Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen
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Ulrich Schäfer-Newiger
Von der Freiheit des Nutzlosen
Anmerkungen zu Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. Berlin (Suhrkamp) 2020. 352 Seiten. 26,00 Euro.
Der Titel Den Himmel zum Sprechen bringen hört sich selbst an wie ein Versprechen – allerdings aus einer ferneren Vergangenheit. Denn der Begriff ‚Himmel‘ kann als Metapher für was auch immer eigentlich nicht mehr ernst genommen werden; er ist tausendfach verbrannt. Der Titel stammt aber aus dem Jahr 2020 und von einem Autor, der nicht im Verdacht steht, rückwärtsgewandtes Gedankengut unter die Leute zu streuen. Und sein Untertitel lautet: Über Theopoesie. ‚Sprechen‘ und ‚Poesie‘ spielen also offenbar eine Rolle in diesem als Großessay getarnten, zum Teil nur mit erhöhter Geduld durchdringbaren, dann aber wunderbar-seltsame (auch sprachliche) Blüten und Gewächse offenbarenden Gedankendschungel. Und da kann doch vielleicht etwas für die Poesie als solche herausspringen, eine zusätzliche Erkenntnis vielleicht über ihre Ursprünge oder eine geheim-offenkundige Verwandtschaft mit der Theologie, von der wir bisher lieber nichts wissen wollten.
In der Rezension von Nora Gomringers ‚Gottesanbieterin‘ (hier) hieß es zu dem Begriff „Theopoesie“: „Der Begriff „Theopoesie“ ist ein von dem Schweizer Theologen und Lyriker Kurt Marti (1921 – 2017) geprägter Begriff, der damit poetische Reden meint, die eine spezifische religiöse Wahrheitsfähigkeit besitzen. Die protestantische Theologin Dorothee Sölle hat sogar (eine poetologisch interessante Annahme) für alle Lyrik eine genuin religiöse Relevanz postuliert.“
Nun also Peter Sloterdijk. Ausdrücklich geht es ihm darum, seine These von der Dichtungs-natur der Religion (S.276) mit einem ganzen Urwald von Thesen und historischen Belegen zu unterfüttern und ihr damit, angesichts ihres absehbaren Untergangs im Meer der (auch metaphysischen) Bedeutungslosigkeit und pädophil begründeten Verachtung, einen soliden Rettungsring zuzuwerfen.
Schnell wird deutlich, dass dieser Autor das Theater – also eine Kunstform – als prägend für die christliche, bzw. die monotheistischen Religionen ansieht. Am Anfang war ohnehin das Wort. Die Maschine, mit der man im griechischen Theater die Göttererscheinung von oben ermöglichte und technisch erzwang (ein Kran, der über die Szene schwenkt, an dessen Ausleger eine Plattform befestigt war, von der aus der Gott in die Menschenszenerie hinabredete), das sogenannte theologeion, wird dem Autor zur Metapher für alle von Menschen gewollten Herbeizitierung Gottes, für alle Formen der Gotteserscheinung. Sloterdijk nennt das den dramaturgischen Gottesbeweis: Für die Lösung eines dramatischen Knotens wird Gott gebraucht, also gibt es ihn. Das ist der Einstieg in dieses Werk, deren erster Teil eine Art Theologiegeschichte ist.
Eine Form des theologeions ist für den Autor die Schriftlichkeit des Gotteswortes: „Der Unterschied zwischen Gesetzen und Gedichten ist nicht ontologischer, sondern gattungs-theoretischer Natur. Daß sie nicht von getrennten Sternen kommen, zeigt sich darin, dass beide durchwegs vom Zitieren, vom Aufsagen und vom Weitergeben leben.“ (S. 102). Zu dieser Beurteilung kommt der Autor im Zusammenhang mit den von Moses empfangenen, bereits beschrifteten Gesetzestafeln. „Das Feuer und die Worte“, schreibt der Autor an gleicher Stelle, „waren vor Moses da, wenn auch nicht unabhängig von ihm.“
Ist damit nicht ein wesentliches Charakteristikum der Gedichtentstehung formuliert, wie sie mitunter von Dichtern empfunden und beschrieben wird? (Z.B.: „Es schreibt von selbst. Ich halte nur den Stift“, Christine Lavant. Oder Rimbaud: „Ich sage, dass man Seher sein, sich zum Seher machen muss.“)
Sloterdijk ist an dieser Stelle immer noch bei seiner eigentümlich-kurzweiligen Darstellung der Theologie-geschichte, deren Lektüre alleine schon lohnt. Wo sonst stößt man auf das Buch von Denzinger/Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentschei-dungen?* Und zwar von den frühesten Anfängen des Christentums bis zum Jahre 2013. Sloterdjik in seiner typisch bildhaft-spöttischen Sprache: „Wer sich in das Werk vertieft, wird sich darin verlieren wie in einem keltischen Zaubergarten, an dessen Sträuchern bizarre Distinktionen wachsen“ (S.128). An anderer Stelle nennt er es „katholischen Surrealismus im kulminierenden Zustand“. Mit anderen Worten: Eine Fundgrube phantastischer Theopoesie.
