Oskar Loerke: Der Goethe des westöstlichen Divans
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Oskar Loerke
Der Goethe des westöstlichen Divans
Als das
Schicksal es wollte, mußte Mahomet, der Prophet, fliehen, und von dem Jahre
seiner Hegire aus Mekka nach Medina begannen die Völker, die ihm anhingen, ihre
Zeit zu zählen. Der Erinnerung an diese Flucht entnimmt Goethe, als er sich,
von einem schicksalsgleichen Drange bestimmt, 1814 und dann nochmals 1815 in
die Heimat des Rhein- und Mainlandes aufmacht, ein Gleichnis. Fast ein
Jahrzehnt lang hatte Waffenlärm, aufdringlich in der Nähe, lästig noch aus der
Ferne, ihn gequält. Die Bedrückung durch den Krieg drückte ihn tiefer als die
Niederlagen, die Befreiung vom Kriege machte ihn freier als die Siege. Nun ihn
niemand hinderte und verfolgte, wie mochte er da noch fliehen? Begab er sich
nicht auf eine heitere Hegire mit langen Aufenthalten in Gemäldesammlungen, in
Weingefilden, bei befreundeten und geliebten Menschen? Mit den Füßen brachte er
einen kleinen Raum hinter sich, im Geiste einen gewaltig weiten. Die geistige
Reise hatte ihn an so ferne Ziele zu entführen, daß ihrer Eile und
Entschiedenheit der Name Flucht wohl anstand. Seine Umwelt war runzlig und rissig geworden vor Gram, Sorgen, kurzsichtigen fanatischen
Notgedanken und allzu genügsamen Befriedigungen. Er hatte eine seinen
Instinkten widrige, aber vom Dämon der Staatengeschichte verhängte Politik
abzuschütteln, er hatte sich der Nähe des düsteren, fratzenhaften Wahnsinns zu
entziehen, den er im Geistesleben seiner Zeit an Macht zunehmen sah. Und auch
dem eigenen Altern mußte er entrinnen, das er wahrnahm, weil die Gewalten der
Verjüngung in ihm bereits klar am Werke waren.
So trug ihn
sein Genius freundlich zu den Anfängen, von denen her die Menschen und Dinge
ihre Zeit zählen, wo das Verfälschte noch richtig, das Verworrene noch einfach,
das Müde noch frisch ist. Die seit siebzehn Jahren nicht mehr betretene
Vaterstadt wurde zum Orte, in dem für ihn selbst die Urzeit der Welt anbrach.
Liebe, wie sie ihn auf der Gerbermühle bei Frankfurt an Marianne von Willemer
band, ist immer ein Anfang. Das Licht, das sich im heiteren oder heroischen
Regenbogenbilde über dem Haupte des Wanderers spiegelt, erneuert sich alle
Tage. Die Steine, die der Dichter in den heimischen Gegenden beklopft, erzählen
von der Jugend der Erde. In allen Bäumen, die ihn überdachen, verbirgt und
offenbart sich die Urpflanze. Jeder Fluß enthält das Wesen aller Flüsse: Der
Main darf einmal Euphrat heißen. Im Nahen verwirklicht sich Fernes, im
Gegenwärtigen lebt Vergangenes. Die in Morgennebeln liegenden bunten Mohnfelder
bei Erfurt täuschen Zelte eines Wesires vor. Die Wartburglandschaft, wohin
Goethe einst Herzog Karl August zur Jagd begleitete, duftet wie vor alters.
»Nun die Wälder ewig sprossen, So ermutigt euch mit diesen, Was ihr sonst für
euch genossen, Läßt in andern sich genießen. Niemand wird's uns dann
beschreien, Daß wir's uns alleine gönnen; Nun in allen Lebensreihen
Müsset ihr genießen können.« Oder, wunderbar rein und groß, darf die Geliebte
die Besorgnis vor dem Altern von sich abtun: »Liebt Gott in mir, vor ihm steht
alles ewig.« Was gültig ist, gilt der Idee nach überall und jederzeit.
