Katharina Kohm: Zu Besuch am Grab eines Dichters
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Katharina Kohm
Zu Besuch am Grab
eines Dichters
für Michael Ende
Rätselhaft sind
die Momente, wo sich alle begegnen: Erinnerung, Gegenwart und Zukunft, von
beiden Seiten wird man auf die Backe geküsst in dem einen Moment, den man mit
nichts anderem als einem schwarzen Mantel und einem Schal besuchen, aber
niemals suchen kann.
Als Gast an einem
grauen Tag mit drei rot-orangenen Tulpen im Vorfrühling stieg ich in
Nymphenburg in den Bus. Ich wollte zum Waldfriedhof. Zum ersten Mal war ich auf
der Suche nach einem Grab eines Dichters, des wichtigsten vielleicht meines
ganzen Lebens. In der Mitte meines eigenen Lebens in einer Stadt, mit dem ich
mich bisher noch nicht ganz anfreunden konnte, die sich nicht heimatlich
anfühlen wollte, die ich von mir noch immer fernzuhalten versuchte, die mir
meiner Meinung nach kurzum aber recht geschehen war als der Schatten, das
Fluchttier, das sich in diese für mich namenlose Stadt geflüchtet hatte, nicht
gerettet, denn ich trug noch immer an dieser Schuld, so kam ich dort an.
Beinahe voller Scham, jetzt erst oder schon jetzt zu kommen. Aber
die drei Blumen machten mir ein bisschen Mut.
Ich suchte die Parzelle
auf eigene Faust, aber der Ort war so groß, dass ich ein paarmal im Kreis ging,
weil ich nicht glaubte, dass sich die nummerierte Grabstelle, die ich am
Nordeingang auf einem Plan, eher einer Skizze, gefunden hatte, sich so weit
südlich befinden konnte.
Eine Frau fragte
ich schließlich nach dem Weg zum Dichtergrab. Sie konnte mir das nicht sagen,
denn sie kannte ihn nicht, aber sie sagte, sie bete zum Heiligen Antonius,
damit ich es fände. Sie fragte mich nach meinem Namen. Ich hatte damals einen
Künstlernamen gehabt, aus dem anderen Märchen, aus Ronja Räubertochter, und den
hatte ich hier abgelegt, hier in der Fremde, obwohl er mich vielleicht gerade
hier geschützt hätte, aber das Ei war auf den Tisch gehauen, der Dotter war
schon längst vertilgt, der Mutterkuchen, Nahrungsspeicher. Man muss selber Essen suchen gehen, eigenes
Essen am Ort, an dem man aus dem Nest fällt.
Und sie erfuhr
meinen richtigen Namen. Sie sprach ihr Gebet in mein Gesicht. So etwas hatte
ich noch nie erlebt, aber in einer Stadt der Katholiken noch dazu auf einem
Friedhof kann man solche Momente vielleicht sogar erwarten, und ich nahm es
etwas flüchtig auf, ausweichend. Ich war eines Segens und noch dazu ins Gesicht
gesprochen, nicht gewachsen und würdig. Ganz und gar nicht. Denn scheinbar
wirkungslos vertat ich wieder im Vertreten der Füße meine Zeit, es war schon
nach zwei. Und das Grab konnte ich nirgends finden. Namen auf Steinen, die
nicht die richtigen waren, aber wie perfide, auf einem Friedhof Gräber zu
durchforsten. Man hätte auf jedes, an dem man vorbeiging, eine Blume legen
sollen. Ich freundete mich schon mit dem Gedanken an, es auch nicht finden zu
sollen.
Ein alter Mann
fragte mich, der gerade, wie ich erfuhr, seine Frau besucht hatte, die nun
schon seit über zwanzig Jahren tot war, was ich denn suche, als ich gerade
überlegte, den Friedhof unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Das war
wieder an dieser einen Weggabel, um die ich immer wieder lief. Auch ihm sagte
der Name nichts. Aber er wollte mir suchen helfen. Da Wochenende war, hatte die
Friedhofsverwaltung nicht geöffnet. Wir fanden auch zusammen den einen Stein
nicht, den einen Platz, den ich doch umso mehr finden wollte, je länger wir
jetzt danach suchten und obwohl es anfing, kalt zu werden unter dem Mantel.
Dieser Mann
erzählte viel, war dabei aber nicht aufdringlich. Er sah mich schon an. Als
Mensch mit eigenem Willen und wollte uns die Zeit vertreiben, indem er einige
Geschichten über seine Enkel erzählte.
Gerade in dem
Moment, in dem ich nur noch auf den Weg schaute und ihm zugehört hatte, fragte
er plötzlich mit veränderter lauter aufmerkender Stimme. "Entschuldigen
Sie bitte, wissen Sie den Weg zu diesem Dichtergrab. Die junge Dame hier und ich
suchen das Grab von Michael Ende." und das war eine Frage auf eigene Faust
und ich sah eine kleine Familie. Zwei junge Eltern schoben gerade ihre
schlafenden Kinder in einem Doppelkinderwagen durch die Gegend. Und sie wussten
es. Und sie lächelten auch. Der junge Vater mit offenem Gesicht, der eine
Brille trug, sah mich an und verstand, glaube ich, sofort, wen und vor allem,
was ich da wollte. Wir gingen also zu viert langsam den Weg entlang, den
Hauptweg. Die beiden gingen hinten, der alte Mann und ich gingen vorn.
