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Markus Hallinger: Erfahrungen mit Edna St. Vincent Millay und Rudolf Borchardt

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau
Markus Hallinger

Erfahrungen mit Edna St. Vincent Millay und Rudolf Borchardt


Immer wenn ich bemerke, dass ich mich zu verzetteln beginne und Kunsthandwerk produziere, das heißt, meine Vorstellung ein Bild malt von dem Text, der entstehen soll, und ich diese Vorstellung nachzuahmen versuche, schrillen die Alarmglocken. Ein Ekel befällt mich, vor mir und der Literatur. Ich habe mich überfressen, bin satt und selbstzufrieden geworden. Ich muss wieder zurück auf Los, zurück zum Anfang. Ich muss wieder in den Brunnen steigen.
    Auf meinem Tisch, in Griffweite, liegt ein Buch, das mich erinnert und das ich immer dann zur Hand nehme, wenn ich in diese Not gerate: Die Entdeckung Amerikas - Rudolf Borchardt und Edna St Vincent Millay, im Lyrik Kabinett München 2004 erschienen. Seit Jahren begleitet es mich. Über dieses Buch zu schreiben, hieße über Rudolf Borchardt und seine Erfahrungen mit den Gedichten Edna St Vincent Millays zu schreiben, über den Prozess des Entdeckens, den Sog, in den Rudolf Borchardt gerät und wie sich sein Bild von Dichtung damit revidiert. Dieser Prozess ist im Buch herausragend, und von Gerhard Schuster in dem einleitenden Aufsatz ausführlich und anschaulich dargestellt.
    Es geht mir mit diesem Buch auch nicht um Übersetzung, zumindest um das, was man gemeinhin unter Übersetzung versteht. – Dazu kann man Love ist not all, die Gedicht- Übersetzungen von Günter Plessow lesen, aber bitte, wenn man es tut, noch bevor man die Entdeckung Amerikas zur Hand nimmt, sonst erfährt man womöglich dieselbe herbe Ent-täuschung, wie ich sie erfahren habe. Andersherum, wenn beide, zuerst Plessow, dann Borchardt.
    Freischwingen ist vielleicht das Stichwort, das auf diese Texte zutrifft. Oder doch besser Loslösung? Entfesselung? Ablegen, zumindest als Versuch, sich von gesellschaftlichen Fesseln und Erwartungshaltungen zu befreien. Im Buch zeigt es sich als ursprüngliche Emanzipation. Borchardts Erklärungsversuche, sein Bild der Frau, das er darin zeichnet, kann man getrost vergessen, sind die eines bürgerlichen Mannes aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Den Kern allerdings hat er berührt: diese Dichtung ist Fortschritt und Rückschritt gleichzeitig und reicht über die Jahrhunderte. Sappho noch einmal, unglaublich und wirklich, nennt Borchardt Edna St. Vincent Millay.
    Es sind unerhörte Vorgänge, die sich hier abspielen, in einer unerhörten Sprache geschildert.

………………..

Feet runnig in the corridors, men quick -
Buckling their sword-belts bumping down the stair,
Challenge, and rattling bridge-chain, and the click
Of hooves on pavement – this will clear the air.
Private this chamber as it has not been
In many a month of muffled hours; almost
Lulled by the uproar, I could lie serene
And sleep, until all`s won, until all`s lost
And the door`s opened and the issue shown,
And I walk forth Hell`s mistress… or my own.


Füße rennen in den Korridoren, Männer, die sich rasch ihr Schwertgehänge
umschnallen, poltern die Treppe hinunter, laute Rufe und rasselnd die Kette der
Zugbrücke, und das Klappern von Hufen auf dem Pflaster – das wird die Luft
reinigen.
Still und vertraulich die Kammer jetzt, wie sie manch einen Monat dumpfer
Stunden nicht gewesen war; von diesem Aufruhr eingewiegt, könnte ich fast
heiter liegen und schlafen, bis alles gewonnen, bis alles verloren ist, und die Tür
aufgeht, der Weg ins Freie vor mir liegt, und ich hinausschreite, der Hölle
Herrin… oder mein eigen.