Die gereifte
Fähigkeit zu dieser wahren und großartigen Perspektive hat einen Hauptanteil an
der Entstehung des »westöstlichen Divans« als eines künstlerischen Grundwerkes
der Menschheit. Wer ihn als ein Spiel der Vermummung nimmt, das Gesicht Hatems
wie eine vorgebundene Larve auf dem Antlitz Goethes und die Locken Suleikas wie
eine Perücke auf den Haaren Mariannes von Willemer sieht, der müßte auch die
»Iphigenie« oder den »Faust« als Maskenspiele nehmen. Der Begriff des Lyrischen
ist gegen frühere Zeitläufte ungeheuer erweitert. Viele einzelne Stücke leben
vom zyklischen Komplex her. Der epische Kern, der sich in aller lebensstarken Lyrik
findet, woher und von wann sie auch stamme, hat gegenüber der früheren
künstlerischen Gepflogenheit eine Ortsverlagerung erfahren. Er ist in den
Divangedichten nicht so nah an der Oberfläche wie in balladenhaften und
sonstigen mehr erzählenden Gebilden, nicht so eingesenkt und verborgen wie in
Liedern, Hymnen und gesungenen Gefühlsbekenntnissen überhaupt. Doch entfaltet
er sich unvermutet stark ins Dramatische, knapp ins Betrachtende, Parabolische,
rasch ins Ironische, Angreiferische, und selbst wenn er zum seligen, klagenden,
schwärmenden Liede wird, so aus einer anderen Erlebnisgegend her als der, von
wo man vordem den Ansatz der Sängerstimme zu hören gewohnt war. Hätte früher
ein Gedichtbuch einen Schutzgeist besessen, zu dem es sich bekannte, den es
anrief, wie dieses seinen großen Schutzgeist in Hafis besitzt, so würde das
Verhältnis des Verfassers zu ihm anders gewesen sein, als es
hier ist: Hafis ist in Goethe eingewandert, Goethe in Hafis; sie strömen, einer
im anderen, unbefangen gleichberechtigte Klänge aus, gleichberechtigte Bilder,
ganze Gestalten und Landschaften. Um Hafis baut sich ein Orient nach
Goethescher Weise auf, und der Perser scheint Goethes Abendland zu kennen und
zu billigen. Wie Goethe in mehrfacher Gestalt durch das Buch zu ziehen scheint,
als deutscher Dichter und als morgenländischer Kaufmann durch viele Lande
unterwegs, als Christ und Muselman, als Schüler der Griechen und Parsen, so ist
Hafis als Sänger, Besungener und Betrachteter vorhanden. »Herrlich ist der
Orient Übers Mittelmeer gedrungen, Und wer Hafis liebt und kennt, Weiß, was
Calderon gesungen.« Wie im »Faust« aus dem Streite des negativen und positiven
Prinzips das All aufschwebt, so entsteht im Divan aus den beiden urtümlich
angeschauten Hälften Abendland und Morgenland die Welt. Das scheinbare
Verhüllen mit Bild und Figur ist in Wirklichkeit ein Demaskieren. Nur ist es
nicht verstattet, die aus gewaltiger Natur aufgestiegene Einheit zu
zersplittern, um sie sich zu eigen zu gewinnen. Der Divan ist nur als »weltöstlicher«
Divan existent, oder er bleibt unsichtbar. Er lebt sein stolzes Wort vor:
»Wer nicht von dreitausend JahrenSich weiß Rechenschaft zu geben.Bleib' im Dunklen unerfahren.Mag von Tag zu Tage leben.«
Er ist eine
Rechenschaft im Hellen. Sein Stolz ist, sich vieltausendjährig zu geben; er
läßt die Überlieferungen des Weisesten, Wirklichen, Echten bestehen, ohne sie
anzutasten und für den Gebrauch täglicher, alltäglicher Zwecke zu verdüstern
und zurechtzuspitzen. Er ist ein Buch der heiteren
Ehrfurcht. Er ändert nicht, was gut ist. Er ist das himmelweite Gewölbe des
Geistes, in dem der Haushalt der Erde noch immer weitergeführt wird und trotz
Irrtum, Kampf und Verfälschung gleichsam dennoch ruht. Er weist den
vulkanischen Geist, der sich des Menschenwesens zu bemächtigen droht, zurück
und preist die neptunische Entfaltung, wie sie alles umfassend, fruchtbar,
folgerecht, notwendig, willkürlos und trotzdem ernst und übermenschlich
besonnen das Leben gründet und dauerhaft erhält.
Wie aber war
die hohe Überzeugung deutlich zu machen, zumal da sie, in Übereinstimmung der
Mittel mit der Absicht, nicht zum mythischen Epos, zum religiösen Drama,
sondern diesmal zu kurzem Lied und Spruche drängte? Eben mit der Durchdringung
der späten Zeit mit früheren, entlegener irdischer Breiten mit gegenwärtigen.
Dann bestätigten sich alle Elemente der Natur und der Seele durch ihre
Identität hier und dort und ließen sich noch in den zufälligen Spielformen
ihrer Erscheinung hüben und drüben entdecken. Dann vertiefte sich der selbstgenügsame
Schein zum lichtabhängigen Abglanz. Nach eigenem Bekenntnis beseitigte Goethe
die Welt, um die Welt an sich zu ziehen.
