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Klaus F. Schneider: Lieber Leser (m/w)

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch
Klaus F. Schneider


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lieber leser [m/w], wenn du vielleicht einen moment zeit hast? dauert nicht lang. ich möcht bloß wissen: wie hältst du es mit dem diskurs?

darauf warst du nicht gefasst! dabei liegt es auf der hand: kunst und kommentar sind so untrennbar miteinander verwachsen wie das efeu mit einem alten grab. wir könnten nun gemeinsam die betrachtungen über das wesen dieser medialen symbiose vertiefen und von masturbat und masturbant sprechen aber da solltest du auch allein weitermachen können … nur paar anhaltspunkte noch: a.) bezogen auf hochkotierte preis- wie prestigeträchtige gebinde drückte Bruno Prats der chef von Cos d'Estournel es beispielhaft so aus: das barrique solle sich zum wein verhalten wie ein rahmen zum bild jedoch sei leider das gegenteil oft der fall ... b.) ist mein text nicht nur kunst und kommentar in einem sondern verfügt außer der metaebene auch noch über eine metabasis … und schließlich c.) wird sich das mit dem diskurs gedankenstrich begradigenden einbettenden kanalarm gedankenstrich auch irgendwann geben denn: die der legitimation dienlichen versatzstücke kann sich eh jede/r auf dem balkon heranziehen und die ergebnisse ihrer/seiner vorstellungen absichten ambitionen damit garnieren denn: es gibt bald keine/n mehr, einkommen-zeit-surplus vorausgesetzt, die/der nicht so einen kunst- oder kreativitätskurs besucht. wer soll da noch was zur kenntnis nehmen wenn alle das zeug selber produzieren & es mit den gleichen schlagworten angerichtet & verweisen abgeschmeckt servieren wie die sternedekorierten meister und andererseits wird diese entwicklung staatlicherseits noch gefördert denn: wusste man früher nicht was aus den kindern werden soll (erstrecht im falle weiblicher nachkommenschaft die man nicht in kriegen verfeuern konnte so wurden diese vor 100 jahren noch dienstmädchen vor 50 sekretärinnen) und heute gehn sie auf die kunstakademie bzw. ein dicht- & denkinstitut ... was dann jahr für jahr eine stattliche anzahl kunstazubis ergibt. und alles schön reingepumpt in die vornehmlich oben immer noch ausnehmend breite alterspyramide (als hätten die 50/60er einen mastring gebildet und die 70er einen trichter). nimmt man noch die privat akadämien und alle sog. freien kunstschulen sowie die angewandten samt den kunsttherapeutischen verzweigungen und verästelungen desgleichen die sommerworkshopepidemien von Grossetto bis Irkutsk die frühjahrs & herbstcamps in diversen ökoreservaten nicht zu vergessen diese sich permanent so selbstlos wie upgradedenden & neu erfindenden fern- & heimkursqualifikationsnachweiserwerbsmöglichkeiten etc. etc. lassen sich volkswirtschaftlich-ethisch-soziale bedeutung & nutzen von kunst jeder sparte weder leugnen noch ignorieren nicht allein was den verwertungssektor & verwesungsapparat betrifft denn: stell dir nur mal vor die würden irgendwo rumhängen und wüssten nicht was tun auf was für gedanken die kämen!

denk ruhig ich sei arrogant und primitiv d.h. so arrogant wie primitiv aber verschon mich bitte mit Beuys (schließlich ist der vom himmel gefallen) denn: dass jeder mensch designer layouter leichtathlet dompteur akrobat jongleur gastronom astronom kosmonaut hebamme und ein großer ficker vor dem herrn ist brauch ich doch dir nicht zu sagen oder?

möglicherweise hätte es gereicht nur diese notiz wiederzugegeben (ein gewisser Burger \ Hochschule für angewandte Kunst \ Wien) die ich auf einem kontoauszug fand als ich auf dem schreibtisch zündhölzer suchte: kann man heute etwas machen was keine kunst ist?

wohl nicht mal ich.


für G.F.F.

In: Klaus F. Schneider: prêt-à-porter. gedichte. Stuttgart (Edition Peter Schlack) 2017. 32 Seiten. 8,00 Euro.

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