Pierre Chappuis: So weit die Stimme reicht / À portée de la voix
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Timo Brandt
Den Blick erneuern
„Wie eine bewaffnete, versprengte Bande (Stangen, Wimpel, gezaust vom Wind), Trupp aus einem anderen Jahrhundert im Rückzugsgefecht, am Ende der Kräfte“
In der
Welt, durch die sich Pierre Chappuis bewegt, findet alles als Erscheinung
statt, als mit Reizen nicht geizender Quell, der Wasser auf die Mühlräder der
Vorstellungskraft schöpft, in jedem Ding. Aus den einfachen Bewegungen der
Zweige eines Buschwerkes wird eine versprengte Bande, ein Trupp,
jahrhundertealt, am Ende der Kräfte; diese Transformation verweist trotz ihres Imaginationselements
auf die reale, sinnbildliche Kraft, die Naturerscheinungen, denen mir auf
Spaziergängen oder sonst wo regelmäßig begegnen, in sich tragen.
Chappuis
ist ein Meister in der Kunst, diese Erscheinungskraft – die aus dem Begriff der
Natur herausscheint, deren Vielfalt in diesem allgemeinen Begriff aber etwas
untergeht – hervorzubringen und darzustellen. Die Natur – und mancherorts seine
Vorstellungswelten dazu, die emotionale Nahtstelle zwischen erfahrendem Ich und
seiender Natur – bilden dementsprechend das häufigste Sujet der Prosagedichte
in „So weit die Stimme reicht“.
„Obenauf schwimmen in der bewahrten Klarheit, getragen vom Duft der Linden.“
Die
Gedichte tragen Titel wie „Den Blick erneuern“, „Orgel-punkt“ oder: „Gedächtnis
mit getilgter Spanne.“ Manch anderem Dichtenden würde ich vielleicht vorwerfen,
dass er den Texten mit diesen Titeln ein epischeres, glanzvolleres Gewand
zuweisen will, in die alle seine Worte dann gekleidet sind, ganz gleich, ob sie
aus sich heraus etwas zu diesem Glanz beitragen oder ob sie ihn nur tragen.
Bei Chappuis
haben diese Titel aber etwas Sanftes, zumal sie auch eher, umgekehrt, im
Schatten der kurzen, in jedem Satz verschlungenen Gedichte stehen; die
Konzentration der Verse lässt die Titel hinter sich, bildet eine eigene
Intensität heraus, für die es eben keinen Einzelbegriff gibt, sondern für die
es eine lyrische Umspielung braucht.

„Vogelsang zerfiele zu Krümeln, zerschellte er an den Steinen des buckligen Wegs unter Schnee und Reif.“
Vieles
an den Texten erscheint wie bei einem Gelegenheitsgedicht, eine gewisse
Leichtigkeit liegt darin, etwas Flirrendes. Und doch strahlen sie auch Souveränität
aus; eine klare Stimmung und eine feine Gewichtung halten sie zusammen.
„Auf dem frischen Schnee hüpft, frische Frische, die Stimme eines Kindes, das außerhalb meiner Sichtweite geblieben ist.“
Schön,
wie sich das Überbordende hier immer wieder bahnbricht, ohne aber die Zartheit
und Leichtigkeit zu gefährden – den Intervall-Charakter der Texte. Denn
obgleich ihre Intensität etwas Zwingendes hat, sind diese Texte doch
letztendlich sehr flüchtig, was ihnen auch ihren natürlichen Zug verleiht.
Die
Aufmerksamkeit, die ein Gegenstand darin bekommt, die Eindrücke, die sich
daraufhin anhäufen, sie entspringen einer Begegnung, die sofort zu einem
Abschied wird, zu einer Geste der Schönheit, die sich aufrollt und dabei schon
wieder zusammenrollt. Die Schönheit, über sie schreibt Chappuis:
„hält er zu guter letzt (wird er den Verzicht leisten?) allein sie für erhaltungswürdig, gerade dann, wenn sie unauffindbar bleibt.“
„So weit
die Stimme reicht“, das ist, ohne Frage, ein gutes Credo, wenn es ums
Gedichteschreiben geht, und der Band hält dieses Titelversprechen ein. Chappuis
Stimme geht nah an die Dinge heran, versenkend sich darin und schöpft aus ihnen
und zweigt dabei ein Stück ihrer Präsenz, ihrer Erscheinungskraft, für seine
Beschreibungen ab.
So
entstehen fließende Landschafts- und Naturschauspiele, fein aufgetragen oder
besser gesagt: fein eingetragen in die Stimme, die sie abzubilden versucht.
Poetisch portraitieren die Texte unmittelbare Umgebungen – und werden ihnen
immer wieder auf verblüffende Art gerecht. Wie zum Beispiel, wenn Chappuis
einen Fluss beschreibt:
„In stetiger Selbsterneuerung gleitet er dahin, bringt zum Gleiten, Kräuseln, Wirbeln Bändel und Fransen von Licht, das nachlässig, mit allzu lockerer Naht vom wippenden Flug eines Entenpaares vernetzt wird.[…]Ganz der Klarheit zugetan, nimmt er seinen Lauf, scheinbar unangestrengt, mit dem Schweigen vereint, und zieht er, richtungslos und träge, das Laken des Mittags, vom einen zum andern Ufer träge über sich.“
Pierre
Chappuis: So weit die Stimme reicht / À portée de la voix. Gedichte
zweisprachig. Übersetzt von Felix Philipp Ingold. Zürich (Limmat Verlag) 2017.
152 Seiten. 38,00 Euro.