Die
Nötigung, auf die besondere Weise des Divans das Universum einzuatmen und
auszuatmen, scheint ihm, wenn man flüchtig sein Leben während der
Entstehungsjahre der neuen Gedichtsammlung betrachtet, ganz wider seine Anlage
als ein vulkanischer Überfall gekommen zu sein. Er lernt im Frühjahr 1813 die
Hafisübersetzung von Josef von Hammer-Purgstall kennen, und bald bricht ein Sturm
von Versen in ihm los, zwei, drei und mehr Gedichte an einem Tage, unterwegs
auf der Reise, im Gasthaus, zwischen Gesprächen und anderen
Beschäftigungen. Die Daten sind erhalten, die Orte, an denen er sich gerade
befand, nachweisbar, Anregungen wieder herzustellen, Modelle, wie zum Beispiel
der junge Sohn des Professors Paulus für den Schenken im Saki-Nameh,
wiederzuerkennen. Seine Tagebücher, Briefe und die Abhandlungen und Noten zum
Divan und sonstige Aufzeichnungen nennen weitere Lektüre östlicher Dinge. Aus
den Arbeiten heutiger Gelehrter lassen sie sich bequem zusammenstellen. Er
lernte den Koran und anderes in den »Fundgruben des Orients« kennen, etwa den
Mystiker Ferideddin Attar, übersetzt von Silvestre de Sacy, las die Schriften
von Diez, so dessen Übertragung des »Buches des Kabus«. Er kannte durch
Hartmann Dschamis' »Medschnun und Leila«, durch Hammer den Schirin. Er las, was
Abbé Toderini über die Literatur der Türken berichtete und Klaproth über eine
Reise in den Kaukasus und nach Georgien in den Jahren 1807 und 1808. Er trieb
chinesische Studien und durchdrang sich mit der sufischen Mystik in Philosophie
und Literatur. Er machte sich mit den Schriften des Olearius vertraut, so dem
»Gulistan« von Saadi (1660), dem »Persianischen Rosenthal« von 1654, den
»Collegierten Reisebeschreibungen« von 1696. Die »Voyage en Perse«, die Chardie
1735 veröffentlicht hatte, gab Augenzeugnis hinzu. Doch schon die breite Fülle
der Büchertitel erweist, daß ihm der Orient nicht in vulkanischer, sondern
neptunischer Enthüllung bekannt wurde. Und wenn wir uns weiter auf sein Lernen
und Streben aufmerksam machen lassen, erkennen wir: das Morgenland erwuchs seit
seiner Kindheit mit ihm. Er hatte in ihm die Augen fast zur gleichen Zeit
aufgeschlagen wie in der anderen, nördlichen Heimat. Die Bibel war ihm von früh
auf vertraut. Er hatte sich an einem »Joseph« versucht, »zwo biblische Fragen«
behandelt, den Aufsatz »Israel in der Wüste« geschrieben, das »Hohelied«
übersetzt, den »Mahomet«, die »Parabeln« gedichtet. Herder wies ihn vielfach
unmittelbar gegen Morgen, Friedrich Schlegel belehrte ihn über Sprache und
Weisheit der Inder, er interessierte sich für die »Sakuntala«, er las Ölsners
»Mohamed«, Napoleons Feldzug rückte Ägypten näher, Marco Polo das alte China,
es ist kein Ende. Um den engeren Kreis der Quellen legen sich immer weitere.
Die zwischen Aufgang und Untergang vermittelnden Geister treten hervor, Plato,
Heraklit, Plotinus. Das Verständnis für die Talismane mochten seine antiken
Gemmen und Kameen verstärken, welche er seit seiner italienischen Reise
sammelte und erforschte. Sodann mußte ihm Abgeleitetes dienen, seine Kenntnis
der frühchristlichen Kirchen- und Ketzergeschichten, alte Kirchenlieder, wie
jenes im Divan anklingende »man trägt eins nach den andern hin«,
Sprichwörtersammlungen wie die von Agricola, Gruterus, Lassenius, Schellhorn.
Zu
erschöpfen ist der Zustrom des Divanmateriales kaum. An dem napoleonischen
Wirrwarr interessierte ihn vielleicht die auffällige Parallele zu den
Kriegszügen des Timur am meisten, ja vielleicht interessierten ihn am meisten
die Baschkiren, die, mit den russischen Truppen nach Deutschland verschlagen,
in Weimar einen mohammedanischen Gottesdienst begingen. Aber auch etwa sein
Entzücken an der schönen jungen Kaiserin Maria Ludovika von Österreich ist eine
Divanquelle, wie viele mit seinen gleichzeitigen Briefberichten
übereinstimmende Verse beweisen.
