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Kristian Kühn: Michael Braun und das große Sanktuarium der Poesie

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Kristian Kühn

Michael Braun und das große Sanktuarium der Poesie


Michael Braun wird mir fehlen. Doch noch ist er da, klopft in mir an, und ich frage mich, was soll, was kann ich tun, um wieder meinen Platz in den Signaturen zu finden, den er seit seinem Tod einen Tag vor Weihnachten schlagartig eingenommen hat, und seitdem ich mich irgendwie ausgesetzt fühle.

Für mich war er immer eine Art Wächter der Szene, wenn man so will: des großen Sanktuariums Poesie. Er war es, der dieses Feierliche hatte, dieses ein bisschen Steife, ein bisschen Zeremonie – allein das Datum seines Weichens, eine Art Aufrichtung, den Tod mit der Geburt in Analogie zu setzen. Allein das Seriöse, das Vertrauensvolle, das Formwahrende, auf den einen „Punkt“ hinzusteuern, den er selbst setzte und ausarbeitete, sei dieser ein Narrativ, eine Erinnerung, eine verkappte oder offene Poetik, ein Prinzip. Ohne dabei Wasser aus dem Glas, das er vor sich trug, zu verlieren oder zu schwanken, ohne Personen auszugrenzen und doch den Kurs zu halten und doch nur jene Lyrik zu besprechen, die es seiner Meinung nach verdient hat, aufgefaltet zu werden. Er rezensierte nicht alles, was ihm vorgeschlagen wurde. Und kritisieren? Wenn überhaupt, dann durch die Blume. Die Auswahl allein stand für einen Teil seiner Kritik, auch als Juror beim Lyrikpreis München. Sehr vorsichtig kam er zur Expertise, schlug oft das Leise, das weniger Wehrhafte vor, wenn es verborgene Analogien zu großer Dichtung gegeben haben sollte, nannte er diese, wich zwar nicht zurück in seinen Argumenten, sobald Gegenstimmen ihn laut und eifrig mit Zeitgeist überfahren wollten, verstummte dann aber. Deshalb freut es mich, in den vielen Nachrufen immer wieder zu lesen, dass er mit seiner Akzeptanz Türen geöffnet und die betreffliche Dichtung gefördert habe. Alles sei in Ordnung, sagte er mir anfangs, vor etwa zehn Jahren, solange wir nicht Gefälligkeiten in die Arbeit weben, solange wir nicht parteiisch seien oder uns für eine vermeintliche Zeittendenz verbögen. Deshalb der Wächter als Funktion. Deshalb die Observanz. Gegen das Mitläufertum! Nun bleibt aber der Wächter außerhalb der Pforte oder ganz am Rande innen.

Da schreibt ein Gerhard Falkner in seiner Polemik „Das Gedicht und sein Double“ (Bella triste, Heft 19, 2007) von ihm als dem „unermüdliche[n] Michael Braun“, der alles dransetzte, der jungen Lyrik, der ungeschützten, jener ohne Bekanntheitsgrad, es schwer zu machen, und dass er der Anthologie „Lyrik von JETZT“ (2003) einen Generalverriss verpasst habe und deshalb ein typisches Beispiel für die desolate Praxis deutscher Lyrikkritik sei. Denn er habe seinerzeit nicht ein einziges Talent erkannt.

Ich kenne diese Kritik nicht von Braun, wohl aber ist mir bekannt, dass es auch einen Aufstand bei der Rezension von „Lyrik von JETZT 3“ gab, die 2016 in den Signaturen erschien, nicht von ihm verfasst. Darauf bezieht Michael Braun sich in seinem Aufsatz „Mutmaßungen zur Lyrikkritik“, erschienen auf der Online-Seite „Lyrikkritik“, und zwar als nur einen Sturm im Wasserglas, woraus aber auch hervorgeht, dass er als Kritiker nicht Vorlieben oder Abneigungen ausdrücken, sondern das Gedicht am Werk selbst messen wolle, sprich: inwieweit das Bauprinzip desselben tatsächlich verfolgt und ausgearbeitet worden sei.* In seinem Essay „Sechs Vignetten zum Gedicht im 21. Jahrhundert“ (in der von ihm mit Hans Thill herausgegebenen Anthologie „Aus Mangel an Beweisen“, 2018) schlägt er allerdings eine andere Lesart für Poesie vor: Er bezieht sich dort auf die Fähigkeit des Dichters, „sich […] in der Unsicherheit und Ungewissheit zu bewegen, mit einem nicht-identifizierenden Sprechen, das sich im Modus des Übergangs befindet […]. Das Gedicht geht also in die Ungewissheit, es liefert keine Beweise, es spricht […] ,Aus Mangel an Beweisen‘“. Meinolf Reul kommt in seiner Rezension der Anthologie zu dem Schluss: „Das Gedicht weiß es auch nicht besser, seine Position ist zweifelhaft, sein Ziel liegt im Ungefähren. Dennoch wählt es das Sagen anstelle des Nichtsagens; das Nichts auf sicherer Habenseite, begibt es sich auf Sinnsuche. Doch worin bestünde der Sinn eines Gedichts? Wäre ihm ein anderer Sinn zuzubilligen als der, formal schlüssig zu sein, und damit gut? Das jedenfalls springt im besten Fall dabei heraus: ein gutes, formal schlüssiges Gedicht.“ Und so sind wir beim Narrativ gelandet, dem Vergleich in Form einer Analogie, die vielleicht gar nicht genannt, bestenfalls in Fußstapfen, aber spürbar tiefsinnig sein mag. In letzter Zeit besonders, da suchte Michael Braun gern die historische Begleitbestimmung, das Ausleuchten aller – und seien sie noch so entlegen und fein – Varianten und Linien der überlieferten Tradition, wobei das Gesellschaftliche und der Umbruch die entscheidende Rolle spielten, denn Tradition ist nur dann relevant, wenn sie sich an der Gegenwart messen lässt und von dieser beeinflusst wird. Sich sozusagen anpasst und einschmiegt.

