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Lisa Jeschke: Hélène Cixous’ Das Lachen der Medusa

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau


Lisa Jeschke

Hélène Cixous’ Das Lachen der Medusa:
Spät, neu übersetzt

Esther Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer (Hg.), Hélène Cixous: Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen (Wien: Passagen-Verlag, 2., durchgesehene Auflage 2017 [2013]).


Es ist eigentlich unglaublich, dass Hélène Cixous’ (*1937) „Das Lachen der Medusa“ (1975) erst mit dem hier besprochenen Band (2013 und in zweiter Auflage 2017) auf Deutsch erschienen ist. Die Herausgeberinnen Esther Hutfless, Gertrude Postl und Elisabeth Schäfer setzen sich mit der Tatsache, dass die Übersetzung so spät erfolgte, dezidiert auseinander. Dem ca. 20 Seiten umfassenden Essay/Manifest der französisch-algerisch-jüdischen Intellektuellen sind ein Vorwort und eine historische Kontextualisierung der Herausgeberinnen vorangestellt; auf Claudia Simmas Übersetzung folgen ihre eigenen Detailkommentare zur Übersetzung sowie mehrere wissenschaftliche Aufsätze, künstlerisch-wissenschaftliche Interventionen und ein Interview mit Cixous.
   Die Herausgeberinnen postulieren gleich zu Beginn ihres Vorworts unter dem Titel „… der luftigen Schwimmerin, der fliegenden Diebin ...“ (13–19), dass das Lachen der Medusa ein Lachen sei, „das aus der Zukunft her kommt“ (13). Damit ist die Fragestellung, ob es sich bei Cixous’ Text um ein Relikt einer vergangenen Phase des Feminismus handelt, auf mutige Weise verschoben. Die Übersetzung kommt spät, trotzdem steht sie am Anfang von etwas, das wir noch nicht kennen. Folgerichtig stellt der letzte Beitrag, Schäfer und Simmas Interview mit Cixous unter dem Titel „Medusas ‚Changeance‘“ (181–91), die weiterführende Frage: Wenn wir die Zukunft der Medusa sind, was wird die Zukunft der Zukunft sein? Auf Schäfers Überlegung hin, ob Medusa heute als eine „queen of queers“ aufgefasst werden könnte und wie es sich wohl „in 250 Jahren“ (182) verhalten werde, spricht Cixous zustimmend von der „Wandelbarkeit“ (182) der Medusa, die sich auch zukünftig in einem ständigen „Übersetzungsprozeß“ (183) befände – ganz dem zentralen Konzept von Das Lachen der Medusa entsprechend, nämlich dem der écriture féminine, einer Konzeption, auf die Cixous tatsächlich keinen statischen Besitzanspruch zu stellen scheint. Schon in ihrem Ausgangsessay definierte sie die écriture féminine vor allem über deren Nicht-Definierbarkeit, Dynamik, Spreng- und Exzesskraft: „Unmöglich eine weibliche Art des Schreibens zu definieren, das ist von einer Unmöglichkeit die weiterbestehen wird, denn man wird diese Schreibart nie theorisieren, umgrenzen, kodieren können […] Aber sie wird immer über den, vom phallozentrischen System bestimmten Diskurs hinausführen.“ (47, Kommasetzung wie im Original)
    Der Zeitpunkt der Übersetzung ins Deutsche wird im Band zudem insofern wiederholt thematisiert, als dass die Verfasserinnen diese Übersetzung von der 1976 erschienen Übersetzung ins Englische von Keith Cohen und Paula Cohen abgrenzen¹ und sie damit nicht nur als späte, sondern auch als Neuübersetzung – gegenüber dem Englischen – positionieren. Wie Elissa Marder in ihrem Beitrag „Die Kraft der Liebe“ (87–99) feststellt, war die englische Version für die große internationale Bekanntheit von Cixous’ Essay mitverantwortlich, sei aber schon aufgrund der „Übersetzung von l’écriture féminine als women’s writing im ersten Satz des Essays“ (90) problematisch, da féminine im Französischen ein Adjektiv sei, „das ein (weibliches) Substantiv modifiziert und nicht eine Qualität des Schreibens, die mit jenen Menschen assoziiert wird, die aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts ‚Frauen‘ sind“ (90). Diese Analyse mag korrekt sein, ignoriert allerdings die praktische Weiterentwicklung der Rezeption, schließlich hat es sich im anglophonen Raum in Bezug auf Cixous’ Text eingebürgert, von écriture féminine – also nicht von women’s writing – zu sprechen, die „Missverständnisse“ (90) sind nicht so groß, wie Marder suggeriert. Im Eintrag zu Cixous der Norton Anthology of Theory & Criticism heißt es beispielsweise: „Cixous […] is known in the English-speaking world primarily as a mid-1970s feminist theorist, a leading practitioner of what is called écriture féminine – feminine writing.“² Sowohl das französische „féminine“ als auch das englische „feminine“ sind weniger biologisch als symbolisch-kulturell konnotiert. Fast problematischer erscheint es da, dass Claudia Simmas Übersetzung mit der Verwendung von „weiblich“ wiederum mit einer stärker biologisch konnotierten Wortwahl arbeitet: „Ich werde über weibliche Schrift sprechen: darüber was sie bewirken wird“ (39) lautet hier der erste Satz, der damit keinen Gebrauch von sozial-konstruktivistischen Terminologien macht (z. B. ‚weiblich*‘, ‚feminisiert‘, allerdings um 2013 weniger weithin verfügbar). Mit der Entscheidung für „Schrift“ statt dem ebenso möglichen „Schreiben“ evoziert „die weibliche Schrift“ zudem eher ein vollzogenes Werk als den von Cixous betonten aktiven Vorgang eines körperlichen Schreibens.
    In vielerlei anderer Hinsicht wird Simmas Übersetzung von „Das Lachen der Medusa“ (39–61) der Dynamik des Ausgangstexts aber gerecht, so beispielsweise in der Wiedergabe Cixous’ unkonventioneller Kommasetzung. In ihren „Anmerkungen zur Übersetzung“ (63–70) legt Simma dar, dass es weder im Ausgangstext noch in ihrer Version um eine willkürliche Regellosigkeit geht, vielmehr darum, Kommas präziser inhaltlich mitzudenken, als man es bei bloßer Regelbefolgung tun würde. Mit einer beispielhaften Passage („Mes yeux, ma langue mes oreilles mon nez ma peau ma bouche mon corps – pour – (l’)autre, non que je le désire pour me boucher un trou, pour parer à quelque mien défaut, ou talonnée destinalement par la féminine ‚jalousie‘ […]“, 64) setzt sich Simma wie folgt auseinander:

