John Mateer: Ungläubige
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Timo Brandt
Dem dazwischen Gesponnenen nachspüren
„und der Dichter antwortete:»Ich reite auf den Schultern meiner Seele,unfähig, den Weg durch Denken zu dirigieren. Ofthat sie ihre eigene Absicht, watet über den Styx,während ich da oben mir vorstelle, dass es der schimmernde Tejo ist«“
Die
Geschichte der Menschheit, an ihren unzähligen Orten, in ihren unzähligen Versionen,
Erfahrungshintergründen: ein Ozean und jedes Wort nur ein Tropfen. Und doch
besteht der ganze Ozean aus den einzelnen Tropfen, in denen sich das Ganze
spiegelt. Die ganze Fläche wiederum: ein Spiegel für die Gegenwart, eine bewegte
Oberfläche, darunter Tiefe, tiefer als irgendjemand tauchen kann.
Gespenster
gehören zur magischen Weltsicht, und Sprache ist Magie, ist Beschwörung, ist
Totenrede und Rede der Toten. Bei John Mateer, geboren in Südafrika, heute seit
fast 30 Jahren in Australien lebend, geht es viel um das Arrangieren von
unterschiedlichen Stimmen, um Gespenster, Verschüttetes und Gespiegeltes. Wenn
man liest und schreibt trifft man überall auf Spuren verlorener Geschichten,
verlorener Geschichte. Mateers Werk ist in großen Teilen ein Aufspannen dieser
Spurenvielfalt, ein Sammeln der Spiegelsplitter.
„Ich werde erfahren, was die Welt ist,nicht von Beginn an, das istdie Unmöglichkeit von Bedeutung,aber von dem Ort aus, woleuchtende Gedanken Dämmerung sindund alles, wie eines Kindes erstes Nein,die Sonne befördert.“
In
„Ungläubige“ (ein Titel, der sowohl auf den Glauben religiöser Erfahrung, als
auch auf das nicht weniger zwiespältige Problem der Glaubwürdigkeit in Bezug
auf Erinnerungen und Verbrechen anspielt) folgt Mateer vielen unterschiedlichen
Spuren.
In
Teilen des Buches geht es um Südafrika, die Apartheid, die aufgearbeiteten,
aber nicht geschlossenen Wunden, die eigene Erfahrung und das Problem
propagierter Erinnerung. Wie auch in seinen anderen Texten beschreibt Mateer
hier oft den Kampf um eine nachträgliche Festlegung, die ein endgültiges Urteil
sprechen will und doch ein Ringen von Positionen, Erfahrungen und
Ungenauigkeiten bleibt. Täter- und Opferkategorien, aus der Ferne besehen klar
zu unterscheiden, verschwinden im Abgrund des einzelnen Schicksals.
„Jemanden von hinten so zu umarmen,erinnert mich zu sehr daran, wie wir, in der Apartheidarmee,gelehrt wurden, uns dem Feind zu nähern,um die Kehle aufzuschlitzen.“
Aber
auch andere kosmische Fäden, mit Wurzeln im Jiddischen, Farsi, Portugiesischen,
Argentinischen, sind Teil des Werkes. Und das in den unterschiedlichsten
Formen, vom Langgedicht über das Stimmenarrangement bis hin zum Fragment. Bei
all dem hat das Buch, weder übergreifend noch in den einzelnen Abschnitten, ein
striktes Narrativ, vielmehr bewegt sich das lyrische Ich wie durch eine
wabernde Wolke aus Eindrücken, Verdichtungen, Losem und ins Leere laufendem
Hall; manchmal gibt es Lichtungen, man taucht hervor, dann schon wieder hinein.
Als
Leser*in stößt man auf die unterschiedlichsten Formen von Verletzung, Zweifel,
Anrufung. Oft geht es mythisch zu, ein häufiges Motiv ist die Sehnsucht aus dem
Chaos ins Menschliche zu flüchten, wobei sich das Menschliche dabei oft als das
wahre Chaos herausstellt. Denn die Menschen sind einander nicht allein Trost,
sondern durchdringen einander mit Ansichten, Wünschen und Interessen.
„Du kannst vergessen,dass Apartheid, etwas so Wichtigesin deinem Leben, anderen nichtsbedeuten mag.“
Der
letzte Text des Buches ist eine Art Essay, getarnt als Interview (zu lesen sind
aber nur die Antworten, die Fragen werden jeweils durch drei Punkte dargestellt),
in dem Mateer von sich aus auf die vielen Facetten von „Ungläubige“ eingeht.
Das hätte problematisch werden können, hätte der Dichter die Deutungshoheit
über seine Texte halten wollen und deshalb viele alternative Lesarten
unterdrücken würde.
Doch
ganz im Gegenteil: Mateer schließt keine Perspektive aus, sondern eröffnet auf
den knapp zwanzig Seiten unentwegt neue; er beschert einem quasi zusätzliche
Einblicke in sein Denken und Dichten, ohne dabei allzu konkrete Absichten
hinter seinen Gedichten zu enthüllen oder zu propagieren. Er hat einige
Grundsätze und viele Ausgangspunkte, aber er überlässt den Gedichten das
Aufwerfen der Fragen und Wege, die davon weg- oder dort hinführen.
„Das Menschliche beginnt mit der einfachsten Frage“
„Ungläubige“,
ist ein Buch der Entdeckungen und eine beeindruckende Auseinandersetzung mit
dem Reichtum an kulturellen Sphären. Manchmal kommt man sich vor wie in einem
Museum, manchmal wie auf einer Ausgrabungsstätte, dann wieder wie in einem
historisch inspirierten Spiel- oder Dokumentarfilm.
In
seiner Gänze spürt das Buch einer Frage nach, der Frage nach dem menschlichen
Aspekt schriftlicher wie mündlicher Überlieferung. Glaube und Unglaube bedingen
unser Handeln – ein literarisches Werk, als Dokument, kann sich zwischen diesen
beiden Polen bewegen, ohne einem anzugehören. Letztlich ist Literatur eine
Glaubensfrage, aber auch eine Unglaubensfrage. Und, immerzu: ein Bekenntnis,
ein Versuch, über sich hinaus und dabei in sich hinein zu greifen.
Thomas de
Quincey schrieb in einem Essay über das Wesen der Historie: „Zwischen den
Menschen und seiner Zeit liegt nichts, nur seine Tat oder seine Untat. Zwischen
dem Menschen und dem Buch, dem Zeugnis einer Zeit, liegen endlose Weiten, Ideen
ohne Namen und ohne Zahl.“
„Bis spät in die Nacht liest sie Musil im Originalund erinnert sich daran, unbeständig, als das Leben keinÜberwachungsballon war,schwarz und am Himmel treibend, über einem anderenJahrhundert.“
John
Mateer: Ungläubige. Gedichte und der Essay: „Ein Interview mit einem Gespenst“.
Übersetzt von Daniel Terkl. Wien (Sonderzahl Verlag) 2017. 188 Seiten. 18,00
Euro.