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Niklas L. Niskate: Privatnachrichten an Lem

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Dirk Uwe Hansen

Lesen lernen mit Lem



Lyrik zu lesen erfordert – im besten Falle – eine eigene Lesehaltung. Ein fast unverzeihlicher Allgemeinplatz, ich weiß, und zudem eine Binsenweisheit, die ebenso gut – und auch hier im besten Falle – für das Lesen von Prosa gilt. Das ist auch nur gut so, denn die Texte in dem hier zu besprechenden Band überschreiten die Grenze zwischen Lyrik und Prosa ganz gern einmal; und den Allgemeinplatz zum Einstieg gönne ich mir deswegen, weil die Privatnachrichten an Lem ein ganz großartiges Beispiel dafür sind, dass diese Binsenweisheit auch eine Wahrheit ist, und sind zudem noch prächtig geeignet, eben diese (oder doch eine, denn die richtige Lesehaltung gibt es natürlich gar nicht) Lesehaltung einzuüben.

Das beginnt schon ganz konkret damit, dass der Leser das Buch nach dem Aufschlagen drehen und wie eine Verlautbarung halten muss, denn die Seiten sind im Querformat bedruckt. Das lässt zögern, und auch die Überschriften (PN AN LEM I usw.) sind ein Lesehindernis, erwecken sie doch auf der nun fast DIN-A 4-großen Fläche den Eindruck, man schnüffle wirklich in privaten Nachrichten an Lem herum, einen Adressaten, der ambivalent bleibt. Soll es der bekannte Schöpfer großartiger kybernetischer Welten sein (manche der Illustrationen des Bandes könnte ich mir auch sehr gut in einer Stanislaw-Lem-Ausgabe vorstellen), oder ist „Lem” die Ergänzung des L. im Namen des Autors, die aus Niskate eine Lemniskate macht, eine geometrische Schleife in endloser Bewegung um zwei für immer voneinander getrennte Zentren?

Derart vorsichtig und vorbereitet will ich mich an die Lektüre der Gedichte machen. Aber stattdessen machen sich die Gedichte an mich heran:

PN AN LEM I

durchs dach tropft der regen in zinkwannen, lem
fürs warme wetter vor allem von wegen fürs baden klar

selten aber ja doch jajas scharren von krallen
fand nie ein ausbau statt verteilte sofas und surfer man zählt
zahllosen bedarf im netz nistet gelegentlich ein igel
sich ein für den winter und wechseln agenten koffer die voller

geld nehmen den flaschenzug in die nacht tauschen untereinander
privatnachrichten wie wir unmengen polierter schuhe mit absatz
...

In diese Texte kann man sich nicht vorsichtig hineintasten, man muss sich von ihnen anspringen lassen.

PN AN LEM II

jedes jahr fängt hier mit einer weißen bank an, lem, weißt du
weiß auf weißem grund auf blankem papier
bitte hier nicht hier keine
antworten draufschreiben kommen sie doch
nie ins zimmer auf die couch unterm unter (unter)
...


Aber auch das ist keine vollständig richtige Beschreibung, denn viele der Text springen uns eben nicht ganz und gar fertig aus dem Buch entgegen. Als wäre ein Wort ein Stein und die Fläche Papier, die wir da zwischen unseren beiden Händen halten, eine gefrorene Wasserfläche, entstehen die Texte bisweilen wie unvorhersehbare und dabei doch folgerichtige Muster:

PN AN LEM IX

spielen das alte spiel, lem, partitionieren piloten
in autoimmune portionen pushbare konditionen kilo für kilo
stapeln membrane für die generalprobe (auf probe)
stellen den code auf die anfang die endlos die schleife

dann bleibt der regen aus was solls zu reden geben, lem
von überwiegend aus nebel bestehendem wenn es

uns gibt den immer eigenen
daumen im anschlag per anhalter kobold steht drauf dissoziiert
kann ich lachen
                             ist die freigabe
                                                         erfolg  t


Andere Texte nehmen den umgekehrten Weg; immer wieder zeigen sich in den Zeilen Lücken und wieder schwankt der Leser: Manifestiert sich hier soeben ein Muster aus verstreuten Einzelheiten, sind es erasure-Texte, in denen das Muster aus Vorhandenem herausgeholt wird, oder lassen sie sich als Fragmente einer Wechselrede verstehen?

...
gäbe es auch
bedenken            ich spielte            was wie             geist es in die maschine
in batterien entfliehen multipolaren versteht sich dualismus ist schon ein alter
....


Die Illustrationen von Marina Friedrich mit ihrem Schwanken zwischen konkreten Bildern, abstrakten Mustern, Piktographischem tun ein Übriges, uns in unserer Verunsicherung zu bestärken. Wie die Gedichte, müssen wir auch die Bilder hin und her wenden, und uns ihnen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit je eigener und bei jedem Lesen wieder neuer Lesehaltung nähern und aussetzen. Und das zu versuchen, lohnt sich.



Niklas L. Niskate: Privatnachrichten an Lem. Köln (parasitenpresse) 2015. 52 Seiten. 9,00 Euro.


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