Nach dem ersten Element der Aufzählung „Mes yeux [meine Augen], ...“ steht noch ein regelgerechtes Komma. Aber sobald „ma langue [meine Zunge und Sprache]“ im Text genannt ist, werden die Kommata der Aufzählung von einer Art reißendem Sprachfluß weggeschwemmt, weggetragen (enlevé). Das weiblich fließende Übergehen jedes Sinnes des Körpers in jeden anderen bekommt dadurch musikalischen Ausdruck. Als der Text dann im zweiten Satzteil Bezug nimmt auf verschiedene Arten, Weiblichkeit über Mangel und Penisneid zu definieren, erscheint ein Komma, wo eigentlich keines hingehört. (64)

Den fließenden Übergang vom regelkonformen Komma zum Weglassen von Kommas zu einem absichtlich falsch gesetzten Komma reproduziert sie entsprechend in der Übersetzung: „Meine Augen, meine Zunge und Sprache meine Ohren meine Nase meine Haut mein Mund mein Körper – für den Anderen – als Anderes, nicht daß ich ihn/sie/es begehre um mir ein Loch zuzustopfen, um einem meiner Mangel abzuhelfen, oder weil mir schicksalsbedingt die weibliche ‚Eifersucht‘ auf den Fersen wäre.“ (56)
    An der gleichen Stelle können wir eine weitere Hauptstrategie von Simmas Übersetzungsarbeit beobachten, nämlich die doppelte Wiedergabe zweideutiger Wörter: „ma langue“ hier als „meine Zunge und Sprache“, an anderer Stelle „voler“ beziehungsweise „vol“ als „fliegen/stehlen“ beziehungsweise „Flug/Diebstahl“. Heißt es in der englischen Übersetzung an einer entsprechenden Stelle noch „[F]lying is woman’s gesture“,³ wobei die zweite Bedeutung erst einige Zeilen später hinzukommt („we’ve lived in flight, stealing away“), so finden wir im Deutschen sofort die zweifache Bedeutung vor: „Sich davonstehlen, entfliegen, das ist die Bewegung der Frau“ (53). Eine solche Verdopplung, eine Sequenz verschleppter Bedeutungen, kann ganz im Sinne von Cixous’ dekonstruktivistischer Methode verstanden werden, andersherum aber auch als eine akademische Übergenauigkeit, die der Poetik des Ausgangstexts gerade nicht gerecht wird. Dennoch handelt es sich bei der Betonung der Doppelbedeutung von „vol“ um eine willkommene Akzentuierung, umso mehr, da sie im Band im Ganzen wiederholt aufgenommen wird. Eine der für die Gesamtstruktur rhythmisierend wirkenden künstlerisch-wissenschaftlichen Kurzinterventionen ist beispielsweise die anonym verfasste „Flugschrift“ (131–32). Auf seiner Vorderseite steht dieses Wort in großen geschwungenen Lettern unter einer gestrichelten Linie, auf der Rückseite befindet sich ein kursiv gesetzter prosa-poetischer Kurztext. Die Tatsache, dass dem zuvor schon hervorgehobenen Flug über die Flugschrift ein weiterer Dreh gegeben wird, trägt dazu bei, der Veröffentlichung eine sichtbare Gesamtkohärenz zu geben – sie erscheint als durchdachtes Projekt, nicht als bloße Zusammenstellung von Einzelleistungen.
   Dieses Wiederaufnehmen-in-Variation bestimmter Motive von Beitrag zu Beitrag lässt allerdings gelegentlich den Eindruck entstehen, dass der Band eine Art Mimikry Cixous’schen Stils unternimmt, als müsste die écriture féminine doch archäologisch bleiben, als könnte sie nicht ganz anders imaginiert werden. Das kettenförmige Weiterreichen von Bedeutungen wird nicht erst mit Simmas Übersetzung initiiert, sondern schon im Vorwort („Schreiben, Lesen, Lesen, Schreiben … die Prozesse sind nicht mehr zu trennen, sie changieren, sie gehen ineinander über, entwickeln sich auseinander, ein wiederkehrender Rhythmus von Schreiben, Lesen, Lesen, Schreiben“ (17)), und findet eine besonders verschlungene Fortsetzung in Ulrike Oudée Dünkelsbühlers Beitrag „Lengage der Libellen“ (101–118) mit seinem Spiel mit Neologismen, Mehrsprachigkeit, Alternativen, Selbstunterbrechung, Selbstkorrektur: „Und ich bin, am besten gebe ich es gleich zu, voller Überneid, wie Hélène Cixous es schafft, unter, sous, mit, nein, in diesem Auftrag-Vertrag-Pakt des Lesens/Lebens – des Lebenlesenzulernens –, trotz dieser übergewichtigwichtigen Überichdichte in die Vollen zu gehen“ (102).
