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Michael Braun: Ein prekärer Götterliebling

Memo/Essay > Memo
Hans Magnus Enzensberger

Tod eines Dichters (für Rainer M. Gerhardt)


Jeder Tag ein Geriesel von fahlen Papieren,
ein Spinnweb von Einflüsterungen,
Ohren voll Kot deinem Mund nah,
ein Dunst von Pfandleihern und Spitälern,
von Treppenhäusern, fleckig wie
das Bett eines geilen Flusses.
ein grauer Schnee von Paragraphen auf dem Pflaster
der Welt, und blutige Schuhe, und Streptokokken.

Jede Nacht die Umarmung der neun wilden Schwestern,
der Vampire, schönzüngig,
ein Beischlaf mit neun Feuern, eine
Verschwendung zum Tode.
O eingeäscherter Phönix!
Zeugung unbezeugt! Verkohltes Gedicht!
Zerbrochener Flug! Nichts, was bliebe,

nichts als ein Brief von den blauen Tinten-
tränen eines Gewitters bedeckt,
als ein tauber Zorn über den Dächern,
als blinde Trauer, lahm in den Lenden,
und dein Name, auf blanker Platte
sich langsam läuternd
zum Oxyd der Vergessenheit,
vergessen von deinen neun schönen Geliebten,
die deines Blutes satt
jubelnd auffahren in ihre unsterbliche Wohnung.


Michael Braun

Ein prekärer Götterliebling

Anmerkungen zu einem frühen Gedicht von Hans Magnus Enzensberger


An einem August-Nachmittag des Jahres 1952 kamen in der Dachwohnung des Freiburger Buchhändlers und Benn-Archivars Fritz Werner drei Dichter zusammen. Im Mittelpunkt ein selbstbewusster junger Mann mit gepflegtem Cäsarenhaarschnitt und elegantem blauen Pullover, der soeben einen Lyrikpreis für Studenten entgegennehmen konnte. Sein Name: Hans Magnus Enzensberger. Er trug einige Gedichte vor, die dann später in sein spektakuläres Debütbuch „verteidigung der wölfe“ aufgenommen wurden. Neben ihm zelebrierte der experimentelle Poet Claus Bremer sogenannte „Dauergedichte“. Die dritte Person in diesem kleinen Dichterkreis beeindruckt mit einer sehr suggestiven Lesung am stärksten: Es war Rainer Maria Gerhardt, der umtriebige Kopf des sogenannten „Freiburger Kreises“, Dichter, Übersetzer und Zeitschriften-herausgeber in einer Person. Fritz Werners Bericht über dieses Treffen legt nahe, dass sich der junge Enzensberger und Rainer Gerhardt durchaus füreinander interessierten. Aber es blieb bei kurzen Begegnungen. Enzensberger erwies sich als der intellektuell geschmeidigere Typ, der alsbald als erfolgsorientierter Götterliebling loslegte und im Suhrkamp Verlag landete. Rainer Maria Gerhardt zog dagegen den Alleingang vor. Gemeinsam mit seiner Frau Renate stürzte er sich als erster deutscher Pound-Übersetzer auf dessen Hauptwerk, die „Cantos“. In der Auseinandersetzung über diese eigenwillig-spröden Übertragungen, von Gottfried Benn als „saumässig“ disqualifiziert, kam es bald zum Zerwürfnis mit Benn und dem Limes-Verleger Max Niedermayer, dem Gerhardt die Übersetzungen angeboten hatte. Gerhardt scheute bei der Gründung und Verbreitung seiner Zeitschrift „fragmente“, einer „Revue für internationale Dichtung“, keine Kosten, war bald hoffnungslos verschuldet. Am 27. Juli 1954 sah der gerade 27jährige Poet keinen Ausweg mehr und wählte den Freitod.
       Hans Magnus Enzensberger hatte dagegen den Königsweg gefunden – über sechzig Jahre lang war er der repräsentative Intellektuelle der Bundesrepublik; von keinem anderen Autor haben wir so viel gelernt wie von diesem enzyklopädisch inspirierten Poeten. Sein lyrischer Nachruf auf den unglücklichen Kollegen Rainer Maria Gerhardt erschien in seinem Band „verteidigung der wölfe“, in seine späteren Auswahlbände hat Enzensberger das Gedicht nicht mehr aufgenommen. Bei näherer Betrachtung des kryptisch gefügten Textes will es scheinen, dass der Porträtierte hier in sehr zweideutig flirrenden Bildern gewürdigt wird. Ein Strom von flackernden Visionen, kühnen Metaphern, antiken Bildfetzen durchzieht das Gedicht. Die Umarmung des Dichters mit den neun Musen („neun wilden schwestern“) ermöglicht ihm einen Schöpfungsprozess, der freilich „eine Verschwendung zum Tode“ blieb, von Vergeblichkeit geprägt ist. Die Musen selbst mutieren hier zu „Vampiren“. Die antike Vorstellung vom Schreiben als Zeugungsakt kollidiert mit den Zeichen trister Alltäglichkeit („ein Dunst von Pfandleihern und Spitälern“), vom Dichter bleibt nur ein „eingeäscherter Phönix“.
       Die hier angerufene Dichtergestalt wird also in einen semantisch ambigen Bildraum von „Einflüsterungen“, fragwürdigen Visionen, Phantasmagorien, Märchen- und Horrormotiven („blutige Schuhe“, „Vampire, schönzüngig“) eingebettet – als sei Gerhardt als Dichter stets irgendwelchen steilen halluzinatorischen Phantasien erlegen. Einzelne Elemente der Metaphorik (z.B. „Beischlaf mit neun Feuern“) lesen sich wie boshafte Parodien auf die an Ezra Pound und dem französischen Surrealismus geschulte Bildlichkeit Gerhardts. Der „Tod eines Dichters“, wie er von Enzensberger vorgeführt wird, rückt jedenfalls nicht unbedingt eine Gestalt der Bewunderung ins Zentrum des Gedichts, sondern einen Autor der surrealistischen Vexierspiele, so problematisch wie prekär.
         In einem Lebenslauf für die Studienstiftung des deutschen Volkes, den der damals 21jährige Enzensberger 1951 anfertigte, hatte er ein ambitioniertes Wunschprogramm eingetragen, an dem er dann siebzig Jahre lang festgehalten hat: „Reines Spezialistentum kam für mich … nicht in Betracht. Auch wenn enzyklopädisches Wissen nicht mehr möglich ist, bleibt die Verpflichtung zur Universalität bestehen“. Nach dem Tod des intellektuellen Artisten gibt es keinen deutschsprachigen Dichter mehr, der diese „Verpflichtung zur Universalität“ auf sich nehmen könnte.


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