Michael Hillen: Wo das Gestern geblieben ist
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Patrick Wilden
Mit den aussterbenden Wörtern leben
Michael Hillens nunmehr elfter Gedichtband
Man hat das sehr plastisch vor Augen: „er schlug vom stein was schon fort war“, heißt es in einem Gedicht von Michael Hillen über den legendären österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka, „bis aus der berserkerei mit hammer meißel druckluftbohrer / allmählich das geschundene fleisch hervortrat / das uns anmutet wie geschundenes fleisch“. Der Text ist zugleich eine Hommage an die große Vorläuferin Käthe Kollwitz, mit der Hrdlicka, so unterstellt das Gedicht, den ‚Ekel der Phantasie‘ teilte.
Hier sind wir mittendrin in der Poesie des Bonner Lyrikers, der mit Wo das Gestern geblieben ist seinen nunmehr elften Gedichtband vorgelegt hat. Hillen, Jahrgang 1953 und laut Klappentext väterlicherseits mit biographischen Bezügen nach Belgien, ist nicht nur ein Mann der Bücher, sondern auch ein alter Hase. Der neue Band nimmt in drei Kapiteln drei verschiedene Perspektiven ein. Im dritten, „Heute noch“ betitelt, schaut Hillen durch die Brille des Historikers, vergegenwärtigt die Erschaffung der ersten Fotografie, blättert in einer „informationsbroschüre“ zu Goyas „desastres de la guerra“, macht sich die ein oder andere „notiz“.
Die Intention des Schlußkapitels
von Wo das Gestern geblieben ist
scheint zu sein, das Palimpsest von Krieg und Gewalt schlaglichtartig im
Gedicht lesbar zu machen. Nicht nur der Augustinermönch Luis de León, der für
seine Übersetzung des Hohen Liedes bestraft wurde, der gefangengehaltene Dichter
Jannis Ritsos oder ein namenloser Flüchtling, der „dinge / für den bruchteil / eines
augenblicks / an ihrem vermögen“ mißt, „ihn zu verbergen“, haben dafür ihre
Knochen hingehalten. „unser gestein, berichten aus ihrer / werkstatt die häuser
/ um ypern, verdankt seine farbe / den gemahlenen knochen / der toten“. Und
dabei muß man gar nicht um das Schicksal der im Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer
Frontlage fast vollständig zerstörten belgischen Stadt Ypern wissen. Die
Botschaft kommt an.
Durch die leise Eindringlichkeit
dieser schweren Thematiken bekommt das Buch eine Schlag-seite, die es nicht
nötig hat. Denn Hillen versteht sich darauf, die kleinen Dinge zu sehen,
deutlich und oft nostalgisch, auf alle Fälle mit knipoog und einer schönen Melancholie, wenn er etwa zum Besuch der
Brüder das „‚tafelkleid‘ (vater)“ auflegt, seinen Kommunionsanzug imaginiert
und den „geruch eines fernen / weißen sonntags“. Daß dieser Blick nicht nur von
Kurz- oder Weitsicht, sondern auch von Wehmut getrübt ist, zeigt sich in einem
kleinen Text über die Mutter:
„einmal fiel ihr aus arthrotischer handein winziger druckknopf auf den küchenboden.‚was hast du gute augen‘rief sie bewundernd ausweil ich ihn gleich fand.‚es sind nicht die augen,es sind die kontaktlinsen‘wehrte ich bescheiden ab.‚ja aber trotzdem‘hatte mutter nichts zurückzunehmen.“
Man schnuppert gern nach dem „Geruch
aus fernen Tagen“ dieses ersten Kapitels, wundert sich mit der Ich-Stimme, daß
das Christkind „sich niemals verhedderte / in den eisernen zacken / des türschlosses“,
rätselt mit ihr über die „fangfrage“ des Vaters, „was leichter sei / ein kilo
federn / oder ein kilo eisen“. Und selbst „der leere stuhl“ aus einem Gemälde
Vincent van Goghs wirkt so selbstverständlich, daß die Behauptung, „auf ihm
saßen gauguin / und mutter“, keinesfalls abwegig erscheint. „mit einer
zigarette / saß ich nichts mehr / als in die dämmerung hinein“ – aus der leicht
verschrobenen Formulierung am Beginn von „sachte mahnung“ ist die Haltung des
ganzen Buches zu lesen.
„Aus mittlerer Entfernung“, so der
Titel des Mittelteils, scheint die Sicht am besten zu sein: „der neue tag ist
aufgeschreckt, / kein auge wird er mehr zutun“. So erzeugt gleich der erste
Text eine Bewegung, die durch die behutsam pointierende Betrachtung in Hillens
lyrischen Skizzen und kleinen taferelen
sogleich wieder beruhigt wird. Der da läuft, „parallel / zu einem dahinrasenden
zug / der ständig zeit verliert“, scheint dem Lauf der Welt weitgehend enthoben
zu sein. Aus mittlerer Entfernung gesehen fürchtet sich die weltweit
dienstälteste „glühbirne von livermore“ auf einer kalifornischen Feuerwache
auch weiterhin „vor der endlosen finsternis“. Aus mittlerer Entfernung
vollzieht das Gedicht die irrwitzige Geschwindigkeitserfahrung nach, die „victor
hugos erste eisenbahnfahrt“ bedeutet haben muß, darin „die relative gewißheit
noch / daß nicht der bahnhof / am zug halten würde“.
Das Große im Kleinen fühlbar zu
machen, darum geht es in den gelungensten Texten von Wo das Gestern geblieben ist, darin flackert dann auch der von
leiser Absurdität gefärbte Humor von Michael Hillen auf. Da erläutert etwa das
lyrische Ich „im gespräch um einen / defekten fahrscheinautomaten“ einem „jungen
mann“ das Wort „galoppwechsler“,
„als eine ‚schaffnerin‘der gewissen verwaisungdes vollen abteils, der eigenennahenden entbehrlichkeitnoch einmal entgegentrat:die ‚fahrkarten‘ bitte! –traulich, aus gleichabgelegener zeit, leben wirmit den aussterbenden wörtern.“
Und wenn das In-den-Blick-Nehmen im
Setzen von Anführungszeichen besteht. Bei einem Leichenwagen, der neben einem
blühenden „tulpenbaum“ zum Halten kommt, assoziiert Hillen, „fürst pückler
nähere sich in seiner kutsche / gezogen von vier schnaufenden hirschen“. Und
als „die küchenuhr“ sich selbständig aus dem Staub macht, so daß ihr welkendes
Zifferblatt „am zweig des dürstenden mehlbeerbaums“ hängt, folgert das Gedicht:
„was für ein schmerz, / welche erleichterung, / kann man die gegenwart / nicht
mehr ernst nehmen“. Warum nur hat der Mann seine belgische Staatsangehörigkeit vor
Jahren zurückgegeben?
Michael Hillen: Wo das Gestern geblieben ist. Gedichte, Verlag
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021. 100 Seiten, 14,80 Euro (D) / 15,30
Euro (A), ISBN 978-3-8260-7426-4.