    Nicht nur stilistisch, auch inhaltlich wird Cixous’ Essay vor allem verteidigt. Angesichts des Anliegens der Veröffentlichung, die erste deutschsprachige Übersetzung vorzulegen, mag dies gerechtfertigt sein, doch würde eine kritischere Historisierung den Text nicht weniger relevant machen. Im Bestreben der Herausgeberinnen, die (unbestreitbare!) Relevanz des  poststruktu-ralistischen Feminismus zu unterstreichen, werden andere bzw.  zeitgenössische Feminismen tendenziell beiseite geschoben: „Feministische Politik besteht nicht nur im Organisieren von Demonstrationen“ (35), schreibt Postl in ihrem einführenden Kontextualisierungskapitel „Eine Politik des Schreibens und Lachens“ (21–37). Zwar kann Postls Feststellung, der heutigen feministischen Philosophie gehe es nicht so sehr darum, „die abendländische Philosophie aus den Angeln zu heben“, sondern eher darum, „sich selbst einen Platz in einer immer enger und schonungsloser werdenden Jobverteilungsmaschinerie zu erkämpfen“ (21), als adäquate Kritik eines institutionalisiert-liberalen Feminismus gelesen werden, sie übersieht dabei aber diejenigen materialistischen Feminismen, denen es darum geht, beispielsweise durch das Organisieren von Demonstrationen die abendländische Jobverteilungsmaschinerie aus den Angeln zu heben. Warum nicht Demonstrationsslogans als écriture féminine?
   Daher sind besonders die Beiträge erfrischend, die sich weniger stark der Verteidigung beziehungsweise Nachahmung von Cixous widmen. Dazu gehört insbesondere Eva Laquièze-Wanieks Auseinandersetzung mit dem „Frauen- und Subjektbegriff in Hélène Cixous’ Écriture Féminine“ (135–53), in dem die psychoanalytischen Theoriebezüge von Cixous differenziert dargelegt werden. Ebenso übersichtlich fächert Silvia Stoller im Beitrag „Warum lacht Medusa?“ (155–70) verschiedene Theorien des Lachens auf – Superioritätstheorie, Inkongruenztheorie/ Kontrasttheorie, Entspannungstheorie (155–58) – um schließlich eine Theorie des „subversiven“ und „befreienden“ Lachens in Bezug auf Medusas körperlich-feministisches Lachen zu entwickeln (158–64), ein Beitrag nicht nur zur Cixous-Forschung, sondern überhaupt zur Theorie des Lachens.
  Mit Simmas Übersetzung wie mit der Gesamtstruktur des Bandes gelingt es den Herausgeberinnen also, Cixous’ Text neu zu kommunizieren, Medusa zu übersetzen – wissenschaftlich fundiert, aber jenseits der Wissenschaft relevant. Es ist deshalb schön zu sehen, dass der Band derzeit als Ausstellungs- und Gebrauchsobjekt Teil der Ausstellung „Radio-Aktivität“ im Lenbachhaus in München ist (18. Februar bis 13. September 2020), in der es um „Kollektive mit Sendungsbewusstsein“ geht: Radiokollektive und -projekte aus den 1920ern, die Situationisten und die Münchner Gruppe SPUR, die Antipsychiatriebewegung aus den 1970ern und eben um das „Schreiben gegen das System“ von Cixous und anderen Feministinnen der Zeit. Ein solcher kollektivierter Zusammenhang macht die emanzipatorische Kraft von Cixous’ Vorhaben aus erweiterter Perspektive deutlich, besonders in medientechnischer und -ökonomischer Hinsicht. „Das Lachen der Medusa“ wird als im Körper verankerte Arbeiterinnen-Radio-Station der 1970er hörbar, die Arbeiter-Radio-Stationen der 1920ern wiederum als feministische Tech-Sabotage des (kapitalistischen, patriarchalen, organischen) Volkskörpers lesbar, die beiden widersprüchlich vereint durch die Suche nach neuer Kommunikation, neuen Kommunikationswegen, die noch lange nicht gefunden sind: Wir werden über das Schreiben der Feminisierten sprechen: darüber, was es bewirken wird.