Welches waren die Regeln dieser Braunschen Observanz? Es mag jetzt komisch klingen, aber er hat recht gerne Nachrufe verfasst. Besorgt, jemanden nicht die letzte Anerkennung und Einordnung zu erweisen oder im Ernstfall nicht vorbereitet zu sein, hatte er Eckdaten und Besonderheiten einiger Personen schon in der Schublade, und allein seine Titel dieser Nachrufe, die er, wenn möglich, mit Buchveröffentlichungen zusammenmischte, zeigen, worauf es ihm ankam und wie er sich selber wohl auch im Vergleich sehen und analog akzeptieren konnte: „Ich knete die Materie“, „Strömungslehre der Poesie“, „der letzte Lyrik-Enthusiast“, „Verlorensein als Weltgefühl“, „Zirkusdirektor der modernen Poesie“, „die Idyllen der Revolte“ und „Möglichkeit der Himmelfahrt“.

Waren sie strikt, diese Einordnungen? Er hatte eine skeptische (wohl berufseigene) und eine latent hermetisch spirituelle Ader dabei. Grenzphänomene interessierten ihn**, literarische Partisanen. Enthusiasmus. Stolz. Dies zeigt auch seine Auswahl der literarischen Zeitschriften und Almanache, die er monatlich, ganz nach eigenem Gusto, in seiner Kolumne vornahm. Er liebte die Vielzahl der essayistischen Versuche, der Spurensuche, Licht in das Sanktuarium zu tragen, hier war er ganz zuhause, der Wissenschaftler, ganz der Wächter und Wärter.

Stark beschäftigten ihn Doppelgesichter wie Gottfried Benn, wie Günter Eich. Also das Stranden der Poesie in Umbruchszeiten sowie der Stolz, die nötigen Wandlungen zu überleben, mitzumachen in Rückschlägen oder schweigend ihnen zu widerstehen. Wenn schon nicht Götterliebling zu sein, wie er es bei Hans Magnus Enzensberger anmerkte, dann Zirkusdirektor des modernen Poesielabyrinths, wie seinerzeit Walter Höllerer. Ein Vermittler.

Neun Tage vor seinem Tod schickte er mir das Buch von „einem Autor, den die Gegenwartslyrik schon wieder vergessen hat …“, wie er fürchtete, nämlich seine Anthologie der Aufarbeitung von Günter Eich. Das Buch wird jemand anders besprechen, nicht ich. Denn gleich zu Anfang geht seine Suche ins Wasser bei Biel. Wasser und Tod als Abhaken? Als Verweigerung? Als Wandlung? Für die Signaturen ist sein plötzlicher Tod ein großer Verlust.

Scheitern als Umsonstschreiben? Was, wenn nicht Eich bei seiner Büchnerpreis-Rede 1959 gesagt hätte: „Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst …“ Umsonst, aber für Geld. „Zudem stehen wir Autoren, die wir für den Rundfunk arbeiten, unter den Gesetzen einer Apparatur, die wir immer mit wachsamem Mißtrauen beobachten sollen, auch wo wir uns ihrer bedienen. Wir sind gefährdeter als die Lyriker.“ (Eich, dito).


* https://www.lyrikkritik.de/baer/michael-braun-vignetten/
** https://signaturen-magazin.de/schreibheft-no.-96--2021--.html


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