Klaus Garber: Europäische Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung
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Jürgen Brôcan
Klaus
Garber: Europäische Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung. Eine Einladung
zum Lesen. Göttingen (Wallstein Verlag) 2021. 328 Seiten. 29,90 Euro.
Streifblicke gen Arkadien
Eine bescheidene »Einladung zum Lesen« spricht Klaus Garber
aus, indem er die Tür zu einer unerwartet spannenden und weitreichenden Gattung
der europäischen Lyrik einen Spaltweit öffnet. Das Buch versteht sich als
Vorbote eines in Aussicht gestellten großen dreibändigen Werks über die Arkadien-Utopie,
und vielleicht ist das letztlich das größte Manko der vorliegenden ›Einladung‹:
Allzu oft nämlich vertröstet der Autor mit Künftigem und entschuldigt die
(tatsächlich notwendigen) Abbreviaturen, so daß sich durch die penetrante
Wiederholung dieses Umstands beinahe die Frage nach der Berechtigung des Buchs
stellt – hier hätte ein lektorierender Rotstift ansetzen müssen. Denn Garber
ist ein famoser Stilist, dem eine raffende Zusammenschau nicht schwergefallen
wäre, selbst um den Preis verkürzter Gedankenführung. Gleichwohl gelingt es
ihm, so viel Neugier zu wecken, daß man gespannt auf Garbers Opus summum
wartet, in der wohl unrealistischen Hoffnung, daß nicht nur der akademisch
hochbesoldete Spezialist sich diese Ausgabe wird leisten können.
Auch dieses interimistische Büchlein ist eine aufmerksame
Lektüre wert, denn es räumt ein für alle Mal mit der überkommenen Vorstellung
auf, die Hirten- und Schäferdichtung pflege eine harmlose, irenisch verklärte
Idyllik. Zunächst muß allerdings präzisiert werden, daß es sich genau besehen
um eine »Gattungs-Trias« handelt, obwohl die ›Bukolik‹, abgeleitet von boukólos,
Rinderhirt, als »älteste der drei Spielarten« die literarisch vorherrschende
ist. Der Unterschied von Schäferdichtung und Landlebendichtung liegt im
Personal, woraus dann weitere inhaltliche Verschiedenheiten resultieren. Sie
sind seit der Antike bekannt, wohingegen die Idylle eine Erfindung neueren
Datums darstellt, als solche sogar eines der wichtigsten
literatur-geschichtlichen Ereignisse des 18. Jahrhunderts. »Die Schäfer und
Landleute sind ausschließlich Geschöpfe der Literatur«, hebt Garber eingangs
hervor, und gerade dies scheint die Gattung zu einem geeigneten Transportmittel
für höchsten Inhalt zu machen, der paradoxerweise in einer vermeintlich
›niederen‹ Form transportiert wird. Eine Geschichte dieser Gattungen bewege
sich im weltlichen wie auch im geistlichen Milieu, die Übergänge seien
allerdings fließend und eine klare Trennungslinie treffe die realen
Gegebenheiten nicht, erläutert Garber, denn es hätten »binnenliterarische
Ausdifferenzierungen« stattgefunden, die sie »geradezu zu einem Miniaturmodell
der europäischen Literatur und ihrer strukturellen Anlage heranwachsen« ließen.
Um diese These zu belegen, nimmt Garber die Leser zu einem Gang durch die
letzten Jahrhunderte mit, oder vielmehr zu einem Sprung von Bulte zu Bulte,
denn mehr als die wichtigsten Stationen lassen sich in der gebotenen Kürze
nicht aufsuchen.
Die wiederkehrenden Verweise auf Abbreviaturen sind zwar
linkisch, aber leider nötig, denn vor den staunenden Augen breitet sich eine
exorbitante Fülle an Texten aus, über die man noch vieles mehr erfahren möchte.
Alle für das Thema wichtigen Autoren werden aber gestreift, trotz Rücksicht
darauf, daß auf Texte zurückgegriffen wird, die »leicht greifbar und
wohlsortiert in einer großen Privatbibliothek stehen« – wenn auch nicht »fast
ausschließlich«, wie der Autor annimmt, denn zumindest ein paar der zitierten
Editionen dürften das Budget selbst eines versierten Lesers übersteigen. So
wird natürlich Theokrit abgehandelt, auf Bion und Moschos aus naheliegenden
Gründen leider nicht eingegangen; Vergil und Horaz sind unverzichtbar – und man
staunt, wie geschickt ins bukolische Ambiente Fragen von politischer Aktualität
eingeflochten wurden; die Namen von Modoinus und Theodulus dürften nicht jedem
vertraut sein, wohl aber Dante, Boccaccio und Petrarca, ebenso Tasso, Sannazaro
und Cervantes, Spenser und Sidney. Dann verläßt Garber den europäischen Rahmen
und konzentriert sich auf die deutsche Dichtung.