¹ Hélène Cixous, „The Laugh of the Medusa“, übers. v. Keith Cohen und Paula Cohen, Signs 1976 (1:4), 875–93.
²  „Hélène Cixous“, in The Norton Anthology of Theory and Criticism, hrsg. v. Vincent B. Leitch (New York und London: Norton, 2010), S. 1938–1959, hier S. 1938. Der Eintrag besteht aus einem Einführungstext zu Cixous und einem Wiederabdruck von „The Laugh of the Medusa“.
³  Cixous, The Laugh of the Medusa, 887.
Lenbachhaus, „Ausstellungstexte“, als pdf-Download verfügbar unter  
Zugriff am 17.8.2020. Am 14. Juli 2020 konnte ich hier an einer Lesungsperformance der Künstlerin Karolin Meunier zu Carla Lonzis (1931–1982) „Vai Pure“ (1980) mitwirken; siehe https://www.lenbachhaus.de/entdecken/kalender/termin/lesung-2259, Zugriff am 29.8.2020. Auch Meuniers Übersetzungsprojekt setzt sich künstlerisch mit der Frage der späten Übersetzung auseinander. Kaum überraschend scheinen selbst international bekannte feministische Texte der 1970/80er kaum überliefert, insofern ist Hutfless/Postl/Schäfer/ Simmas und Meuniers Arbeit auch jeweils eine der Archivbildung.
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