Das
Erwachsen nun des Religiösen aus dem Poetischen, will der Autor in
verschiedensten Phänomenen erkennen: Darin, das Unsichtbare sichtbar zu machen,
in Übertreibungen, Superlativen, Fiktionen, Hymnen, Gebeten, Predigten, Evokationen,
im Behaupten von Zusammenhängen, in Einbildungen, in Transzendentierung,
Offenbarung, im Vokabularium (Sterne, Wüsten, Wälder, Meere, Flammen, Bäume,
Wolken, Blitze usw.) und in, wie der Autor sie nennt, „Agenturen“, etwa das
Kalte, das Dunkle, das Blaue. Auch nach ihrem Übergang in abstrakte
Begrifflichkeiten, verläßt die Theopoesie den Bereich des Erfundenen,
Ausgedachten, Übersteigerten zu keiner Zeit, weiß der Autor.
Sloterdijk schreibt
– salopp formuliert – eine Art Religionsphilosophiegeschichte. Ein
Literaturwissenschaftler ist er nicht. Mit einer verbindlichen Definition von
Poesie oder poetischem Denken hält er sich nicht auf. Er betont zu Beginn des zweiten
Teils seines Buches kurz und bündig, dass der Poesie realitätsformende
Wirkungen eigen sind, weil dichtendes Tun vom Ursprung der Sprache in
Welterzeugung eingebunden sei. Sie bilde daher die erste
Architektur der kollektiven Existenz. Worauf er mit diesem – hier sehr
verkürzt dargestellten – Gedankengang hinauswill, offenbart er mit einem Zitat
von Protagoras (der den Menschen zum Maß aller Dinge machte): „Wer nicht an
Recht und Götterfurcht teilhaben mag, den mag man töten als eine Krankheit des
Staates.“ Man kann das Alte Testament durchaus als ausgebreitete, wiederholende
Erzählung von Geschichten verstehen, in denen es genau um die Gottesfurcht als
Machtinstrument geht, vergl. z.B. Jes. 43,21: Dies Volk habe ich mir
zugerichtet; es soll meinen Ruhm erzählen. Auch wenn die Religion
poetischen Ursprungs sein mag, kann daher das Reich des Religiösen nicht
einfach der Belletristik zugeschlagen werden (Sloterdijk). Keine Buchhandlung,
weiß Sloterdijk, wird die Kirchliche Dogmatik bei der schönen Literatur
einordnen (anders als der protestantische Theologe Adolf Harnack bei der
Einrichtung seiner Bibliothek tat, wie der schier alleswissende Autor zu
berichten weiß).
Protagoras
hält er für eine Art Vorläufer der ‚Politischen Theologie‘. Damit erwähnt er
einen Begriff, der im 20. Jahrhundert Berühmtheit erlangte durch Carl Schmitt,
der in seiner gleichnamigen Schrift behauptete: „Alle prägnanten Begriffe der
modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Konstantin der
Große (ca. 280 – 337) hatte als erster den für das Imperium und für seine Macht
tauglichen und nützlichen Charakter der christlichen Religion erkannt, ebenso
wie z.B. viel später auch Luther: Der Bauernaufstand war niederzuschlagen als
Krankheit des Staates (und des Glaubens).
Sloterdijks
Anliegen ist es einmal also, den machterhaltenden religiösen Glauben – Ausflüge
in den jüdischen und islamischen Glauben fehlen nicht - als Poesien des Lobes,
der Übertreibung (Die höchste Leistung christlicher Theopoesie … bestand in
der Umdichtung des Terminus ‚sacramentum‘, von der Bezeichnung des
Fahneneides römischer Soldaten in die Bezeichnung heilsbewirkender ritueller
Handlungen im liturgischen Bereich), als Poesien der Offenbarung, der
Propaganda, der Solidarität (Angebotsunterbreitung für die Hilferufe des
Anderen) und als Poesie der Suche darzustellen.