Abgesehen von der Einladung, sich näher mit der
Gattungsgeschichte zu befassen, kann man Garbers Buch auch als Aufforderung
verstehen, die Schätze der älteren deutschen Dichtung nicht zu vergessen. Denn
was hier zu lesen und wiederzulesen ist, eröffnet weite Räume der Sprachkunst
und Imagination, die bei der unersättlichen Gier nach dauernder Innovation und
›Originalität‹ allzu rasch aus dem Blick geraten. Wenn Georg Rudolf Weckherlin
die verwundende Wirklichkeit der (erotischen) Liebe beschwört oder Martin Opitz
eine Form erfindet, die keine direkten europäischen Vorläufer hat; wenn
Friedrich Spee zu unerhörter Metaphorik greift und Angelus Silesius die
deutsche Sprache zu bis dahin unerreichter Eleganz führt –: dann liest man das
auch heute noch voll Ergriffenheit und mit höchstem Genuß. Das »Pegnesische
Schäfergedicht«, ein Gemeinschaftswerk von Georg Philipp Harsdörffer, Johann
Klaj und Sigmund von Birken – die allesamt jenseits der hier vorgestellten
Thematik unbedingt wiedergelesen werden sollten –, enthält Verse in einem
ungemein intensiven lyrischen Ton, den »Wunder« zu nennen Garber sich nicht
scheut; zu Recht, man lese etwa:
Es lisplen und wisplen die schlupfrigen Brunnen/Von jhnen ist diese Begrünung gerunnen/Sie schauren/ betrauren und fürchten bereitDie schneyichte Zeit.
Wie herrlich, in Friedrich Hagedorns glückseligem
Lebensgefühl, wie es sich in einem Gedicht wie »Der Tag der Freude« aus seinen
»Oden und Liedern« äußert, einen trunkenen Vorläufer von Schiller und Hölderlin
zu finden:
Umkränzt mit Rosen eure Scheitel(Noch stehen euch die Rosen gut)Und nennet kein Vergnügen eitel,Dem Wein und Liebe Vorschub thut.Was kann das Todten=Reich gestatten?Nein! lebend muß man fröhlich seyn.Dort herzen wir nur kalte Schatten:Dort trinkt man Wasser, und nicht Wein.
– oder in Salomon Gessners Idyllen dem Auftakt zu einem
singulären Ereignis »in der literarischen Szene des Kontinents« beizuwohnen,
dessen Programmatik in unerhörter Weise das empfindsame Subjekt zu einem neuen,
genießenden Gefühl der Natur abseits der mit negativen Assoziationen behafteten
Stadt aufruft. Leicht kann man darin die zyklische Wiederkehr bestimmter
kultureller Muster erkennen, die eine solche Dichtung nicht veralten und stets
aufs Neue aktuell erscheinen läßt.
Es bleibt zu hoffen, daß nach der Kürze und Verknappung von
Garbers Einladung bald ein längerer Aufenthalt in diesen literarischen Gefilden
erfolgen kann. Auch nach dem Ende des 18. Jahrhunderts ist kein finales Ende
der Gattung zu verzeichnen – Garbers Ausblick auf die Moderne bleibt hier etwas
willkürlich, doch zumindest den Namen Mörikes hätte man vielleicht noch
erwarten dürfen. Dennoch besteht der Vorzug dieses ebenso kurzen wie
kurzweiligen Buchs jedenfalls darin, vergessene Texte ans Licht zu holen und zu
zeigen, wie brandaktuell sie in ihrem harmlosen Gewand einmal waren und wie
wohlkalkuliert sich ihr utopisches Potenzial aktivieren ließ – dies könnte man
fruchtbar machen für die gegenwärtige Dichtung und für die Neubewertung heute
vermeintlich gesellschaftlich enthobener Texte. Und wenn sich als weiterer
(Neben-)Effekt einstellte, daß Werkausgaben wie z.B. die von Garber
mitherausgegebene Sigmund von Birkens auch zu günstigeren Konditionen verfügbar
sind, wäre dies tatsächlich Anlaß zu einem ausgedehnten ›Tag der Freude‹.