Wir passierten
die erschreckend uniform aussehenden Gräber der Nonnen und Mönche, auch noch im
Tod durch den Weg getrennt, nach Geschlecht. Sonst hatten aber alle dasselbe
kalte schmiedeeiserne Kreuz auf dem Buckel. Es sah gespenstisch aus. Wie auf
einem Soldatenfriedhof. Als sei die Funkktion und keinerlei Eigenschaft an
diesen Personen wichtig gewesen. Ihm, meinem Dichter, hätte das gar nicht
gefallen.
Wir blieben bald
am Grab einer Künstlerin stehen, da war der alte Mann kurz abgelenkt und die
beiden jungen Eltern, die wohl zu wissen schienen, dass ich das Grab meines
Dichters zuerst allein finden wollte, deuteten leise auf das Grab schräg
gegenüber. Und da war es. Es lag etwas frei, breit und flach da, man konnte
gleich die Schildkröte sehen, die Buchstaben auf dem Rücken, die sich nicht
mehr verändern und immer dieselben bleiben, ein Vermächtnis, sehr wichtige
Worte: Habe keine Angst.
Ich fühlte mich
ertappt. Das war ja das Hauptproblem dieser neuen Phase, in dieser Stadt, diesem
Lebensabschnitt. Es war wie eine Umarmung. Ein Verstehen. Eine Verwandschaft.
Diese kurzen Augenblicke, bevor der alte Mann wieder zu mir trat. Er besah sich
das Grab von allen Seiten. Ich stand, im schwarzen Mantel und mit dem karierten
Schal, davor und wartete. Ich hielt mich zurück. Wie lange habe ich auf diesen
einen Moment scheinbar gewartet und nun war es wieder wie damals, wie immer:
Wagner mit der Zipfelmütze in dem Moment, wo Faust den Erdgeist sieht. Immer
stört etwas. Aber ich nahm es diesmal sehr seltsam versöhnlich hin. Man kann
heilige Momente nicht verschieben, man kann sie aber auch nicht präparieren
oder vorbereiten. Es kommt, wenn es will.
Es sind doch auch
die Lebenden, mit denen wir unsere Zeit teilen, und er hatte mir doch geholfen,
das Grab zu finden, und es hatte sich daraus sogar so eine kleine angenehme und
gar nicht aufdringliche Prozession gebildet, angeführt von den drei baumelnden
Tulpenköpfen an diesem grauen Tag zwischen den hohen dunklen Tannen, vor dem
Grau.
Er erzählte noch
einiges von seinen Enkeln, deren Studium, seinen Kindern und davon, dass er vor
50 Jahren hierhergekommen war. Stimmt, er sprach nicht den Münchner Dialekt,
noch immer nicht. Er kam aus der Pfalz. Ihn hatte die Arbeit hergezogen. Wie
mich, sagte ich, obwohl das nicht stimmte. Ich erzählte ihm, dass mein erstes
Buch, als ich ein kleines Kind war und dass ich mir selber gekauft hatte, eines
von diesem Dichter war. Ich behielt für mich, dass er mir wohl das Leben
gerettet hatte, dass seine Bücher überhaupt erst das in den Vordergrund hatte
treten lassen, was später wurde, denn auch ich schreibe ein bisschen. Und
gerade in den 80er Jahren hat man Kinder noch etwas anders erzogen. So ein
Glück, so ein Kind der 80er zu sein.
Bevor er ging,
erzählte ich ihm noch, dass, bevor er mich gefragt hatte, was ich suchte, eine
ältere Dame den heiligen Antonius angebetet habe, damit ich den Weg zu dem Grab
fände. Und dann sagte er mir, dass man den anbete, wenn man etwas sucht. Dass
das die Alten noch wissen.
Der kleine Kreis
war geschlossen, man konnte es fühlen, dass diese kleine Geschichte nun zuende
war und er verabschiedete sich von mir.
Jetzt war ich
allein mit ihm. Ich stand vor dem Grab, holte die mit Wasser gefüllte
Glasfalsche aus meinem Rucksack und stellte die drei Tulpen hinein. Das war
genau um drei Uhr. Die Glocken schlugen, Drei Stunden-Blumen. Zeit kommt aus
dem Herzen.
