Jónas Reynir Gunnarsson: Vier Gedichte
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Jónas Reynir Gunnarsson
Vier Gedichte
(Aus: þvottadagur / waschtag, Gedichte, Páskaeyjan, Reykjavík, 2019)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
es
ist wäschetag und der garten buchstäblich wie aus einem märchen:
ein gleißender weißer umhang oder ein toter eisbär
im haus das klappern vom abwasch und eine wackelnde plastikflasche
die von der waschmaschine zu stürzen droht
die schmutzige wäsche zu erledigen ist genauso
erfrischend wie einen pickel auszudrücken
und es ist ein unglaubliches vergnügen
am küchentisch zu sitzen und einen fensterumschlag
mit einem kugelschreiber zu bekritzeln
ich habe fließende fäden vor augen
wenn ich auf das papier starre
aber sie fliehen vor dem stift wenn ich versuche sie
zu zeichnen
ich schaue hinaus
die fäden sind auch dort
mein blick wird starr und ich denke an etwas anderes
auf einer wäscheleine draußen auf dem balkon hängt
eine gefrorene hose
wie ein in zwei hälften gehackter mensch
---
jede nacht entdecke ich unzählige leblose planeten
um uns herum
und auch höhlenmalereien tief in der erde
diese höhlenmalereien zeigen keinen mann der büffel
jagt
sie zeigen wie es einem bei der büffeljagd ergeht
wie angespannt man ist
verängstigt
hungrig
was für ein gefühl es ist einer gruppe anzugehören
und jede nacht schreibe ich etwas um einschlafen zu
können
und meine gedichte handeln nicht von leblosen planeten
oder von höhlenmalereien tief in der erde
oder von gardinen
oder wasser
oder müll
die da sind um zu zeigen wie es einem geht
wie man alleine ist
---
als ich
aufwache fliegen gerade die vorhänge aus dem fenster
ein müllauto
fährt in den gefrorenen spurrillen als wären es gleise
ein mann schiebt
einen einkaufswagen voller aludosen
und brauner
und grüner flaschen
in
richtung mülllaufbereitungsanlage
das rasseln
erinnert an schritte eines soldaten der viele orden trägt
die schritte
und das dröhnen der maschine
deuten auf
einen bevorstehenden kampf hin
mit einem gegner
der nicht menschlich ist
und sich
nicht dafür interessiert für was man kämpft
---
pulverpartikel
vom feuerwerk in der luft
eine dunkelheit
die ich einmal beim versteckspiel sah
in der reifenwerkstatt
die mein vater mit seinem bruder betrieb
dort lief der
fürchterliche schneemann hinter mir her
in einem computerspiel
das sich neben dem programm für die buchhaltung fand
und meine oma
und ich versuchten mit den touristen englisch zu sprechen
mein patenonkel
hat gummisauger aus schläuchen gemacht
und hat
auch das logo gezeichnet:
ein leopard
der durch einen reifen springt
der leopard
lebt auf den beiden größten kontinenten der welt
und einige
jahre auf dem reklameschild einer reifenwerkstatt
in einem
kleinen isländischen dorf
ich habe
mich in einen traktorreifen gelegt
beim
versteckspiel mit meinen freunden im lager
die augen geschlossen
damit mich keiner sah
die dunkelheit
hinter den augenlidern war aus schwarzen partikeln gemacht:
der atmosphäre
von silvester
dem geruch
von neuen reifen
Jónas
Reynir Gunnarsson, geboren 1987, wuchs in Fellabær
im Nordosten Islands auf und erhielt einen MA in Creative Writing an der
Universität von Island in Reykjavík. Er veröffentlichte u. a. die Romane Millilending
(Zwischenlandung), 2017, Krossfiskar (Seesterne), 2018 und
Dauði Skógar (Tote Wälder), 2020, nominiert für den Isländischen
Literaturpreis 2020 und für den Literaturpreis der Europäischen Union 2021). Seine beiden
ersten Gedichtbände waren Leiðarvísir um þorp (Gebrauchsanweisung für
ein Dorf), 2017, und Stór olíuskip (Große Öltanker),
ebenfalls 2017; für Letzteren gewann er 2017 den angesehenen Tómas Guðmundsson
Poesie Preis. Sein jüngster Gedichtband, Þvottadagur (Waschtag)
wurde 2019 mit dem „Maistern“
ausgezeichnet, einem der wichtigsten Preise für Poesie in Island.