Doch genug
der Namen und Daten. »Wer sich von dreitausend Jahren nicht weiß Rechenschaft
zu geben –!« Die Belege der Rechenschaft sind von den Kommentatoren, Goethe
voran, gesammelt worden, die Rechenschaft selbst in ihrem Gelingen, ihrem
Zauber und ihrer Klarheit bleibt geheimnisvoll. Doch unsere
Augen sind geblendet, wenn sie die Zurüstungen zum Divan plötzlich beisammen
erblicken. Zugerüstet wurde von früh auf das Gesamtwerk Goethes, und in
gewissen Entscheidungsjahren sonderten sich die Sphären nur voneinander, wurden
aber nicht da erst geschaffen. Sie entschwebten der gemeinsamen Natur wie einst
die Planeten der Sonne, und das gleiche Licht blieb ruhend auf ihnen und erzog
die verschiedenartigen Geschöpfe ihres Wachstums. Goethe hatte, ohne daß es ihm
bewußt werden konnte, schon in grüner Jugend auch den Divan begonnen, ebenso
wie er ihn nicht vollendet hatte, als er ihn vorläufig drucken ließ, und selbst
nicht, als er starb. Nur war in den letzten Jahren 1814/15 die überpersönliche
Natur in ihm, die diese Gedichte wollte, mit seiner Persönlichkeit
übereingekommen und kongruent geworden. Da gehörte ihm genau, was bisher anderen
gehört hatte. Sie hatten ihre Arbeit nun auch als die seine geleistet. Das
Wandern der religiösen, philosophischen, poetischen Gedanken hin und her von
Okzident zu Orient und von Orient zu Okzident, durch Jahrhunderte, die
Geschiebe, die Schichtungen, – es hatte sich nun in seinem Geiste vollzogen. In
den tragfähigen Grundgefühlen, in den konstruktiven Hauptgedanken war draußen
und drinnen kein Unterschied mehr. Die Natur seiner Persönlichkeit und die
Natur des zoroastrischen, griechischen, mohammedanischen, christlichen
Kulturkreises deckten sich. Hafis und Goethe waren Brüder, Jesus und Mohammed
waren es, auch Hafis und Hutten, im Kampfe, dieser gegen braune, jener gegen
die blauen Kutten seiner Sekte, und als dritter wiederum Goethe im Kampfe gegen
die »Mönchlein ohne Kapp' und Kutt'«. Auf seiner neuen Hedschra brauchte er
sich physisch nicht weit von der Stelle zu rühren, wie auf der ersten nach
Italien. Damals flog er nach einer Richtung, diesmal in alle
Dimensionen. In seiner eigenen Verjüngung tauchte die Welt verjüngt auf. Sie
ist zu voll und schwer und vielgestaltig, um am leidenschaftlich beflügelten
Worte Genüge zu haben. Genießt sie sich selbst in ihrer Erfrischung, eine
stille ungestörte Schöpfung, so fühlt der Dichter gleichwohl »Frühlingshauch und
Sonnenbrand«. Seine bittere Ungeduld gegen das Verkehrte und Abstruse schweigt
nur. Sie vernachlässigt es, indem sie sich ins Positive der Gestalt wendet. Mit
Lächeln und Güte geht er hier an dem vorüber, was er auch mit unheimlicher
Richterstimme treffen konnte. Als Greis weist er vor Eckermann zornig die
Zumutung zurück, daß er glauben solle, eins sei drei und drei sei eins. Im
Divan schilt er das Kreuz am Halse der Geliebten zwar eine »moderne Narrheit«
und sagt: »mir willst du zum Gotte machen solch ein Jammerbild am Holze«, gibt
aber auch ruhig seine Wahrheit: »Jesus fühlte rein und dachte Nur den Einen
Gott im stillen; Wer ihn selbst zum Gotte machte, Kränkte seinen heil'gen
Willen.« Als Greis 1829 erklärt er hart dem Kanzler v. Müller: »Ich bin nicht
so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste
ist, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk
untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern.« Sein
Amt ist, sich um das Leben zu bekümmern. Seine Politik kehrt sich vom Abnormen
und Extremen. Er bedarf nicht des Weltenspiegels Alexanders, der nur ein paar
stille Völker zeigt, die Alexander mit anderen rütteln möchte; sein
Weltenspiegel zeigt, was er sich eigen sang. Die explosiven Patrioten sind ihm
meist zuwider, und sogar gegen den Freiherrn vom Stein zeigt er sich während
der Divanzeit reizbar. Erst die innere Befreiung kann wahre Freiheit bringen.