Ich las auf dem
Grabstein, der ein aufgeschlagenes steinernes Buch war, die halbverblassten
Buchstaben, las, was dastand, halblaut vor, als wäre das eine alte
Zauberformel, von der ich ja noch nichts wusste. Und es war eine Absolution, es
war eine Begegnung, die ich nur verstand, weil ich durch diese ganze Zeit,
diese drei Jahre hindurchgekommen war und da stand, dass es auf Verwerfung, auf
Schuld oder richtige Taten eigentlich nicht ankam, dass man über sich selbst
nicht urteilen darf. Gerade das, wovon ich selbst ausging, wurde da
angesprochen, von mir ausgesprochen und im Verlauf des Texts ausgeräumt.
"Wenn
überhaupt jemals etwas an ihm gut gewesen war, so war es doch gerade, dass er
sich verworfen hatte, dass er in diesem einzigen Punkt wahrhaftig geblieben
war". Daraufhin bekommt dieser verkrachte Dichter eine Ohrfeige.
Die große Gnade,
die mir dadurch transportiert wurde, das große zweite Mal in meinem Leben, ich
kenne dich schon beinahe mein Leben. Aber es kommt eben darauf an, wer ein
solches Buch in die Hand bekommt. Ich hoffe, dass ich das niemals vergessen
werde. Dieses rundum gute. Habe keine Angst. Die Zeit kommt aus dem Herzen. Und
hört dort auf. Als wäre ich schonmal genau an dieser Stelle gewesen. Als
hättest du mir in Schwetzingen zugeschaut, wie ich selig durch deine Phantasien
lief, durch den Barockgarten, den man mit einem Englischen Garten komibnierte.
Die Sphingen, die Faune, die Hirsche, die Wasser spucken und vor allem der
kleine Apollotempel, von dem ich damals dachte, das ist der Ort, wo das Wasser
des Lebens herkommt. Dass es sich um einen Apollotempel handelte, wusste ich
nicht. Dass aber die Statue ein Musikinstrument in der Hand hielt, das wusste
ich schon. Durch das, worauf es dabei ankam, das hab ich als Kind schon
begriffen. Und die Angst, sich zu vergessen, sich zu verlieren, das Kostbare
daran zu verraten. Das, genau diese große Angst, dort angesprochen und am Ende
ausgeräumt zu sehen. Gerade du. Und gerade hier.
Dass Dinge real
werden, auf diese Art, ohne dass eine Art Membrane dazwischen ist. Dass man ein
Leben führt, geführt wird, dass man Dinge bewegen kann, dass man schreibt und
gelesen wird, egal von wie vielen. Dass man sich über Zeiten hinweg versteht
und sich besuchen kann. Dass man in seinem Herzen eine goldene Kammer hat, in
der die Stundenblumen blühen, dass man die ganze Welt und mehr davon in seinem
Kopf hat, das Universum und mehr, dass der Zauber existiert, und dass man ihn
beschützt. So stand ich da vor dir und fühlte wieder, wie alles dieses
Märchenhafte wahr ist. Zeit kommt aus dem Herzen und hört dort auf. Und der
heilige Antonius hat gelächelt.
Ganzer Auszug auf
dem Grab, dem aufgeschlagenen Buch, in Stein gehauen:
DankeWenn überhaupt jemals etwas an ihm gut gewesen war, so war es doch gerade, dass er sich selbst verworfen hatte, dass er in diesem einzigen Punkt wahrhaftig geblieben war. Wenn er auch darin oder gerade darin gefehlt hatte, so verstand er überhaupt nichts mehr. Nur eines schien ihm klar: das Licht, dem er da gegenüberstand wie einer Person, hatte ihn mit diesem Schlag zurückgewiesen. Und damit war er einverstanden. Er stand auf und näherte sich ein paar zögernde Schritte dem Tor."Es wäre nicht nötig gewesen", sagte er "mich so streng abzuweisen, da ich nicht die Absicht hatte, unerlaubt über die Schwelle zu treten. Mögen Deine Gründe und meine auch noch so verschieden sein, so sind wir uns doch einig darüber, dass ich dort drüben nichts mehr zu suchen habe. Aber ich habe einigen anderen den Weg hierher gewiesen, und ich wüsste gern, ob sie das Tor gefunden haben und hineingekommen sind."Abermals blitzte es vor seinen Augen und dröhnte der Donner in seinen Ohren und er überschlug sich rückwärts, bis er zum Sitzen kam. Diesmal rieb er sich die andere Wange, obgleich sie auch jetzt nicht wirklich schmerzte."Warum schon wieder?", wagte er nur noch flüsternd zu fragen."Weil Du glaubst", antwortete das Licht, "wir seien je Deiner Hilfe bedürftig gewesen, um zu rufen, wen immer wir wollen."Da begann Indicavia zu begreifen, dass es diesem Licht weder um irgend eine Schuld noch um irgend einen Verdienst ging. Vor dem ganz Anderen gab es nichts dergleichen. Noch einmal rappelte er sich vom Boden auf, trat ein paar Schritte vor und fragte: "Wer bist Du?" Unwillkürlich hob er den Arm, einer dritten Maulschelle gewärtig. Aber die blieb aus."Ich", antwortete das Licht "bin Du. Und nun komm!"Da verbeugte sich Indicavia und trat über die Schwelle.
K.
