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NIkolai Vogel: Vielzweckbuch

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Jan Kuhlbrodt

Nikolai Vogel: Vielzweckbuch. Langgedicht. Herford (edition offenes feld) 2021. 200 Seiten. 20,00 Euro.

Permutationen
Zu Nikolai Vogels Vielzweckbuch


Vogels neuer Gedichtband erinnert mich etwas an den Mathematikunterricht in der Abiturstufe. Es war die Zeit, da das Fach nach langem Warten doch noch den Turn schaffte. Es machte mir plötzlich Spaß, was nicht nur an der großartigen Mathelehrerin lag, sondern eben auch am Stoff. Wir hatten das Rechnen hinter uns gelassen, und flogen.              
    Ein Gebiet, das wir zu beackern hatten, nannte sich Kombinatorik und beschäftigte sich, soweit ich mich erinnere, mit Reihen und Folgen. Lineare Algebra. Schon das Wort hatte etwas Zauberisches.

Nikolai Vogel legt nun in der edition offenes feld einen Gedichtband vor, der den Titel Vielzweckbuch trägt. Der Band hat keine Seitenzahlen, und auch die Anzahl der enthaltenen Gedichte lässt sich nicht endgültig bestimmen. Nicht endgültig heißt aber nicht: Nicht. Es sind eine Vielzahl von Bestimmungen möglich. Kombination von n Elementen zur k-ten Klasse. Das war der Zauberspruch, der die Mathematik zum Klingen brachte.

Wikipedia beschreibt unter dem Stichwort Permutation das Verfahren wie folgt:

„Unter einer Permutation (von lateinisch permutare‚vertauschen‘) versteht man in der Kombinatorik eine Anordnung von Objekten in einer bestimmten Reihenfolge. Je nachdem, ob manche Objekte mehrfach auftreten dürfen oder nicht, spricht man von einer Permutation mit Wiederholung oder einer Permutation ohne Wiederholung. Die Anzahl der Permutationen ohne Wiederholung ergibt sich als Fakultät, während die Anzahl der Permutationen mit Wiederholung über Multinominalkoeffizienten angegeben wird.“

Überträgt man das auf die Lyrik entsteht eben ein kombinatorisches Spiel, das dem Leser ermöglicht, durch Veränderungen im Leseverhalten, zum Beispiel, durch die Verschiebung der Leserichtung, aus den vorgegebenen Kurzversen dichterische Aussagen zu generieren. Aktive Rezeption, wenn man so will, und man muss sich darauf einlassen. Wenn man es tut, macht es einen Riesenspaß.

Neugier Umgebung/ So vieles in Sicht
Nah und entfernt/ Bleiben wie lange
Nur ein Leben/ Gegenwart jetzt

oder:

Neugier Umgebung
Nah und entfernt
Nur ein Leben

oder:

So vieles in Sicht
Bleiben wie lange
Gegenwart jetzt

Dieses Beispiel ist dem Zufall geschuldet. Ich habe das Buch an einer beliebigen Stelle geöffnet. Ungefähr in der Mitte. Aber es funktioniert so gut wie immer, dass die Verse sich ordnen.

Jede Seite des Buches enthält jeweils sechs Verse. Die Verse sich recht allgemein gehalten, sozusagen abstrakt, erhalten aber, wenn sie sich gegenseitig beleuchten, Substanz. Eine Substanz, die zum Teil in ihnen selbst liegt, aber auch in der Projektion eines Lesers. Dabei aber ergibt sich keine Beliebigkeit. Die Substanz erscheint, sozusagen, an jeder Stelle substanziell, zuweilen geradezu existenziell.


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