Ist ein Volk dumpf, so werden seine lichteren Führer ihm nicht nützen. »Wenn man
auch nach Mekka triebe Christus' Esel, würd' er nicht
Dadurch besser abgericht. Sondern stets ein Esel bliebe.«
Überall
vertreibt er die Verdüsterung und Verqualmung, überall, wo eine Flamme ist,
wartet er ab, bis sie sich vom Rauche reinigt. Die Flamme ist ihm immer ein
Abbild göttlichen Lichtes, als Feuer, Begeisterung, Rausch, Liebe, – die
Flamme, nicht der Sturm, der brandstiftende, auslöschende. Er lebte in einer
»schaureichen« Epoche. Wo soviel zu gleicher Zeit lebendig war, konnte ihm das
Daherbrausen nichts frommen, sondern nur das Erglänzen. Wie leidenschaftlich
sich das westöstliche Weltgebäude in ihm erleuchtete, das ermessen wir
vielleicht an der Mitteilung Mariannes, daß ihm beim Lesen seiner Gedichte
nicht selten die Tränen in die Augen traten.
Was in den
Gedichten steht, drückt sich für alle mögliche Wiederkehr gleichmäßig gültig
aus. Im engen Bezirk scheint es zuweilen nur flüchtige Aufbewahrung eines
Einfalls oder einer Anregung zu sein, im weiteren zeigt es sich allseitig durch
tiefsinnige Beziehungen verknüpft. Goethe übertreibt nicht und überrascht
selten. Er braucht sich nicht zu erregen, wenn er in einer neuen Erfindung eben
ans Ziel langer innerer und äußerer Wege gekommen ist. Die Erfindung ist nicht
erfunden, sie bedeutet sich nur selbst, eins und alles, nicht bloß ein
Zweifaches oder Mehrfaches. Das Einzelne darf ruhiger sein als in Goethes
Jugend, denn es hat jetzt mehr Welt um sich als vormals. Aber wie groß ist das
Alter des Dichters nun, da das Vielhundertjährige und das ewig Jugendliche in
ihm beisammen haust? Aus dem Geiste, der die Fülle hat, besitzt er alle
Lebensalter zugleich. Im Schenkenbuche, dramatisch geteilt, scheint er sowohl
älter wie jünger, als er ist. In den Betrachtungsbüchern hat er, nach den dort
niedergelegten Proben zu schließen, mehr Maximen hinter sich gebracht, als eine
reale Lebenserfahrung zuläßt, und so darf er in die
Verklärung des Paradiesesbuches eintreten. In den Liebesbüchern ist sein Alter
geringer, als die Wirklichkeit es will. Und nur im Buche des Sängers, dem
Reisebuche, besteht volle Übereinstimmung zwischen dem fahrenden Kaufmann aus
Morgenland und dem fahrenden Dichter Goethe. Die Stunden und Augenblicke der
Dichtung zielen nicht in das private Leben zurück, aus denen sie ihren Stoff
nahmen, sondern sie verweben sich dem kunstgewordenen Leben des Werkes.
Dieses hebt
den Gewinn aus den langsamen Zeiten in eine gemeinsame Zeit. Sie zählt nicht
nach Sekunden, sondern nach Pulsen. Dasein ist der geographischen Herkunft
übergeordnet, Wirklichkeit der chronologischen. Darum verwirrt das Vielerlei
nicht. Das Westöstliche ist ein unzerteilbarer Begriff geworden. Außer vielen
Namen des Morgenlandes sind Aurora, Helios, Hesperus, Iris erwähnt, das Schweißtuch
der heiligen Veronika, aber hinter den Namen stehen Dinge, Menschen, Helden und
Götter von heute und immer. Mit dem kalten Geschmacke geprüft, mag die Nennung
der Wesen mit so vielsprachigen Namen bisweilen stillos wirken. Aber der Name
ist Schall und Rauch: »gegraben steht das Wort, du denkst es kaum«. Es ist
schwer, die bildnerische und gefühlsmäßige Einheit eines Gedichtes wie »Laßt
mich weinen! umschränkt von Nacht in unendlicher Wüste« zu verlassen, um
festzustellen, daß seine Vorstellungen aus verschiedenen Richtungen
zusammenstoßen; Wüste, Kamele, Treiber, Armenier, Staub die eine Gruppe,
Achill, Briseis, Xerxes, Alexander die andere. Alles war einmal und ist wieder
mit dem gleichen Verantwortungsgefühl von dem Dichter umfaßt worden, – das eint
es. Die Betrachtung jedes Dinges hat alle Grade von der Nüchternheit bis zum
Überschwang durchlaufen, so wurde es durch und durch zum
Eigentum dieser Betrachtung. Goethe unterscheidet nicht Gegenstände und Ideen
