Michael Donhauser: Unter dem Nussbaum
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Felix Philipp Ingold
Schönste Literatur
Michael Donhauser,
69, ist ein quantitativ wie qualitativ gleichermaßen verlässlicher Autor. Seit
mehr als einem halben Jahrhundert gibt er in ausgewogener Folge Lyrik und Prosa
vom Feinsten zu lesen. Nun legt er eine chronologisch gefügte Textauswahl (1986
bis 2023) aus seinem weitläufigen, verstreut publizierten Gesamtwerk vor,
ergänzt durch bisher ungedruckte Prosagedichte aus vermutlich neuester
Produktion. Der schlicht gestaltete und schlicht betitelte Leinenband – «Unter
dem Nussbaum» – bietet auf gut 500 Druckseiten repräsentativen Einblick in
Donhausers beharrliche Schreibarbeit.
Der titelgebende Nussbaum evoziert
Natur, Landschaft, Garten, und diesen thematischen Einzugsbereich schreitet der
Dichter mit höchster Aufmerksamkeit und faktographischer Präzision ab. Abschreiten
– das heißt hier: abzählen, feststellen, zu- und einordnen. Gegenstand des
Interesses sind einfache, jedermann zugängliche Dinge der naturhaften
Alltagswelt, deren konkretes Vorhandensein gerade wegen ihrer Gewöhnlichkeit
und Gewohntheit oft gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird – Dinge wie diese
Pfütze, dieser Mückenschwarm, dieses Gestrüpp, dieser Misthaufen, diese
Geranien, diese Elster oder auch bloß dieses «Wanken in den Nussbaumblättern |
Das Wiegen im Gehänge der Birkenblätter | Das Auf und kaum Ab an den Stauden |
Von den Ahorn- den Haselnussblättern | Die Reglosigkeit des Efeus am Kiesrand
…»
Auch die städtische Dingwelt (Straßen,
Plätze, Mauern, Gleise) wird in die poetische Naturerkundung eingebunden, wird
zurückgebunden in die natürliche Umwelt; selbst Venedig, die künstlichste und
musealste aller Städte, scheint von der Natur gebaut und gehegt zu sein: «Sacht
schien dann und weit als eine Lichtung der | Platz mit den Schattenkanten an
den Pflastersteinen | und hinter den Fensterläden: der Himmel aber war |
dunstig im Spiegeln der Wellen, als ein Verstäuben | der Sonne …»
Unmittelbare
sinnliche Wahrnehmungen, mögen sie noch so flüchtig und nichtssagend sein, fasst
Donhauser in wohl-gesetzte Worte, ohne ihnen eine bestimmte (symbolische, weltanschauliche,
psychologische) Bedeutung zuzuschrei-ben. Wenn dennoch immer wieder, über die
strenge Deskription hinaus, auch lyrische Stimmungen oder narrative Momente
aufkommen, so deshalb, weil die Texte häufig in Ich-Form abgefasst und damit
subjektiv perspek-tiviert sind. Das vorrangige Beschreibungsinteresse des Autors
wird dadurch stellenweise etwas aufgelockert, so dass hin und wieder auch
persönliche Emotionen und Wertungen zur Geltung kommen können: «Jede Nähe |
wird zur Neigung | ich vertraue | es wird leise.»

In dieser naturseligen Dichtung kann sich der Asphalt noch als Wiese behaupten, das Pflaster als Beet, die Mauer als Hecke, so als hielte eine sanfte, alles umgreifende Naturgewalt unsre ausgepowerte und weithin vermüllte Welt noch immer unter liebreicher Kontrolle. Alles Unschöne bleibt aus diesen «schönsten Liedern» ausgeschlossen, nichts Bedrohliches, Versehrtes, gar Katastrophisches stört das Idyll; alles ist Lob, ist hochgemutes Sehnen und Ahnen – «alles war es und heilte»: Poesie quasi als Balsam, ungemein tröstlich beim Lesen unterm Nuss- oder Kirschbaum, ernüchternd dann aber, wenn man den Blick hebt und erneut mit der prekären Wirklichkeit außerhalb des Buchs konfrontiert ist.
«Ein Gedicht ist eine Sprache aus Echos und Findlingen und Blicken zu Boden und auf in die Weite …» Dieser definitorischen Aussage entspricht Donhausers Bemühung, die Dingwelt nicht nur in unmittelbarer Nah- oder Fernsicht zu vergegenwärtigen, sondern auch in ihrer Prägung durch andere, frühere literarische Vereinnahmungen. All seine Texte sind durchwirkt von «Echos und Findlingen» aus Werken der von ihm bevorzugten Autoren, unter ihnen Hölderlin, die Droste, Rimbaud oder Trakl, vorab jedoch Francis Ponge, dessen «Beschreibungswut» für ihn von Beginn an vorbildlich gewesen sein dürfte: Über weite Strecken nimmt sich seine Schreibarbeit wie ein kollegialer Wettbewerb mit dem französischen Schulbuchklassiker aus, der die «rohen Dinge» durch exakte Deskription als poetische Fakten zu etablieren suchte.
Freilich geht Donhauser darüber weit hinaus, indem er seine Beschreibungen mit Rückgriff auf hergebrachte Textsorten immer wieder anders formatiert, sei es als Elegien oder Lieder, als «Dyptichen» (gemeint sind wohl Diptychen) oder Sonette. Die wechselnde Rahmung ändert allerdings nichts an der Optik und Thematik seiner Dichtung, lediglich deren Stil- und Tonlage wird ein wenig differenziert, etwa durch archaisierende oder dialektale Einfärbungen, die der stets drohenden deskriptiven Monotonie angesichts der immer gleichen oder ähnlichen Motive entgegenwirken.
Beispielhaft dafür ist der letzte, womöglich also jüngste Text (aus dem Prosazyklus «Rosen»), den Donhauser in seine Werksammlung aufgenommen hat; man beachte die ungewöhnlichen Wortfolgen, die vielen substantivierten Verbformen, das gepflegte rhetorische Pathos: «Und so vollendet sich nicht, bleibt lose wie verkommen, was in einem Erblühen sich kündigte an und einen Abglanz nun findet noch in dem Schein, da er als ein Schimmer entsteigt dem Verdorrten wie dem Hängen letzter Blätter, die keine Sonne noch einmal zu versengen vermag, denn es ruht verwunschen in sich wie zersetzt nun von der Hitze Blüte um Blüte, so reglos wie entseelt, wenn spät auch ein Knistern wie von den Tropfen eines Regens all das Erstorbene noch einmal leise bewegt.» Alles in schönster Ordnung.
Michael Donhauser: Unter dem Nussbaum. Lyrik und Prosa 1986 bis 2023. Berlin (Matthes & Seitz) 2025; 508 Seiten. 38,00 Euro.