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Ossip Mandelstam: Gedichte

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Timo Brandt

Der gefesselte Sänger mit der Freiheit der Seele


„Die Zeit, wer ihr die Stirn geküsst, die wundgequälte,
er denkt, ein Sohn, noch oft in Zärtlichkeit,
wie sie, die Zeit, sich draußen schlafen legte
im hochgehäuften Weizen, im Getreid.
[…]
Der Lebenshauch, ich weiß, verebbt mit jedem Tage,
ein kleines noch, ein kleines – und
erstorben ist das Lied von Kränkung, Lehm und Plage,
mit Blei versiegeln sie dir diesen Mund.“
[…]
Die Schwelle hier: ich wollt, ich könnt sie lassen.
Wohin? Die Straße – Dunkelheit.
Und, als wärs Salz, so weiß, dort auf dem Pflaster,
liegt mein Gewissen vor mich hingestreut.“

Dies aus einem der bekanntesten Gedichte Ossip Mandelstams, jenem zutiefst menschlichen und zugleich epischen, mit traktatähnlichen Anflügen, welches den Namen „Der erste Januar 1924“ trägt. Es summiert die schrecklichen Umbrüche des Jahrhunderts unter wenigen Zeilenstrichen, behält dabei aber das Ich, jenes atmende und im Physischen verhaftete Wesen, dicht bei sich, will es nicht an diese Dunkelheit, die umkreist und beschrieben wird, veräußert sehen. Körperlich nicht, aber vor allem nicht seelisch – denn der Körper bleibt Gefäß. Aber das Ausgesetztsein des Körpers, des Gefäßes, ist Symptom und Metapher für die Fragilität, für die Gefahren der Seele.

Ich kenne kaum einen Dichter des 20. Jahrhunderts, der so sehr mit dem Thema Seele gerungen hat wie Mandelstam. Mit ihrer Wichtigkeit und dem tiefen Unglück, das sie zu beherrschen scheint. Oder ist es nur die Zeit, die sie zerstört? Sind es nur die Vorstellungen, Ideologien? Ist es nur der Mensch? Woran scheitert diese Idee, dieses Projekt Seele, diese Utopie inmitten der physischen Welt? Gibt es denn die Seele überhaupt – und ist ihre Sprache das Wort, das Gedicht?

„Keine Worte, keinerlei.
Nichts, das es zu lehren gilt.
Sie ist Tier und Dunkelheit,
sie, die Seele, gramgestillt.“

„Das Wort bleibt ungesagt, ich finds nicht wieder.
Die blinde Schwalbe flog ins Schattenheim,
zum Spiel, das sie dort spielten. (Zersägt war ihr Gefieder.)
Tief in der Ohnmacht, nächtlich, singt der Reim.“

Was man hier vor sich hat, ist die Lyrik einer Krisenzeit und eines ihr ganz zugewandten Dichters; eines Dichters, dem nichts näher lag, als sich des Dilemmas, des metaphysischen wie profanen, anzunehmen. Der es anscheinend als seine Aufgabe begriff, mit Worten in diesem Dilemma nach etwas zu fahnden – keinem Trost, aber einer Wahrheit, etwas zum (Be)Greifen, Halten, Verwenden. Einem ambivalenteren Blick auf das Formlose und Dunkle und, ja, vielleicht auch nach Hoffnung.

In jedem Fall: einer tiefen Sehnsucht. Diese Sehnsucht, auszubrechen aus dem Körper, aus den Gegebenheiten. Diese Sehnsucht freier zu sein, als ein Mensch unter Menschen sein kann; und doch könnte gerade diese Freiheit auch andere Menschen befreien – ist das nicht die Hoffnung, die im Gedicht glimmt?

„Der Chor der mitternächtigen Vögel,
durchs Schweigen schwimmend, ungehört.

An mir ist nichts, ich gleich dem Himmel,
ich bin, wie die Natur ist: arm.
So bin ich, frei: wie jene Stimmen
der Mitternacht, des Vogelschwarms.“

Und auch ein Zorn ist da, ein schmaler, in dieser breiten Sehnsucht nur ein Vogelruf von fern, aber immer gegenwärtig. Dieser feine Zorn schliff die Wahrheiten in Mandelstams späteren Gedichten, über Armenien und die Verbrechen Stalins, zu gut, und das bezahlte der Dichter mit dem Leben.

„Schuldlos ist der Tod und keinem,
keinem kann geholfen sein.
Darum glühts, das Herz, in seinem
Nachtigallenschein.“

Diese kleine Auswahl umfasst Gedichte aus den ersten beiden Gedichtbänden „Der Stein“ und „Tristia“ (und einige verstreute Gedichte aus der Zeit danach). Der letzte Titel lehnt sich an jenes gleichnamige Buch von Ovid, das seine Bittbriefe und Gedichte aus dem Exil in Tomis enthält, in denen er immer verzweifelter seiner Hoffnung Ausdruck gab, Augustus könnte sich besänftigt zeigen und er nach Rom zurückkehren, bevor er sterbe. Doch er starb im Exil, unerhört.