zum lästigen Hausgebrauch, zur festlichen Repräsentation und zum poetischen
Traum. Sind sie nicht in dem einen Bezirke gerecht, so auch nicht in dem
anderen. Seine Einbildungskraft verläßt niemals die Grenzen der Erfahrung, sie
schleppt in der Tat immer die Weltkugel mit sich. Wenn er dichtend des alten
Meeres Muscheln im Stein suchte, so tat er es in denselben Wochen als Geolog
wirklich. Wenn er von der grünen und augerquicklichen Farbe des Smaragds redet,
so liegt sein Wissen darum zugrunde, daß der Smaragd nach alter Überlieferung
Heilkraft für die Augen besitzt (was er auch anderweitig erwähnt). Der
Liebesbote Hudhud, der Wiedehopf, beruht auf dem Vorgange des Hafis. So ist es
überall. Man müßte sein Verfahren übervorsichtig und prosaisch nennen, wenn das
Wunder des Geistes ausbliebe. Es geschieht; und der Bogen zwischen der
praktischen Realität und der platonischen Idee hat nun die weiteste Spannung,
die denkbar ist, und ruht auf den beiden sichersten Pfeilern. So zitiert er
seinen Hafis und andere Vorbilder oft nahezu wörtlich nach den schlechten ihm
handgerechten Übersetzungen, und wenn zwei Dolmetscher sich um die Richtigkeit
streiten, so zitiert er einmal gar beide. »Wer kann gebieten den Vögeln still
zu sein auf der Flur?« Das war einmal Hafis, dann wurde es Hammer, und nun ist
es auch Goethe, ohne daß den andern ihr Eigentum geraubt wurde. Mehr noch:
Marianne von Willemers schöne Beiträge im Divan sind ganz ihr geistiger Besitz,
aber sie sind auch eine Emanation Goethes. Seine geistige Aura hatte sie, die
vorher nur Gelegenheitsreime gemacht hatte, in sich gerissen, sie war gleichsam
magisch geschlagen und mußte zur Antwortdichterin in seinem westöstlichen Tone
werden. In die magische Welt des Divanbuches wird der Leser
durch keinerlei künstlichen Aufwand gezogen. Das Klima der sprachlichen Form
durchläuft alle Jahreszeiten, und aus der Vollständigkeit ergibt sich eine
wunderbare und so geräumige Einfalt, daß die ungeheuren Weltschichten darin
einwachsen und ruhen. Goethe wollte sich nirgends einspinnen. Er bliebe immer
bereit, einen artistischen Scheinkosmos, der nur Stil wäre, zu zerbrechen, wenn
er überhaupt in eine solche Gefahr käme. Es liegt ihm auch nichts daran, andere
einzuspinnen mit einem der Netze, in denen sich das Gemüt des Zuhörers so gern
und leicht fortziehen läßt, sei es dem der Ironie, der Sentimentalität oder des
genialischen Haudegentums. Die Magie atmet aus dem Ganzen her, und nur, wer des
Ganzen gewärtig bleibt, wird vom vollen Atem des Einzelnen bestrichen. Es
mehren sich die Gedichte, die den Hochmütigen durch eine ihm nicht genehme
Schlichtheit und Simplizität vexieren, und es mehren sich die Gedichte, die
durch einmaliges Lesen und Hören nicht zu fassen sind, ohne daß es die Schuld
des Autors wäre; sind sie dann jedoch erfaßt, so leben sie als der einfachste
Ausdruck ihrer selbst weiter, »Selige Sehnsucht«, »Wiederfinden« und ähnliche.
Prosaische, kalte Wörter vervollständigen auch in seiner Sprache den Bestand an
Wirklichkeit. Sie sind nicht von ihrem Orte zu pflücken und nach ihrem
Lexikonwerte zu wägen. Aus den Wörtern als Wörtern soll gar nicht Gefühl
rinnen, sondern Empfindung von Zeiten und Räumen, Farbabständen,
Festigkeitsunterschieden. Dabei geschieht es wohl, daß die Sprache sich aller
Rücksicht auf das Normale entäußert. Sie ist manchmal gepreßt, manchmal gelassen,
alt und jung, wie der Autor und seine Welt, nicht nachlässig, aber schöpferisch
zulässig. Sie ist unschuldig, weder asketisch-fanatisch noch übermütig. Goethe
übersetzt nicht aus dem Persischen und nicht ins Schriftdeutsche,
sondern er spricht, wie aus vielen Reimen erkennbar wird, sich selbst: den
süddeutschen Frankfurter. Dergleichen Reime sind in dem über den Dialekten
schwebenden Normaldeutsch unrein, süddeutsch gehört jedoch rein. Am Klargefühl
der Persönlichkeit nimmt alles teil.