Deutung, besser gesagt, Interpretation, erübrigt sich. Millays Sonett und Borchardts Übersetzung laufen hier Hand in Hand – und überlassen mich, nach dem ersten Schock, dabei der Frage, ob es tatsächlich die Form des Sonetts für solch ein Stück braucht. Tatsächlich weigere ich mich, Millays Sonett Borchardts Textform vorzuziehen. Was vielleicht auch eine Frage des heutigen Lesers ist. Verpackung nervt. Auch wenn sie noch so kunstvoll ist, verhüllt sie, lenkt ab, und auch wenn sie perfekt daherkommt, bleibt sie gemacht, ist Handwerk und setzt das Sprechen in ein künstliches Licht. Es geht sichtlich anders.
    Borchardt schält die Form ab mit einem unfassbaren Gespür für Sprachmelodie und Diktion. Das Werkzeug Sprache steht ihm vorsatzlos zur Verfügung. Auch dort, wo er scheitert, in den fragmentarischen Textstücken. Es kommt ihm ja öfters der große Schwung abhanden, und er bricht ab, bemerkt, dass er aus dem Gewässer heraus ist, und weiß, dass sich von außen, von oben herab, dieses Gewässer nicht ergründen lässt.
    Diese Art Dichtung, wie ich sie sonst kaum wo finde, ist wie ein Fließen von Flüssigkeit, ist der Strahl der entsteht, wenn ich einen gefüllten Krug ausgieße. Wobei das Wort „aus einem Guss“ zu wenig ist, weil es sich nur auf die erstarrte Form bezöge, es hier tatsachlich das Gießen selbst ist, pure Bewegung. Eruption mag die Bedingung sein, aber der Vorgang an sich bleibt magisch – und diese Magie tanzt vor den Schatten des Feuers – your shadow leaping behind the fire against the red rock – wie es Eliot im Tod des Sankt Narzissus beschreibt. Hier geschieht es, ist es der tanzende Schatten selbst, der sich zeigt. Nicht überall, ja, oft wird er nur kurz von einem Blitzlicht erhellt, aber oft auch, verblüffend oft, tanzt er eine ganze Weile lang.

Endlich wieder heraus aus dem abgebrühtem Wissen und dem Kalkulieren.

Approaches, and rides past with speed increased,
Dark spots and flecks of foam upon his beast?
What shouts he from his saddle, turnig `round,
As he rides on? – Greatings! – I made the sound; -
Greetimgs from Nineveh!- it seemed, at least.
Did someone catch the object that he flung?
He held some object on his saddle-bow,
And flung it towards us as he passed; among
The children then it fell most likely; no,
Tis here: a little bell without a tongue.
Listen; it has a faint voice even so. –

„Was für ein Reiter sprengt aus dem dunklen Osten wie
aus einem Wald heran, und mit raschem Gestampft der Hufe,
jetzt leicht, jetzt lauter auf dem harten Grund, nähert er sich
und reitet mit wachsender Eile vorbei, sein Tier ganz übersät
und fleckig von dunklem Schaum? Was ruft er vom Sattel nach
allen Seiten hin, während er vorbeiprescht? – Grüße! – Und
ich verstand: - Grüße aus Ninive! – so schien es wenigstens.
Fing jemand das, was er in die Luft warf, auf? Er hielt etwas
an seinem Sattelbogen und warf es, als er vorbeiritt, uns, die
wir dort standen, zu; es muss wohl unter die Kinder gefallen
sein; nein,
Hier ist es: eine kleine Glocke ohne Klöppel.
Horch; auch ohne einen solchen spricht sie mit schwacher
Stimme.“


(Gerhard Schuster:) Die Entdeckung Amerikas. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay. Gedichte, Übertragungen, Essays. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2004, 306 Seiten. 28,00 Euro.
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