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Norbert Hummelt: Sonnengesang

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Timo Brandt

Norbert Hummelt: Sonnengesang. Gedichte. München (Luchterhand Literaturverlag) 2020. 96 Seiten. 20,00 Euro.

Unwiederbringliches, das Unveränderliche


„u. das rauschen kam von außen

kam von sehr weit her. u. es kam zu mir – es
hat mich angerauscht – sieh her – sonst war
ich nichts u. stand bis auf das rauschen leer –

rausch weiter, bleib, verlaß mich nicht! jetzt
bin ich voll von dir u. von dem rauschen schwer
u. weiß mein leben ohne rausch nicht mehr.“

Warum zur Sonne singen? Damit sie scheint? Oder singt die Sonne selbst, ganz gleich ob sie steht oder sinkt; erzählt von einem Lied, das in allen Dingen liegt, hervorgehoben im Licht? Bewegt sich das Licht als Lied durch die Dinge? Liegen die Dinge im Lied, sind sie Töne, Harmonien, Strophen, Motive, weil sie im Licht sich darbieten?

Norbert Hummelts mittlerweile neunter Gedichtband hat nicht nur einen leuchtenden Titel und auch ein ebensolches Cover, er ist in vielen Abschnitten lichtdurchflutet. Oder anders gesagt: alles darin wirkt belichtet, scheint hervor und wider, blendet, glänzt. Sogar das weiße Papier, so könnte es einem/r erscheinen, ist ein einziges Leuchten, das durch die Zweige der Zeilen fällt.

Begleitet wird dieses stete Hellsein – abgesehen von den Schattenrändern – nicht nur vom thronenden Himmelskörper, sondern auch, zuhauf, von Vögeln.   

„ob einer unter uns ihn nun zuerst oder wir alle
ihn zugleich gesehen hatten – der adler nahm

uns unter seinen schatten. in seinem gleiten
hielt er kurz die mitte zwischen der sonne u. uns.

den schatten, den er lautlos niederschickte, war
uns das zeichen einer seltenen gunst, die uns

der adler auf dem weg erwies – wir hatten eben
den paß überschritten u. weil die sonne schon

im mittag stand, mußten wir unsere augen schützen
u. wir sahen ihn unter der hand.“

Der Adler ist nur einer von vielen, die, anwesend, abwesend, in den Gedichten Dreh- und Angelpunkte bilden, die haltenden Fäden in den Maschen der Zeilen sind. Noch weiter gehen könnte man: Schwebendes ist es, das die Gedichte im Kern bewegt, flüchtig und frei, klein und bedeutungsschwer, fliehendes und wiederkehrendes Symbol für die Unvereinbarkeit des Glücks mit der Erdgebundenheit, der Schwere, und über allem, selbst dem, das den Grund hinter sich lassen kann, die Sonne. Die oberste Instanz, die einzige Fassung für alles.

„ich wußte gar nicht, daß es den flieder noch gibt.
er stand da u. blühte, als sei nichts geschehen, über
den zaun, die zäune, schäumte er u. überschäumte,
als ich den weg bei den gärten ging. er stand da in
allen möglichen farben, weißer flieder u. violetter,
blauer sogar, als wär das überhaupt kein ding. wo war
er denn nur so lange gewesen. ich wußte ja nicht mal,
daß es ihn gibt, gab, gegeben hatte. flieder kam noch
in gedichten vor oder in der erinnerung. da fiel mir
ein, daß man am flieder riechen konnte, u. so langte
ich einmal über den zaun u. zog einen zweig mir tief
ins gesicht.“

Der Flieder, plötzlich da, plötzlich erkannt und bekannt, ein Bild für das Unveränderliche und doch auch für das Spendende, das nimmt, weil es einen mit allem konfrontiert, das man vergaß und versäumte – wo ist Anfang und Ende, was Haben und Sein, wenn sich alles auflöst im Moment, um Erinnerung zu werden, Bild, Idee?