Unsere
Empfindung der formalen Geschlossenheit ist so groß, daß wir sie nur mit
Anstrengung uns gesprengt vorstellen können. Wir tun es einen Augenblick lang,
um ihre mannigfaltigen Elemente gewahr zu werden. Was drängt sich dann alles
nebeneinander! Wir finden Fremdwörter wie: Insulte, Grammatik, rhetorisch,
deklinieren, konversieren; wir finden ein dem Englischen des Shakespeare
nachgebildetes Wort »bewhelmen«, das etwa »überwölbend bedecken« ausdrückt,
oder ein anderes anglisierend nachmalendes Wort »Kriegestunder«. Wir sehen
Goethe in ältere Zeiten, in entlegene Landschaften der Sprache zurückschweifen.
Er sagt »kütten« für »kitten«, er spricht von der »Sehe« des Auges, er braucht
die mittelhochdeutsche Form »betriegen« für »betrügen«, die freilich bis zum
Ende des vorigen Jahrhunderts vielfach verwandt wurde. Sodann bringt er
Neubildungen wie »Schlechtnis« und »liebeviel«. Fachausdrucke aus
Sondergebieten des Lebens siedelt er in seiner Dichtung an, wenn sie ihm Farbe,
Kürze, Schärfe zu bieten haben. Statt »o du mein Lichtbringer!« sagt er »o du
mein Phosphor!«, der Kartenspielerausdruck »passen« kommt ihm einmal für
»verzichten« gelegen. Der durch und durch schauende Gestalter, vor dem der Keim
des Wortes offen zutage liegt, so daß es vor ihm noch einmal alle Stadien durchläuft
bis zur Gegenwart, einer Gegenwart in sinnlicher Jugend und Frische, zeigt sich
in Bildungen wie »umgelost«, »Händeln« für Händel haben und ausfechten,
»bedünkeln« zu Dünkel, »musterhaft« in der Bedeutung von »beispielhaft«. Er streift die abstrahierende Selbstvergeßlichkeit der Sprache ab,
wenn er statt Geruch und Geschmack »Ruch« und »Schmack« setzt. Umgekehrt läßt
er das Lautbild sich nicht nur von innen beschauen, sondern auch nach außen
treiben und quellen: die Geliebte wird angeredet »Allschöngewachsene,
Allschmeichelhafte, Allspielende, Allmannigfaltige«. Doch die ungewaltsame
Naturgewalt der Rede offenbart sich erst dann, wenn man sie nicht
einsiedlerisch – und dann vielleicht zuweilen wunderlich, selbstbewahrend,
artistenstolz – der Pflege des Einzelnen zugekehrt denkt, sondern wenn man sie
als Rede nimmt. Dann öffnet sie alle Dimensionen des Geistes im farbigen
Abglanz der Sinne. Fern davon, bloß Gedanken, Gefühle, Bewegungen mitzuteilen,
gibt sie dem Auge, dem Ohre, im raschen prägnanten Zugriff dem Getast und auch
den schwerer vom Bewußtsein zu kontrollierenden, willkürlicher reagierenden
Sinnen ihr Fest. Darf man die Ausdrucksweise vieler anderer Dichter, nach einer
Grundformel suchend, als die Weise von Geistes- oder Augen- oder Ohrenmenschen
bezeichnen, so ist das bei Goethe und sonderlich bei dem Goethe des
westöstlichen Divans nicht möglich. Seine Rede spiegelt die Form seiner
Persönlichkeit und zugleich die Form einer dreitausendjährigen Welt. Während er
spricht, sprechen alte Kulturen mit ihm, wie sie ihn gebildet, sich in ihm
gemischt und geklärt haben. Natürlich ist hier das Gegenteil eines Vermittelns
von Kultur inhalten gemeint: sonst würde ja nach ihrem Maße das durchaus
Selbständige und Einmalige der Persönlichkeit verdrängt und aufgehoben sein.
