Nadja Küchenmeister: Im Glasberg
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Timo Brandt
Nadja Küchenmeister:
Im Glasberg. Gedichte. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co) 2020. 112 Seiten.
20,00 Euro.
Inventur im Schwinden
„die hecke sprach mit mir, sehr leise, ein schattenunter der tischtennisplatte, länger als ein nachmittagschien nur die lebensdauer der laternen: herr schattaschläft seit fünfundzwanzig jahren auf dem friedhofich schlafe ihm seit fünfundzwanzig jahren hinterherniemand weiß genau, wie spät es ist, wenn es zu spät istbänke ohne rückenlehne, wie immer käsethekenlichtder kleine fetzen meiner lippe, jenes schüppchen hautdas ich am zungengrund verschiebe, das bin ich.“
Als Fan von „Alle Lichter“ und „Unter dem Wacholder“ habe
ich mich sehr auf Nadja Küchenmeisters dritten Band gefreut und war dann voller
Befürchtungen, als mir das Auftaktgedicht „Im Glasberg“, angelehnt an ein
Märchen der Gebrüder Grimm, eher nicht zusagte.
Eh bekam ich den Band ziemlich spät in die Hand – der Verlag
hatte ihn aus Versehen an die Adresse meiner Mutter in Deutschland geschickt,
und da ich diesen Sommer wegen Corona dort keinen Besuch machte, schickte sie
ihn mir Ende Oktober zu (nachdem wir per Telefon die Post durchgegangen waren).
Nachdem ich mit dem ersten Gedicht, einer Art Prolog, wie gesagt, nichts
anfangen konnte, schlich ich ein, zwei Wochen um den Band herum, in immer
kleineren Kreisen, bis ich schließlich an dem Punkt angekommen war, wo es galt:
lesen oder weglegen. Und weglegen war nicht wirklich eine Option.
„am abend vor dem spiegel, im zwiegespräch mit zahnbürsteund kamm, sickern unbekannte laute unter der badezimmertürhindurch, fließen über kalkgefleckte badezimmerfliesenlegen am kai meiner hausschuhe an, und plötzlich muss manjeden atemzug erinnern, andernfalls wäre ein ankommennicht möglich in den zweigen meiner lunge, bruder sonnespiel noch ein paar takte länger, es ist so warm in meinem zimmer“
Der eröffnende Zyklus nach dem Auftaktgedicht heißt „helle
mitte“ und besteht aus fünf nummerierten Gedichten. In ihnen wird eine Rückkehr
an den Ort des Aufwachsens, in die Erinnerung, vollzogen. Nach Art einer
Inventur, die die Bestandteile des Ortes und seiner Lebenswelt erschließt,
umkreisen die Gedichte jene Dinge, in denen eine Atmosphäre des Damals bewahrt
wurde, die damit verbundenen, nah am Unsagbaren liegenden Vertrautheiten.
Das zweite Kapitel „Wurzeln“ schließt nahtlos an diesen
ersten Zyklus an, erweitert die Rückkehr aber um die Geschichte eines Vaters,
der in dem Haus der Kindheit womöglich allein gelebt hat und jetzt erkrankt zu
sein scheint. Die Inventur wird fortgesetzt (das Haus soll vielleicht ausgeräumt
und/oder verkauft werden), weiterhin geht es um die befremdliche Nähe, die die Räume
und Dinge ausstrahlen, wie Erinnerungen sich auf Bahnen um sie herum bewegen, sich
aber auch im Vertrauten plötzlich etwas Fernes oder sogar Unheimliches auftut.
„der flur ist dunkel und lang, man glaubtihm sein flursein nicht ganz, lässt sichvon halbschuhen beruhigen, höflichin reihe, abgetragen […]ein gerahmtes foto, das meine freunde zeigtaus jugendtagen, sie sehen dich immerzu anschweigen und stauben ein: so wird man alt.“
In den Geschichten des Hauses und des Vaters – die nun im
Schwinden begriffen sind und dabei auch die Konsistenz des lyrischen Ichs
tangieren, das dieses Schwinden folgerichtig so umreißt, dass es nach
Abwesenheit und Anwesenheit zugleich klingt – spürt man die Auseinandersetzung
mit dem eigenen Verschwinden; der Abschied von dieser Verbindung zur Kindheit
ist ein Stück weit auch ein Abschied von sich selbst. Jetzt ist da keine
Schwelle mehr zwischen Ich und eigenem Tod, die bisher noch das Elternteil und
den sicheren Hafen des Hauses darstellten; die letzte Etappe hat begonnen. Von
hier an, das scheint die Inventur zu sagen, ist das Leben eine Geschichte,
deren Zeuge man ganz allein ist, wodurch das Zeugnis gleichsam auf- und
abgewertet wird.
