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Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen

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Timo Brandt

Mascha Kaléko, wieder und wieder

„»… Da kam der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen.« – Weil sie nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
Sind neuerdings streng vegetarisch.

Jeder Sturmbannführer ein Pazifist,
So lautet das liebliche Märchen,
Und wieder leben Jud und Christ
Wie Turteltaubenpärchen.

Man feiert den Dichter der »Loreley«.
Sein Name wird langsam vertrauter.
Im Lesebuch steht »Heinrich Heine« sogar,
– Nicht: »unbekannter Autor«“

Nein, sie wollte sich nicht vor den Karren der Verdrängung, der schnellen Wiedergutmachung spannen lassen. Mascha Kaléko, 1938 aus Deutschland in die USA geflohen, kehrte 1956 anlässlich des Heine-Jahres nach Deutschland zurück; ihr Gedicht „Deutschland, ein Kindermärchen“ gab sich allerdings nicht versöhnlich, sondern scheinheiligkeitsscheu und bitter. Es ist eine der traurigsten und bezeichnendsten Wandlungen innerhalb eines deutschsprachigen lyrischen Werkes im 20. Jahrhundert: die Wende von der Melancholie zur Bitterkeit, von der offenherzigen Eloquenz zur pessimistischen Bissigkeit bei Mascha Kaléko.

1960 will man ihr, der Wiederentdeckten, den Fontane-Preis verleihen – doch Kaléko lehnt ab und verpasst dem Jurymitglied Hans Egon Holthusen eine mentale Ohrfeige, die der von Beate Klarsfeld 8 Jahre später in nichts nachsteht. Kaléko sagt ganz offen, sie könne keinen Preis aus der Hand eines langjährigen SS-Mannes annehmen. Das Gremium zeigt sich daraufhin unbeeindruckt, man spricht allen Ernstes von „Jugendtorheiten“ und dass Holthusen ja nur zur SS gegangen sei, weil man dort „groß gewachsene Männer gesucht habe“. Der Generalsekretär der Westberliner Akademie rief Kaléko und allen anderen Emigranten schließlich zu: wenn es ihnen hier nicht gefalle, könnten sie ja einfach fortbleiben. Mascha Kaléko sollte danach nie mehr für einen deutschsprachigen Preis nominiert werden.

„Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete
– Zwei Seelen von konträrem Appetite.
[…]
Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch,
Doch, was ist, zum großen Teil satirisch.“

Wer dichtet denn wirklich, wie ihm der Schnabel gewachsen ist? Es gibt nur wenige, die sich dieser Authentizität rühmen können; die Kunstfertigsten sind es sicherlich meist nicht, aber oft diejenigen, die zu Herzen gehen. Denen es gelingt, die Nähe zum einfachen Gefühl im Takt ihrer Kunst nicht abreißen zu lassen.

Mascha Kaléko dichtete am liebsten, wie ihr der Schnabel gewachsen war: das zeigt sich nicht nur im Esprit und dem unverblümten Witz ihrer oft so melancholischen Verse, sondern auch in ihrer Art, mit Mehrsprachigkeit, dem Reim und mythischen, religiösen oder andersgearteten Referenzen umzugehen. Was da manchmal flapsig und eigenwillig daherkommt, sollte man nicht mit Gedankenlosig- oder gar Fahrlässigkeit verwechseln.

Es ist schlicht die Freude am Spiel, am Bruch, an Robert Frosts „the best way out is always through“, bisweilen kombiniert mit jenen fast schon sentimental wirkenden Anflügen von Sehnsucht, die für mich aber die Eindringlichkeit der Verse nicht zerstreuen oder sabotieren – sondern sie gerade erst erschaffen.

„Herrgott, bewahr uns vor der Gicht!
Gib, dass mein Herz nicht rostet.
Um andern Reichtum bitt ich nicht,
Weil Geld uns zuviel kostet.“

„… Wo sich berühren Raum und Zeit,
Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit –
Wie Windeswehen in gemalten Bäumen
Umrauscht uns diese Welt, die wir nur träumen.“

Es gibt keine andere Dichterin, keinen Dichter, bei der/bei dem ich so oft weinen muss. Sie greift mit ihren Worten in all meine Deckelungen, Deckungen und Sperrungen, ich kann mich nicht dagegen wehren. Und ich will es auch nicht. Denn da gibt es diesen Moment, in dem man erkennt, was wichtig ist. Das kann einem in vielen Gedichten passieren, und das ist immer schön, gut, schmerzhaft. Aber bei Mascha Kaléko passiert es mir am häufigsten.

„Sei du im Dunkel nah. Mir wird so bang,
Ich habe Vaterland und Heim verlassen.
Es wartet so viel Weh auf fremden Gassen.
Gib du mir deine Hand. Der Weg ist lang.