Auch sprachlich genommen, ist ein Griechenland, ein Morgenland, ein Welschland
und Deutschland, das es nicht gab und gibt, durch Goethe dennoch da. Zu Sulpiz
Boisserée äußerte er am 3. August 1815: »Alles ist Metamorphose im Leben, bei
den Pflanzen und bei den Tieren, bis zum Menschen, und bei
diesem auch.« Ein anderes Mal bekennt er, aus den Formeln, die seit
Jahrtausenden das Tiefste in den Menschengeschlechtern sind und Zauberkraft
über Kulturen und Einzelne ausgeübt haben, könne man eine Art Alphabet des
Weltgeistes zusammensetzen. Mit diesem Alphabet schreibt er. Seine Buchstaben
sind das, was die Metamorphose bewirkt. Aber damit nun das Gedicht nicht »für
lauter rationellem und spirituellem Gas« wie ein Luftballon in die Lüfte gehe,
ist es seiner Sprache erlaubt und erwünscht, zufällige Realitäten der östlichen
oder westlichen Überlieferung oder des eigenen privaten Erlebnisses zu
benutzen, und sie muß deshalb trotzdem nicht aufhören, Idiom des Weltgeistes zu
bleiben, – auch im Technischen der Verse, im Syntaktischen der Sätze. Ganz
individuelle Schroffheiten des alternden Goethe prägen seine Statur und sind
zugleich vielleicht auch eine typische Denkbewegung toter fremder Völker. Es
ist nicht bloß eine lässige Manier, wenn er des öfteren das Ich und das Du
ausläßt – »bin erbötig«, »wenn bewunderst«. Ebensowenig ist es Absicht oder gar
Tiefsinn. »Die Seel' zur Seele fliehend«, – das ist ein fertiger Satz; »dem ihr
sonst Schlafendem vorüberzogt«, – »jetzo glänz' ich meiner Stelle« – es findet
sich ein, es wurde nur als Geist gerufen, aber auch nicht, als es im Wort
erschien, erschrocken abgewiesen. Dergleichen Schroffes rüttelt uns, macht uns
aufmerksam und läßt uns fragen: von wannen kam es? Doch auch das Liebliche und
Stille zwingt gewiß oft genug geheimnisvoll und unnachweisbar viele typische
Formen menschlichen Anschauens zum Klang, während es nur höchst persönliches
Glück, höchst persönliche Not scheint. Manches ist leicht zu fassen in seinem
doppelten, dreifachen oder vielfachen Hall. »Wenn der Hörer ein Schiefohr ist«
– das ist orientalische Prägung, zeitgenössische Polemik, Goethes freundliche Wärme vor jeder Erscheinung! etwas Salziges,
Bitteres und Süßes ist in der Zeile gleichsam zur Einheit geworden. Reiche
Reimklänge wie »überall an – Schall an, Lauf stört – aufhört, Erzklang – Herz
bang« oder »Kaum daß ich dich wieder habe. Dich mit Kuß und Liedern habe« sind
mindestens eine Vierheit: morgenländischer Geist, morgenländischer Klang,
deutscher Geist, deutscher Klang. Bei den dichterischen Nachfolgern Goethes
wurde das dann als Nachahmung gewöhnlich einfach: Kenntnis und Verwertung der
Kenntnis; Rückert, Platen, im Witzigen Heine. In Goethe tun sich die Kulturen
auf, ohne daß man ihn Hand anlegen sieht, sie bleiben Gesicht, Gehör, Eigenenergie.
Bei den anderen ist das Handanlegen das erste, ein kritisches Auge fällt auf
sie, ein fremdes Ohr verhört sie. Sie können dabei richtiger und spezieller
gepackt werden, denn sie sind geistige Provinzen nur in einem Menschen, nicht
mehr in einem Kosmos. Uns überläuft oft ein Schauer, wenn wir Verse Goethes
nach ihren verschiedenen Heimatländern antwortlos befragen. »Ein Ast, der
schaukelnd wallet« – «Die Perlen (der Tränen) wollen sich gestalten. Denn jede
nahm sein Bildnis auf« – »Fingerab in Wasserklüfte« – »Wenn nun Bassora noch
das Letzte, Gewürz und Weihrauch beigetan« –. Es soll kein Versuch unternommen
werden, hellenische Klarheit, patriarchalische Stärke und mystische Ruhe der
Juden, Araber, Perser, romantischen Drang der Westvölker in dergleichen
Akkorden aufzuspüren, denn die dem allen wahlverwandte Natur Goethes wirkt ja
gerade aus ihrer eigenen Mitte heraus. Nur darauf sei wieder und wieder
hingewiesen, daß seine Phantasie viel breiter und tiefer in die Wirklichkeit
reicht und sich aus Wirklichkeiten regt, als aus seinen Worten zu entnehmen
nötig und ratsam ist. Wer, selber wirklichkeitsarm und der Lebenstyrannei eines nur geistreichen Willens unterstellt, dies vergißt,
stutzt vor Dunkelheiten und Kompliziertheiten im Werke Goethes, die in Wahrheit
meist nicht dichter und verfänglicher an den verrufenen Stellen sind als an den
lichten und gangbaren. »Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen
Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr' in Erdesprachen Und sich nicht den Kopf zerbrachen.«
(1929)