gesamtdarstellung ihres Gegenstandes scheitern. Gestehen sie dieses Scheitern nicht ein, sind sie totalitär. Soweit er theoretisch erfasst ist, beleuchtet gewissermaßen und formuliert, ist der Gegenstand der Theorie ihr Moment, lässt sich nicht mehr von ihr lösen. Wir sprechen über Gedachtes. Bislang zumindest, und da hilft auch Wittgenstein nichts. Oder gerade da hilft er. Dass es eine Hypothese sei, dass morgen die Sonne aufgehen wird, heißt auch, dass wir immer auf der anderen Seite leben. Auf der Seite des Ausschnitts.
3.2.1
Das Scheitern einer Theorie der Collage ist ihr Gelingen.
Theorien die auf ihre Verwirklichung außerhalb der Theorie zielen, sind keine Theorien, sondern Ideologien oder ideologische Handlungsanweisung. Politik. Theorien sind als Theorie wirklich. Und so auch die Theorie der Collage als eine Theorie Kunst. In ihrer Wirklichkeit ist sie ein Scheitern. Sie erkennt in ihrer momentanen Gestalt das Momentane, insofern ist sie melancholisch; auch weil sie weiß, dass die Bewegung und Veränderlichkeit endlich ist. Da ein Ende aber nicht abzusehen ist, ist die Theorie der Collage auch optimistisch.
Als Kunsttheorie ist die Theorie der Collage Gesellschaftstheorie. Sie endet mit der Kunst, die mit der Gesellschaft endet. Es gibt keine Kunst, ohne Gesellschaft. Es gibt keine Gesellschaft ohne Kunst.
Merke:
Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie XY ergreift.
Kunst ist keine Theorie.
Kunst ist nur wirklich als Kunst.
Und so wird die Theorie vorbereitet:
4
Die Metapher ist eine unvollständige Übertragung.
4.1
Leben ist eine Metapher für Leben.
5
Dies ist ein kunstvoller Text.
6
Die Welt ist alles, was der Fall ist.
6.1
Kunst liegt vor.
6.2
Kunst ist Sichtfeld, ein Ausschnitt der Welt.
7
Teile der Welt sind das Material der Kunst.
7.1
Der Künstler ist Materialistin.
8
Die „Sprache der Kunst“ ist eine Metapher.
9
Das Wort ist eine Druse.
9.1
Das Wort ist Wort und Wort zugleich.
9.2
Eine Farbe ist Wort und Farbe zugleich.
10
Religion ist dem Künstler Material.
11
Kunst ist der Künstlerin Material.
12
Kunst ist Arbeit.
12.1
Arbeit ist Prozess.
12.1.1
Der Prozess erlischt im Produkt. ... Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet.
12.1.2
Was auf Seiten des Künstlers in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts.
12.2
Arbeit ist Protest.
13
Arbeit macht den Künstler.
13.1
Es schert den Künstler nicht, was er ist.
13.2
Es kümmert die Künstlerin, was sie macht.
13.3
Es kümmert den Künstler, was er verwendet.
14
Es kümmert, wie es endet.
14.1
Vollständigkeit ist eine Illusion.
14.2
Das Kunstwerk behauptet seine Vollständigkeit.
15
Die Collage ist das vollständig Unvollständige.