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Moni Stănilă: Wir haben eine Zeitlang gut gelebt

Gedichte > Gedichte der Woche

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Foto: Dirk Skiba
Moni Stănilă, übersetzt von Alexandru Bulucz

34.

Wir haben eine Zeitlang gut gelebt

und die Poesie wurde von der Werbung erfasst, von Schönheits-
diskursen. Die Dichter
haben woanders gesucht, haben das Leiden und
den Affekt aus beengten Räumen bewahrt. Die
      Unangepasstheit und
die sozialen Unterschiede. Den grünen Diskurs und die
      unvermittelte Liebe.
Die politische Korrektheit. Die Ästhetik eines Fußballspiels.
Die moralischen Trümmer der Großstädte.

Dann kam die Pandemie. Die Furcht und
der Frust in verallgemeinerter Gestalt. Die Virtualisierung
       sozialen Lebens.
Die Poesie bestand hartnäckig darauf, zu bleiben, was sie
       gewesen ist.
Doch die Abgeschiedenheit wurde stärker. Und alle
dachten, wie ist es schlimm.

Der Krieg ist an uns herangerückt, und die Dichter haben
       aufgehört,
Atempausen zu suchen, was sich um uns herum
ankündigte, wurde schärfer als jeder Vers.
Gewalttätiger als jede Pandemie.
Die Schlagzeilen der Nachrichtensendungen haben die
       samtenen Gehäuse
unseres Verstands aufgespalten:

Die menschlichen Korridore sind bombardiert.
Das Kernkraftwerk von Tschernobyl wird in diesen
       Augenblicken angegriffen.
Mindestens 103 Kinder wurden getötet seit dem
      Beginn der russischen Invasion.
Sölndertrupps mit dem Auftrag, Selenskyj zu
      ermorden.
Bombardierte Säuglinge.
Putin hat die Mariupoler Geburtsklinik Nr. 2
      angegriffen.
Der Bürgermeister von Hostomel wurde getötet beim
      Verteilen von Brot und Medikamenten.
Der zehnte Tag in Folge ohne Wasser und Heizung in
      Mariupol.
Mütter flüchten mit Kindern in ihren Armen.

Die Realität hat sich verwandelt
in die brutalste Form der Poesie.
Das Schweigen gehört nur den Toten – aus Butscha (later edit)

und den Feiglingen.

Der Himmel der Ukraine bleibt offen und die Alten beten
um Regen oder Schnee –
                                                                       Hauptsache Wasser
für Mariupol.


Aus Moni Stănilă: Metallische Igel. Gedichte. Aus dem Rumänischen von Alexandru Bulucz. Berlin (edition.foto TAPETA) 2024. 108 Seiten. 15,00 Euro.
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