Und wenn das Schiff auf fremder See zerschellt,
Wir sind einander mit dem Blut verschrieben.
Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Uns bleibt das eine nur: uns sehr zu lieben.“

„Verse für Zeitgenossen“ erschien zuerst im amerikanischen Exil 1945, dann dreizehn Jahre später beim Rowohlt Verlag, leicht editiert. Es ist sehr schön, dass der dtv-Verlag (wo 2012 eine wunderbare Gesamtausgabe der Werke von Kaléko und schon vor fünfzehn Jahren die großartige Kombination aus Werkauswahl und Biographie „Die paar leuchtenden Jahre“ von Gisela Zoch-Westphal erschienen sind) den Band nun erneut aufgelegt hat.

Die Gedichte sind in Kapiteln gruppiert, die lose die thematischen Felder darstellen: Manhattan, Deutschland, Liebesgedichte und Erinnerungsgedichte. Es dominieren das Exil und seine Schwere, dazu die tagtäglichen Sorgen, aber vor allem die Sehnsucht nach der Heimat, die nicht mehr Heimat ist – nie mehr Heimat sein kann.

„Mir ist zuweilen so als ob
Das Herz in mir zerbrach.
Ich habe manchmal Heimweh.
Ich weiß nur nicht, wonach …“

In Amerika wurde Kaléko nie ganz heimisch, vor allem nicht mit der englischen Sprache, die sie pointiert, stichwortartig und manchmal geradezu sarkastisch in einige Gedichte einfließen lässt, zu einem Witz degradiert. Und als sie Deutschland schließlich besuchte, war es nicht mehr ihr Deutschland, ihr Berlin aus Zeiten der Weimarer Republik, an das sie sich bei ihren Jugend- und Erinnerungsgedichten so sehr klammerte, als könnte sie es durch akkurate, lebendige Verse am Leben erhalten, wiederbringen.

„Und lass uns einsam, nicht verlassen sein.“

Ihre schwersten Prüfungen standen ihr 1958 bevor: nicht nur die Fontane-Preis-Nominierung mit anschließender Ächtung, sondern auch die Übersiedlung nach Israel, wo sie sich noch isolierter fühlte als in den USA und herzzerreißende und zugleich ignorante Briefe an ihren Sohn schrieb, den sie über alles liebte und dem sie eines ihrer schönsten, ergreifendsten Gedichte schrieb: „Mein Kind“, in dem es u.a. heißt:

„Wirst ausziehn, das gelobte Glück zu schmieden.
Dein Weg sei frei. Denn aller Weisheit Schluss
Bleibt doch zuletzt, dass jedermann hienieden
All seine Fehler selbst begehen muss.

Ich kann vor keinem Abgrund dich bewahren,
Hoch in die Wolken hängte Gott den Kranz.
Nur eines nimm, von dem was ich erfahren:
Wer du auch seist, nur eines: sei es ganz.“

Ihr Sohn lebte allerdings weiterhin in New York, weit weg vom Elternpaar. Und als hätte Mascha Kaléko es immer geahnt, sind schon in den „Versen für Zeitgenossen“ zwei Gedichte enthalten, in denen sie ihre Angst vor dem Verlust der wenigen Nahestehenden zu einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit werden lässt. In dem einen bittet sie ihren Schutzengel darum, lieber über ihren Sohn zu wachen, anstatt sie zu beschützen. Und im anderen, sehr bekannten Gedicht „Memento“, geht sie noch weiter und schreibt:

„Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
[…]
Der weiß es wohl, dem gleiches wiederfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“

Mascha Kaléko erlebte schließlich noch das Schlimmste, was einem Elternteil widerfahren kann: ihr Sohn starb im Alter von 31 Jahren, im fernen Amerika, nach einer kurzen schweren Krankheit; drei Jahre später starb ihr Mann.

„»Weil du nicht da bist«, rufen Wand und Schränke,
Verstaubte Noten über dem Klavier.
Und wenn ich endlich nicht mehr an dich denke,
Die Dinge um mich reden nur von dir.“

Obgleich dieser Band vor all den verheerenden Ereignissen erschien und noch allerhand Lichtgestalt und Hoffnung darin schweben, wird hier die tiefe Trauer der folgenden Jahre fast vorweggenommen.

Aber nicht nur über den Tod der anderen hat Mascha Kaléko hier geschrieben, über ihre unerfüllte Sehnsucht, ihre Angst und den alltäglichen Kummer, das Nachkriegsdeutschland und das 40er Jahre New York, genauer Greenwich Village, sondern auch über ihren eigenen Tod, in einem „Temporären Testament“ – und das ist wieder eines dieser Gedichte, die Wichtiges verkünden. Nämlich, dass wir sprechen sollten, lieben sollten, solange wir noch können.

„Den wahren Freunden, – ach, sie sind zu zählen!
Werd ich vielleicht zuweilen etwas fehlen.
Moral: Was euch im Leben zu mir zog,
Hebt es nicht auf für meinen Nekrolog!“


Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. München (dtv Verlagsgesellschaft) 2017. 112 S. 12,00 Euro.
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