Sloterdijk will
freilich erkannt haben – und jetzt sind wir beim letzten Kapitel –, dass alle
diese „Poesien“ in der Gegenwart, in der nicht abgeschlossenen Aufklärung,
nicht mehr notwendigerweise von einer Religion angeboten werden müssen. Die
Nachfrage danach erfüllen längst andere, und zwar besser und vielleicht
nachhaltiger; der Berufswechsel vom Priester zum Psychoanalytiker beispielsweise
mache das offenkundig. Der gegenwärtige Mensch, weiß er, behält sich das
Nichtglauben vor. Die Ära der Zeichen und Wunder seien vorüber. Zudem
herrsche Religionspluralismus. Angesichts dessen müsse sich die Religion
auf das beschränken, von dem sie behaupten kann, es sei ihr eigenes. Nach
Abzug aller ihrer säkulär ersetzten und pragmatischen Lebensäußerungen bleibe für
sie ein Bereich zurück, den man vage umfassende Beihilfe zur Auslegung des
Daseins, … Aufhellung des Unverfügbaren, … Domestikation des Unheimlichen nennen
dürfe. Konkreter wird der Autor nicht. Entlastet von sämtlichen sozialen
Funktionen und Zwängen und insoweit nutzlos, stehe es der Religion nunmehr frei,
unabhängig von der Notwendigkeit defensiver Bestandswahrung und identitärer
Verschließung, in eine virtuelle Asozialität auszuziehen. Die
Asozialität in Glaubensdingen sei das unantastbare Privileg der einzelnen und
jeder sei darin zunächst allein. Offensichtlich sieht Sloterdijk darin ein
Betätigungsfeld der von anderen Zwängen frei gewordenen Religionen, klar
ausgesprochen wird das aber nicht.
Wenig konkreter
wird vom Autor eine sogenannte „zweite Freisetzung“ der Religion beschrieben,
derjenigen nämlich, sich ohne alle Zwänge mit der Deutung der Existenz des
Einzelnen, der Domestikation des Zufalls und der Gestaltung der Sterblichkeit
zu beschäftigen. Da trete sie zwar in Konkurrenz mit Philosophie und – hier
horchen wir auf – den Künsten. Letztere existierten „als solche“ sogar erst,
seit sie sich aus der Dienstbarkeit der Kirche emanzipiert hätten (und die
Philosophie, seit sie als Magd der Religion gekündigt habe).
Übriggeblieben,
schreibt er im Zusammenhang mit den ‚Künsten‘, seien von den historischen
Religionen Schriften, Gesten, Klangwelten, die angeblich dem Einzelnen unserer
Tage gelegentlich hülfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die
Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Der Rest sei
Anhänglichkeit und Verlangen nach Teilhabe.
Schließlich
enden diese langen und – um es noch einmal zu betonen – sehr interessanten und
oft überraschenden Ausführungen mit dem lapidaren Hinweis – auf die im Übrigen
bekannte Tatsache – dass schon archaische Kulte Dichtung gewesen seien und Gedichtetes
zu den Göttern gesprochen hätten. Sie lebe also nach dem Abend des sechsten
Schöpfungstages fort.
Im Ergebnis
hat Sloterdijk einen erheblichen Aufwand getrieben, um zu einem dann doch wenig
konkreten Schluss zu gelangen: Die Religion sei wie Kunst und Philosophie
eigentlich „nutzlos“ (für die beiden letzteren hat er das freilich nicht
dargelegt) und gerade darin liege ihre Freiheit und Chance.
Sloterdijks Arbeit könnte als eine
Art Prolegomenon für eine theologisch begründbare und begründete
Gegenwartslyrik (ohne Gott) gelten, wenn er sich ein wenig mehr um das
gekümmert hätte, was denn den Charakter einer Dichtung (einen Begriff, den er vielfach undefiniert gebraucht)
oder eben der Poesie, ausmacht. Das aber leistet er nur für eine Art
Geistesgeschichte der Theologie. Anzurechnen ist ihm, dass er dabei deren
Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit und Korrumpierbarkeit zum Teil
spöttisch-ironisch offenlegt und sie damit zurück auf die Erde holt.
* Freiburg/Basel/Wien, 2017, bei Amazon für € 110,00
erwerbbar. Man kann aber dort auch auszugsweise hineinlesen und den surrealen
Charakter dieser Texte bestätigt finden und sie als Steinbruch für eigene
Phantastereien ausbeuten.