Marcus Roloff: reinzeichnung
Hendrik Jackson
das Land bricht von den Rändern herein
Marcus Roloff - reinzeichnung
Wenn nach all den Abgesängen auf Geschichte, Erzählung und Subjekt, auf Erkenntnismöglichkeit und der definitiven Abkehr aller fortschrittlichen Dichtung von naiver Abbildgläubigkeit noch irgendein lyrischer Realismus möglich ist, dann vielleicht der von Marcus Roloff. In seine Texte ist die Kluft zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem selbstredend eingewirkt, seine Gedichte grundiert das Wissen um die sprachliche Verfasstheit jeden Bildes und jeder Beschreibung. Und doch kann man nicht nur viele reale Szenen und Landschaften, Städte und Situationen wieder erkennen, oft sind die Gedichte ohne ein Grundwissen um die den Landschaften eingelagerte Historie und Atmosphäre nur schwer zu greifen. Das Reale bleibt Bezugspunkt, und damit liegt Roloff ja eigentlich in der Tendenz unserer Zeit, die kleine Revivals des Realismus insbesondere in der Philosophie feiert. Literaturwissenschaftlich sind seine Gedichte in der Tradition Thomas Klings zu verorten, stärker denn je – und das erhärtet natürlich den Verdacht auf eine Engführung von eminentem Sprachbewusstsein einerseits und Bezug zu Geschichte und "Realem" anderereits.
Wunderbar lakonisch zum Beispiel lässt Roloff in "null uhr null das gedicht" eine ganze Epoche Prenzlauer Berg-Dichtung zu Ende gehen in nur drei Zeilen: "geht schon mal vor richtung torpedokäfer" (Anm: einer der bekanntesten und berüchtigtsten Versammlungsorte der Dichter bis in die 90er): "gilben die jahre die wände fangen zu/ reden an von schnee überm bierglas.//"
Aber auch sentimentale Zeilen oder stimmungsvolle stehen bei Roloff bewusst neben lapidaren, fast zufälligen Beobachtungen und dann wieder Zitaten oder Anspielungen. Keine Hierarchie errichtet hier Rangfolgen, sondern Roloff dokumentiert treu, aber eigenwillig die Spuren seiner Wahrnehmung von Landschaft, Geschichte und privater Verstrickung.
Er weiß um die historischen und sprachlichen Strukturen, die allem je schon eingeschrieben sind:
"nichts steht so fest wie gedachte stimmen". So schraffieren seine Texte immer wieder fremde Reden – Brocken und Fundstücke von Diskursen. Ob Geschichte ins Subjekt zeichnet oder das Subjekt die Beobachtungen ins Reine abzeichnet – das bleibt offen.
Gerade durch die Bruchstückhaftigkeit seiner Verse kommt er dabei dem Abraum Realität sehr viel näher als jede verbindende Beschreibung. Und kann vergleichsweise unbekümmert sogar ein lyrisches Ich spazieren führen.
Wenn es zum Beispiel heißt "der winter verklemmt mir die Ufer", so ist das nicht so sehr expressionistisch gemeint, als konkret: der Zugang zu den Ufern ist unter Schnee schwerer zugänglich und "der lieps und die gräser liegen im restgrün wie unter milchglas". Und doch steigt so eine Schwere aus den Gedichten, die gleichsam von der Landschaft herkommt: "bricht das land von den rändern herein" (...) "während von hier aus ich noch versuche// einen fuß in seine richtung zu setzen" – endet das Gedicht dorfweg mit waldrand.
Gedichte wie frankfurtsermon lassen stärker den Kling anklingen ("geludertes/ schrittfürschritt durch den kaisersack"), doch wurde es nicht geradezu Zeit, dass endlich wieder jemand, und zwar aus größerem Abstand, an diesen Meister anknüpfte? (Zum Thema der "Nachfolge" passten die roloffschen Zeilen: "eine zeitlang dachte ich die codes wären/ geknackt, aber das programm ist veraltet" – sprich: es muss neu geschrieben werden). Auch Roloff weiß unseren Alltag und all das, was für gewöhnlich in Gedichten selten auftaucht, das Hässliche und Nebensächliche, wieder hereinzuholen in die Beobachtung. Genau hinzuschauen, statt auszublenden, ist seine Stärke – in den Zeitschichten buddelt er ohnehin. Gerade das Graufarbene und Nüchtern-Expressive seiner Zeilen atmet eine spezifisch deutsche Atmosphäre. Jedenfalls kann ich mir seine Lyrik in keinem anderen Land vorstellen; sie hat, so unpathetisch sie sich zuweilen gibt, etwas fast bobrowskisch Zersiedeltes und ermöglicht bei aller Derbheit einen ruhigen, leicht schwermütigen Blick auf Themen wie eine möbelfabrik, pappeln um stendal, natürlich auch hiddensee oder den henninger turm und zu guter Letzt sappho (alles Gedichttitel). Und zwischendurch wunderbare Satzteile wie "du ruderst/ in die hinterste schmalzluft (ecke)" oder "zypriotische schwere des/ lichts" – die einen auch zu den kryptischeren Zeilen Roloffs (etwa "lava des juweliers/das scholastische vieh im/ dissimetrischen moos (...)") immer wieder zurückkehren lassen.
Marcus Roloff: reinzeichnung. Gedichte. Heidelberg (Verlag Das Wunderhorn) 2015. 80 Seiten. 17,80 Euro.