Hummelts Gedichte legen wieder und wieder den Finger auf Ereignisse, Augenblicke der Begegnung und Erfahrung, die in sich selbst Schwebendes haben, das vielleicht schon fällt oder schon abhebt, oder alles zugleich, uneinholbar, unerreichbar.

Während in den ersten beiden Kapiteln die Gedichte noch so hell, konkret und gleichsam ohne Verortungen sind, dass sie wie auf Hochglanz polierte Fotografien wirken, sehr gut dem Moment abgerungen, eindrücklich, aber ohne eine Geschichte zu erzählen, sind im dritten Kapitel vor allem Liebesgedichte versammelt, in und zwischen denen sich eine Geschichte entspinnt – oder sollte man lieber sagen: Beziehungsgedichte?

„darf einer wissen, was der andere denkt? es ist
ein regenfeuchter letzter tag im jahr, u. draußen
schießen sie sich schon mal ein. wir haben uns
u. noch den roten wein. im kühlschrank sind die
auberginen mit walnußpaste u. den apfelkernen.
wir schweigen lange, aber alles spricht. in deinem
angesicht die lieben muttermale; wir sind uns
zugefallen aus den weiten fernen.“

Im Gegensatz zu den Gedichten aus den ersten Kapiteln, die bei aller Eindrücklichkeit und Kunstfertigkeit, bei aller Leichtigkeit sehr glatt wirken, riskieren diese Gedichte im dritten (und längsten) Teil immer wieder einiges und sei es nur in Formulierungen wie „wir schweigen lange, aber alles spricht“.

In ihnen mischt sich das Archaische der sonstigen Poetik mit dem Unbeholfenen, dem Nervösen, mit dem Blick, der nicht nach oben geht, sondern in das Gesicht des anderen und auf die Schatten, die Verwerfungen jenseits der Lichter; die Erdgebundenheit ringt mit der Erinnerung an/der Hoffnung auf einen Laut, der wie ein Flügelschlag klang, klingt, klingen soll. Dieser dritte Teil strahlt auch am meisten ab: auf das Du in anderen Kapiteln, das mal verletzende, mal schützende Eigenschaften hat und ein widersprüchlicher Bezugspunkt bleibt; auf all die Versuche gewahr zu werden, zu bewahren und doch zu gestalten, um den Moment und seine Erkenntnis hervorzuheben, zu bedauern.

Hummelt arbeitet viel mit Binnenreimen, seine Gedichte scheinen zu kreisen, in sich, um sich, knüpfen fortlaufend an sich selbst an. Manchmal wirkt diese Konstruktion wie ein zu großer Halt, etwas zu souverän, zu elastisch, dann aber auch wieder elegant, zwingend und stilsicher.

Das vierte Kapitel, mit Gedichten, die vor allem Terrain der Kindheit abwandern, ist noch mitunter sehr stark, aber danach kehrt der Band zu der Glätte der Anfangstexte zurück, nur das sie diesmal eher beschaulich sind, entrückt wirken, geradezu mythologisch, aber ohne viel Faszination. Es findet sich noch manch einleuchtende Betrachtung, aber die tieferen Einsichten, das Huschen der Schatten vor hellen Bildern bleibt oft aus.

Hummelt glänzt bei der Unabänderlichkeit, aber wirklich berührt haben mich die Gedichte, die noch mit ihr ringen, nicht nur ihre Anschauung arrangieren, darüber parlieren. Da fehlt der Drang, wenn auch nicht der Wunsch, aber der ist, allein, nur Überhang, nur Fassadenschmuck.

„so öde stimmen tönen aus dem funk nun
hat unweigerlich der neue tag begonnen

mein herz klopft wieder ohne jeden grund
u. draußen scheinen unbestellte sonnen u.

jeder hat nur diesen einen tag so öde stimmen
tönen aus dem funk da bin ich fort von mir

u. in den park u. eine amsel nahm mich kurz
gefangen hüpft vor mir her nur mit dem einen

sinn daß ich vom wege abgekommen bin ..“


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