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Oliver Völker: Langsame Katastrophen

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Jürgen Brôcan

Oliver Völker: Langsame Katastrophen. Eine Poetik der Erdgeschichte. Göttingen (Wallstein Verlag) 2021. 320 S., 32,90 Euro.

Die sehr kurze Zeit des Menschen


Ein wichtiges Charakteristikum des Essays ist, daß er in stilistischer Brillanz unerwartete, ungewöhnliche Verbindungen zwischen entlegenen Vorstellungs- und Wissensbereichen zieht, die eine plötzliche Erkenntnis aufflammen lassen; doch gibt es natürlich auch in der meist etwas trockenen Gelehrtenprosa immer wieder herausragende Beispiele solcher anregender, sprachlich süffisant dargebotener Verknüpfungskunst. Oliver Völkers »Poetik der Erdgeschichte« punktet leider nur in der einen Kategorie, denn sie kann den lästigen akademischen Präsentiergestus inklusive eines zuweilen ›wackeligen‹ Stils nicht immer souverän abschütteln. Wer sich davon nicht abschrecken läßt, bekommt allerdings eine Fülle bedeutender Informationen und Überlegungen geboten.

Völkers These besagt, zusammengerafft, daß die allmähliche Entdeckung einer erdgeschichtlichen Zeit und langfristiger klimatischer Veränderungen diverse Auswirkungen auf die erzählerischen bzw. poetischen Formen hatte; solche Phänomene fänden »eine strukturelle Entsprechung in der zeitlichen Organisation literarischer Darstellungsverfahren, denen eine nicht-lineare Temporalität zu eigen ist und die die Erzählung verräumlichen: Verzögerungen, digressive Verästelungen, Stauungen, die Suspension der narrativen Fließgeschwindigkeit«. Der Blick auf »globale, nicht-menschliche und heterogene Prozesse der Natur« unterbrächen die Struktur; in der Folge zeigten sich demnach: »Ausufernde Beschreibungen, nicht endende Auflistungen und enzyklopädisch anmutende Erzählformen«.

Doch ehe Völker dies in extenso an Adalbert Stifters »Nachsommer« exemplifiziert, bringt er George Gordon Lord Byrons Unterwelt-Drama »Cain« mit Georges Cuviers Theorie des erdgeschichtlichen Katastrophismus und »Childe Harold’s Pilgrimage« mit den Beschreibungen in Charles Lyells »Principles of Geology« in Verbindung, was nebenher beweist, daß der englische Romantiker die allerneusten wissenschaft-lichen Ideen rezipiert hat und in sein Werk einfließen ließ; so wie Stifter später dann mit zahllosen anderen Wissensgebieten verfahren sollte. Die Erkenntnisse über erdgeschichtliche Ent-wicklungen waren aber auch – wenig überraschend – konstitutiv für den »Heinrich von Ofterdingen« des Novalis und für Honoré de Balzacs ersten großen Roman »Le Peau de chagrin« (Das Chagrinleder), worin der Zeit auf phantastische Weise durch ein vielstöckiges Gebäude von verschachtelter Architektur, angefüllt mit allerlei angestauten Dingen, eine räumliche Dimension verliehen wird.

Stifters »Nachsommer« ist sogar bewußt gegen die Erwartungshaltung des damaligen Publikums geschrieben; der Mensch mit seinen Beziehungen und Gefühlen steht nicht mehr im Mittelpunkt, das »langsame, verzögerte Erzähltempo« richtet sich gegen die Beschleunigung der Moderne, und in der »Vielzahl der deskriptiven Passagen gleicht« es sich »mimetisch an jene weiten und leeren Zeiträume der Geologie an, die den Gegenstand von Heinrich Drendorfs Erstaunen und Befremden bilden«. Doch betrifft das Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht allein die narrative Gestalt, auch die Sprache des Romans selbst läßt sich »auf dessen ästhetische Erscheinungsform beziehen: auf die konkrete Beschaffenheit von Schrift, Typographie und Interpunktion«.

