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Joseph Beuys: Mysterien für alle

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Jan Kuhlbrodt

Popps Beuys


Es gilt hier ein Buch zu besprechen, oder eines zu feiern viel mehr. Denn es ist ein sehr schönes Buch. Aufgetaucht ist es für mich eher unvermittelt, lag plötzlich in meinem Briefkasten, unerwartet wie ein Brief vom Finanzamt, in dem mir eine Steuerrückzahlung angekündigt wird.
Mysterien für alle heißt es und enthält kleinste  Aufzeichnungen von Joseph Beuys, die der Dichter Steffen Popp ausgewählt und mit einem Nachwort versehen hat. Begriffsstudie, philosophische Reflexion, poetisches Fragment und politischer Traktat spannen den Raum auf, in dem sich diese Notate bewegen, ohne sich um Definition literarischer Genres zu bekümmern; heißt es dort. Und Popp umreißt in diesem Satz im Grunde genau das, was ich von einem literarischen Kunstwerk erwarte. Das Grenzüberschreitende, das auf eine zuweilen nichtbegriffliche Art zu Erkenntnis führt.

Interessant dabei ist der Collagecharakter des Bandes. Das Material ist einem dreibändigen Werk entnommen, das von Eva Beuys herausgegeben wurde, unter dem Titel Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle erschien und Beuys Texte von 1941 bis 1986 enthält. Aus diesen Texten wählt Popp aus und ordnet thematisch. Wir erhalten so gewissermaßen einen durch Popp reformulierten Beuys, ohne das sich die Herkunft der Gedanken aus unter anderem Mystik, Marxismus und Anthroposophie verliert. Die Ordnungscluster erhalten in ihren Überschriften einen vorläufigen Charakter von Begriffen: new cross, zur aktiven Neutralität, etc.

Und weil es Aufzeichnungen im Wortsinne sind, ist das Buch so gestaltet, dass sich auf der linken Seite ein Reprint des Beuysschen Originals findet und rechts eine Transkription. Sichtbar dabei, der Untergrund der Aufzeichnungen, das Trägermaterial, wenn man so will, Zeitungsausrisse, Speisekarten und dergleichen, und auch Notizpapier, es liefert Textur. Die Welt zeigt sich auch hier als präformiert.

Popp geht gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung einer Ausstellung vor, die 1988 unsere Gemüter bewegte, zumindest die einiger meiner Altersgenossinnen und Genossen in der DDR.

Von manchen Künstlern drang nur eine Kunde über die Mauer, oder verzerrte Klänge, wenn es Musiker waren und sie vor dem Reichstag spielten, und Fernsehaufnahmen, Videos z.B., wie das von dem Antikriegslied Wir wollen Sonne, in dem Joseph Beuys sich Rost auf allen Atomraketen wünschte. In der Ostschule, in der ich Abitur machte, war der Song auf Seiten des Lehrkörpers eher unbeliebt, forderte er doch gleichermaßen Rost für Ost und Westraketen. Cooler Hut und Anglerweste, wir hatten zuerst ein Bild des Sängers als Bilder von Beuys im Kopf. Und natürlich hatten wir unglaubliche Geschichten zu hören bekommen oder besser Gerüchte. Dass er in New York mit einem Kojoten in einem Schaufenster gelebt habe z. B. und eine Hochzeitstorte mit Blattgold überzogen, Wannen mit Fett gefüllt und dass eine Putzfrau eine der arrangierten Fettecken weggeputzt habe. Wir bastelten uns Anekdoten zusammen, erzählten sie uns. Staunten.

Bis 1988 dann doch etwas Materiales über die Mauer sprang. Keine Installation natürlich, kein Happening, sondern kleine Zeichnungen, also etwas, was man als Vorstufe zum Werk sehen konnte und das deshalb mit der sozialistischen Kunstdoktrin noch gerade so vereinbar war, etwas zumindest, was ihr nicht offen widersprach. Dennoch: Ein „widerspruchsgeladenes Œuvre“ konstatierte der DDR-Chefkunsthistoriker Peter Feist, aber auch junge DDR-Bürger äußerten sich durchaus kritisch zu diesen Arbeiten, an denen sie fast alles das vermissen, was der eigene ästhetische und ideologische Kanon vorgibt. Heißt es in einem Zeit-Artikel zu jener Ausstellung von 1988.

Der Ausstellung im Ost-Berliner Marstall damals war eine in Nordrhein-Westfalen vorangegangen, die das zeichnerische Material unter bestimmten Gesichtspunkten und Stichworten arrangierte. Dieses Arrangement fiel in der Ostberliner Schau weg. Man sah sich den einzelnen Arbeiten einzeln ausgesetzt. Und wahrscheinlich wollte man die Bevölkerung mit bestimmten Begrifflichkeiten, die allzuviel von Beuys gedanklicher Herkunft verraten, auch nicht beunruhigen. Seitdem sind fast dreißig Jahre vergangen und eine Neoliberale Dämmschicht hat sich über die Utopien des vergangenen Jahrhunderts gelegt. Wir sind beruhigter denn je.

Die mystische Beunruhigung, die Not tut, um sich in der Welt nicht ganz so gut zurechtzufinden, und sie gerade deshalb zu erkennen, kann man in dem vorliegenden Band wieder lernen. Und so unvermittelt wie er auftauchte, so nötig ist er auch.



Joseph Beuys: Mysterien für alle. Kleinste Aufzeichnungen. Hrsg. von Steffen Popp. Berlin (Bibliothek Suhrkamp) 2015. 198 Seiten. 24,95 Euro.

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