Mandelstam lehnte sich nicht grundlos an Ovid an – im chaotischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts war ihm der Status des Verbannten wohlbekannt und in seinen Gedichten schwingt das Unerhörte immer mit. Wie bei anderen russischen (und internationalen) Dichter*innen seiner Zeit, ist das Antike außerdem ein gern genutzter Katalysator; Figuren und mythologische Verweise tauchen regelmäßig auf, manchmal wie ein Accessoire, manchmal als Dreh- und Angelpunkt.

„Ich weiß es, Nacht, ich geh dich wohl
nichts an. Aus ihr, der Weltenschlucht,
geschleudert, eine Muschel, hohl,
lieg ich am Rande deiner Bucht.

Du Unbeteiligte, du rollst
dein Meer, du hörst nichts, singst, singst fort.
Doch sie, die leer und unnütz ist, du sollst
sie lieben, deine Muschel dort.“

Der Band ist aber nicht nur eine Mandelstam-Ausgabe, sondern auch eine Paul Celan-Ausgabe; es wurde allein aus den Übersetzungen geschöpft, die Celan zu Mandelstams Werk angefertigt hat (obwohl im Fischer-Verlag auch die von Ralph Dutli übersetzte und editierte Gesamtausgabe vorliegt). Celan war allerdings der Vorreiter auf dem Gebiet der Mandelstam-Übersetzungen, und der Band enthält auch das von ihm geschriebene Geleitwort zu der ersten Auswahl von Gedichten aus dem Jahr 1959 (die mit diesem kleinen Band weitestgehend identisch sein dürfte).

Celan wurde verschiedentlich für die Übergriffigkeit und Ungenauigkeit seiner Übersetzungen kritisiert; es gab sogar Vorwürfe, dass er bei Übersetzungen die Gedichte zu „Celan-Gedichten“ machen würde. Obgleich ich die Akkuratesse und Genauigkeit seiner Übertragungen nicht beurteilen kann, scheint mir bei den Gedichten Mandelstams zumindest der Vorwurf, es seien aus fremder Quelle geschöpfte Celan-Gedichte, ungerechtfertigt. Auch die Reime wirken oft auf gelungene Weise unprätentiös arrangiert und die Zweischneidigkeit und Tiefe der Verse erscheint mir zumeist erstaunlich klar hervorzutreten.

„Die Städte, die da blühn, sie mögen weiter
bedeutsam tun mit Namen und mit Schall.
Nicht Rom, die Stadt, lebt fort durch Zeit und Zeiten,
es lebt des Menschen Ort – ein Ort im All.“

Der Ort im All, ein Paradies und ein Orkus. Mandelstam, dessen Essays man nur jedem ans Herz legen kann, der sein Verständnis von Poesie auf die eine oder andere Art erweitern will, war ein Sänger, der frei von Schönheit und Schrecken singen wollte, den sein Gesang aber band, fesselte, mitunter fast schon knebelte.
    Das klingt jetzt nach einer Überhöhung, nach einer Heiligsprechung. Es fällt mir aber tatsächlich schwer, in Ossip Mandelstam etwas anderes zu sehen als den bedingungslosen Akteur für das Gute, Schöne und Wahre, gerade weil seine Gedichte vom Schlimmen, von den Fratzen und Vernichtungen in der Welt berichten und nur im Beiklang, in kleinen Gerüchen, in umhüllten Hoffnungsfunken, etwas anderes sagen und ankündigen.

Nicht zuletzt ist Mandelstam ein Dichter, der uns zeigt, wie man weiterdichtet in dunklen Episoden und Epochen: engagiert, dem Dasein – ob schlecht, ob gut – zugewandt, und doch auf höchstem Niveau. Diese Verbindung ist ihm geglückt und sie glückt nur wenigen. Man kann ihn wegen seiner Kraft, aber auch nur wegen seiner Schönheit lesen.

„Wo beginnen?
Alles kracht in den Fugen und schwankt.
Die Luft erzittert vor Vergleichen.
Kein Wort ist besser als das andre,
die Erde dröhnt vor Metaphern
[…]
Der Klang klingt fort, obgleich das, was ihn auslöste dahin ist.
Ein Pferd liegt im Staub, schaumbedeckt, schnaubend,
doch sein jäh gewendeter Hals
bewahrt noch die Erinnerung an den Lauf mit weit
auseinandergeworfenen Beinen:
als ihrer nicht vier waren,
sondern so viele als Steine am Weg lagen“


Ossip Mandelstam: Gedichte. Übers. von Paul Celan. Frankfurt a.M. (Fischer Taschenbibliothek) 2017. 80 Seiten. 12,00 Euro.
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