Letztes trifft noch in viel größerem Maß auf Alfred Döblins Roman »Berge Meere und Giganten« aus dem Jahr 1924 zu, der »durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten und Darstellungsformen der Naturwissenschaften geprägt ist«. Auch hier wird die Erzählzeit mittels extensiver Beschreibungen derart verlangsamt, daß sie keinen Maßstab für die erzählte Zeit beanspruchen kann. Stifter war um die Repräsentanz globaler geologischer Formationen im Kleinen bemüht, Döblin dagegen weitet die Zeit und den Raum bis hinein in die fernere Zukunft und macht natürliche Prozesse zu Protagonisten. Dabei wird die »Schöpfung im Material der Sprache wiederholt«, wie Völker betont.

Als langsame, sowohl das Anthropozoikum als auch die individuelle Lebzeit überschreitende Katastrophe wird die Welt in Max Frischs »Der Mensch erscheint im Holozän« gedeutet. Völker zeigt, daß es sich nicht primär um die Darstellung eines zunehmend verunsicherten Bewußtseins handelt, sondern daß verschiedene formale Mittel der Verlangsamung wie z.B. Montagen dazu genutzt werden, um den »Eindruck einer allmählichen zeitlichen Entwicklung oder streng sequentiellen Ordnung« zu unterlaufen mit dem Ziel, die Gleichzeitigkeit und Überlagerung geologischer und klimatischer Prozesse durch die Textgestalt zu thematisieren. Völker richtet seinen Fokus, wie auch bei den anderen behandelten Werken, auf die Darstellungsform, die literarische Umsetzung von Fragestellungen und Erkenntnissen, die ›inhaltliche‹ Seite kommt dabei manchmal ein wenig zu kurz.

Überraschend – doch nur auf den ersten Blick – sind die sich anschließenden Untersuchungen zu Don DeLillos Romanen »Underworld« und »Omega Point«. Völker vermittelt auf knappem Raum, wie hochkomplex die Motive v.a. des erstgenannten miteinander verknüpft sind. Die scheinbar tote Materie der Zivilisationsabfälle verfügt über »ein unheimliches Eigenleben, erscheint als ein heterogenes, chthonisch-chaotisches Material, das in seiner hypertrophen Fülle die Tendenz besitzt, sich ungeachtet aller Ordnungsversuche zu verselbständigen«. Auch hier steht im Mittelpunkt das Problem der Darstellbarkeit von Phänomenen, die die Rolle von Protagonisten annehmen und über die Erfaßbarkeit im Rahmen einer Lebzeit hinausreichen. Geo- und Zivilisationsgeschichte agieren unter veränderten Vorzeichen, gemeinsam ist ihnen nach wie vor die ungeheure Langsamkeit, auf die Völkers Titel referiert.

Im Hinblick auf die Wirkung naturwissenschaftlicher – und in diesem Fall speziell geologischer – Erkenntnisse auf die Literatur hat Oliver Völker ein hochinteressantes Kapitel aufgeschlagen. Zwar mag, wie Dieter Wuttke vor einigen Jahren beklagt hatte (»Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste«, 2003), die gegenseitige Befruchtung von Kunst und Wissenschaft noch vielfach eingleisig verlaufen, doch für die Literatur haben sich daraus »heterogene, extrem digressive und enzyklopädische Erzählverfahren« entwickelt, die Völker in ihrer Offenheit am Ende mit dem Konzept des antiken Epos in Verbindung bringt. Solche Querlinien sind bemer-kenswert, deshalb ist bedauerlich, daß einzelne Abschnitte zuweilen unnötig redundant das Gesamtbild aus dem Blick verlieren. Was besagen will, daß weitere Beispiele und überblickshafte Resümees dem Lesepublikum eher entgegenkämen als die Auseinandersetzung mit der Sekundär-literatur. Natürlich ist Vollständigkeit nirgends möglich, vielleicht nicht einmal erstrebenswert, doch fehlt am Ende eine Übersicht, die das untersuchte Textkorpus explizit in die Literarhistorie  einfügte. Im Detail ist Oliver Völkers Forschung dennoch allemal  verblüffend und wichtig, da fach- und sprachübergreifend.


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