Die ersten beiden Teile haben, wie bereits gesagt, einen
eher kreisenden, vergewissernden, behutsamen Ton. Teil drei, „im
mittelfellraum“, ist dann wie ein Auf- und Ausbruch, eine Kaskade von
Eindrücken, Verhandlungen, Mahnungen und Erinnerungsschlaglichtern, ein langes
Gedicht (wie schon fast alle zuvor, und viele danach, mit dreizeiligen
Strophen), halt- und gleichsam schonungslos.
Aber auch dieser Ausbruch, diese Heftigkeit, ist von kurzer
Dauer, ist mehr ein Luftverschaffen als eine grundlegende Änderung des Tons.
Und so endet der Text dann auch furios, aber doch endgültig:
„zurück zum kernunter einem hohen himmel duckt sichunser haus, zentrum und zange, da setztedas herz einmal ein, and there is a lightthat never goes out, man tanzt nocheinmal an der tischtennisplatte, und dannschmettert man die sonne in den dunklen raum.“
In den folgenden Kapiteln vier und fünf geht es dann um eine
Liebesbeziehung, eine ebenfalls schon schwindende oder zumindest fragile, bei
der nicht ganz klar ist, wie das Objekt der Zuneigung zum lyrischen Ich
eingestellt ist. Die Gedichte ziehen vorbei, wenig zielstrebig, ein Reigen des
Zweifels.
„habe ich nicht von dir geträumt? hast du mich nichtim traum getragen, wie man eine schlafende trägt?habe ich nicht im traum geschlafen? habe ich nicht im traumgeträumt von dir? hast du nicht diesen traum getragen?habe ich dich nicht im traum gelassen? bist du nicht dort?“
Die Einseitigkeit der Perspektive macht manche Gedichte zu
sehr glaubwürdigen Auseinandersetzungen mit einer nicht geklärten, aber
andauernden Nähe zweier Menschen zueinander; einem Beisammensein, dem das
Ausgesprochene fehlt, das die Gedichte zu erschaffen und nachzubilden, ja
herbeizuwünschen versuchen.
„das telefon weit unten in der jackentaschewählte eine nummer, ich lag in deiner handund schlief, träumte obstauslagen, fernerzog mich feuer, und ein ruf drang durchden spalt des fensters, wasser rauschtehinter einer wand aus wasser, wir bliebenwas wir waren, im spiegel, wussten nichtwohin mit unsren füßen im frachtraum“
Letztlich gibt es keine Sicherheit, weder untereinander,
noch als Miteinander in der Welt. Die wenigen Gewissheiten, wie etwa Hände, die
sich im Dunkel der Nacht finden, oder ein Wir, das einen Gedanken als
Gemeinsamkeit ansieht, sind weniger unnachgiebig als die Wirbel und
Unklarheiten, die sich überall auftun können.
„als wir in den mücken saßenals wir in den laken lagensehnen macht langsamsprachen wir schlafend: wenigerwerden ist kein gedankewaren wir wach, trieben wir, tieretotholz, in die schleuse, sahen tierekleiner als wir, die zuflucht in densträuchern fanden, hände bei nacht.“
Am Ende des Bandes folgt, als Pendant zum ersten Zyklus, das
Kapitel „dunkle mitte“, ebenfalls mit fünf nummerierten Gedichten, zuletzt noch
ein Abschlussgedicht, ein Epilog mit dem Titel „es beginnt, wo es endet“,
wiederum ein Verweise auf die Rückkehrstrukturen, die den ganzen Band
durchziehen, die Versuche des Einkreisens und auf den Punkt-Kommens in einer
unendlichen Bewegung des Vergewisserns und Nichtwissens.
„es beginnt mit einem schlüssel und es endet ohne tür“
Ein guter Satz über Lyrik, vielleicht; zumindest ein guter
Satz über die Gedichte dieses Bandes, in dem das lyrische Ich ständig Truhen
aufschließt, als wären die Schlüssel dazu Schlüssel für Türen. Aber das
Bewahrte, Gesicherte ist nicht der weitere Weg.