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Mikael Vogel: Morphine

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Jayne-Ann Igel

Ränder des Wahrnehmbaren. Notizen zu Mikael Vogel „Morphine“


Außerhalb dieser bis aufs Mark durchscheinend gemachten Orte und Wirklichkeiten, in vitro seziert, denen wir in Mikael Vogels neuem Gedichtband „Morphine“ begegnen, scheint kaum mehr Leben vorstellbar – Wir leben in einer Wirklichkeit der Kunststoffe, synthetisierter Substanzen und Surrogate, die uns einen Anschein von Welt vorspiegeln, in schmerzhafter Klarheit. Und trotz deklarierter Inhaltsstoffe weiß kaum noch jemand, was er da eigentlich verzehrt. Rausch war einmal, Rausch der sanften Art, wir frönen einem Leben in der Überreizung – Mikael Vogel führt uns in sieben Kapiteln mit zum Teil geheimnisvollen Titeln bis an die Ränder des Wahrnehmbaren, wo in der Überreizung der Sinne alles umso klarer, schärfer hervortritt und auch der Traum so etwas wie ein Morphin darstellt, betäubend und erhellend zugleich.

Gleich mit dem ersten Kapitel macht Vogel deutlich, auf welcher kultur- wie zeitgeschichtlich determinierten Ebene er sich dichterisch bewegt und was den Ausgangspunkt wie Hintergrund seiner Diskurse bildet. Dieses Kapitel trägt den Titel Giftschrank, und in einem solchen werden ja auch die Morphine, die stärkeren Schmerzmittel verwahrt, die bei Vogel jedoch überhaupt nicht lindernd wirken (an anderer Stelle im Band findet sich übrigens ein kleiner Exkurs zur Geschichte der Opiate). Mich erinnert der Titel wiederum an die separierten Buchbestände in der Deutschen Bücherei zu DDR-Zeiten, die der Allgemeinheit nicht ohne weiteres zugänglich waren, und im Begriff schwingt die Mitgift mit. Tatsächlich begibt sich der Autor hier mit Künstlerinnen und Künstlern wie Kleist, Trakl, Hölderlin, van Gogh oder Friederike Mayröcker in ein diskursives Verhältnis, betreibt eine Art konstruktiven Dekonstruktivismus auf kanonisiertem Gelände. Und nicht zuletzt lauert auch ein Anflug von Wahn in dieser Mitgift:


Fou roux

Während seines ganzen Lebens
Einen einzigen Käufer für eines seiner Gemälde
Aber dreißig Bürger von Arles die Unterzeichner einer Petition für
Seine (»Roter Irrer«) sofortige Wiedereinweisung ins Hospital – Vincents
Mit dem Messer sich abgeschnittenes Ohr, der Prostituierten Rachel als
Geschenk überreicht, flüsterte Hör mich, ver-
Steh mich                   (kau mich ein bißchen am Ohr –
Noch immer verklingen Vincents Worte an die Um-
Worbene:                                    Gardez cet objet précieusement


Aber Mikael Vogel lenkt den Blick auch auf privatimes Befinden. Die Gedichte in den Kapiteln Messerfische und Pistolen sind beispielsweise bestimmt vom Nachklang einer Trennung, monologisierend richten sie sich an ein Gegenüber, das im Verborgenem bleibt resp. nur über die aufgerufenen Erinnerungen an geteilte Erlebnisse erfahrbar wird. Manchmal scheint es, als habe die Überschreibung eines Geschehens statt und bedeute Trennung auch die Abscheidung von Orten, Wegen:



Verkehrsflüsse

Blut in den

Lettern ... diese sind die Ströme der
Stadt, offenbleibenden Wunden entlang unserer Spuren, die Orte die

Wir uns gegenseitig amputiert, Stellen die wir uns einge-

Prügelt haben: Hier haben wir uns geküßt, an dieser Kreuzung du mich ver-
Lassen, hier du mich wieder geküßt, hier

Bin ich zusammengebrochen           (unsere Häute einander abgerissen in

Wut und Lust, in gleißendem Hirnrausch –



Und in diesem Moment dominiert der Eindruck, daß es letztendlich um Entkleidungen geht, das sich Entledigen von Illusionen, die Liebenden erscheinen in der Rückschau in ihrer Verkleidung entblößt, bis aufs Fleisch, die Knochen. Der assoziative Stil Vogels wirkt, nicht nur hier, so gnadenlos wie entwaffnend. So ist das Ganze auch als Experiment zu betrachten, die Sinne erprobendes wie schärfendes, als hellwache Bewegung entlang der Diskursränder.


Dresden, Mai 2014

Mikael Vogel: Morphine. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2014. 136 Seiten. 13,90 Euro.

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