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Johannes Witek: Bonnie und Clyde

Gedichte > Zeitzünder



Bonnie und Clyde



Sie ist Anfang vierzig,
drei Kinder von zwei Männern
keines der Kinder lebt bei ihr,
er ist dreiundzwanzig, dünn und sehnig,
Körperfettanteil im einstelligen Bereich,
rasiert sich den Kopf bis auf einen kleinen
Haarstreifen in der Mitte
und ich weiß nicht, ob man sagen kann,
dass die beiden ein Paar sind,
aber irgendwas sind sie jedenfalls
und was immer es ist
es ist so,
dass ich versuche, so wenig wie möglich
Zeit in ihrer Gegenwart
zu verbringen, aber immer gelingt mir das
nicht, aus verschiedenen Gründen
oder auch einfach nur deshalb, weil wir zuviele
der selben Menschen kennen
in unserem erweiterten Umfeld.

Bei einer Feier in diesem Umfeld
dreht sie plötzlich die Musik auf volle Lautstärke
springt in die Mitte des Raums und
präsentiert uns allen ungefragt
eine Version ihres Bauchtanzes,
für den sie berühmt ist
(angeblich)
und ich versuche, etwas Positives über
dieses Bild zu sagen,
aber ich kann nur wiederholen:
Sie präsentiert uns so was wie einen Bauchtanz
und er springt auf und läuft aus der Tür,
rennt auf ein nahegelegenes Feld und von dort in einen Wald
und bombardiert währenddessen ihr Telefon mit Textnachrichten,
sie hört auf mit ihrem Bauchtanz
kommt zu mir und zeigt mir die Textnachrichten
warum, weiß ich nicht,
weder will ich sie sehen
noch geht es mich was an
noch möchte ich auch nur irgendwie involviert werden,
wirklich wirklich nicht,
aber da steht sie und hält mir ihr Display ins Gesicht
das voll ist mit Großbuchstaben  
und die Großbuchstaben schreien von unsterblichen Gefühlen und
Verzweiflung und Drama und Ewigkeit und gebrochenen Versprechen
und es klingt nicht gut,
gar nicht gut
es klingt sogar eher ziemlich bedenklich
und ich sage etwas wie: „Aha? Oh je, oh je  ...“
und sie sagt: „So ist er immer“
und im Weggehen höre ich, wie sie mit ihm
telefoniert und leise seinen Vornamen sagt.

Zwanzig Minuten später ist er wieder da
und droht jedem männlichen Gast, der anwesend ist,
mit  glasigen Augen und geballten Fäusten Prügel an.
Manche lachen, manche wirken ehrlich besorgt,
die meisten (ich inklusive)
wissen schlicht nicht, wie man darauf reagieren soll.
Es ist wie ein Kind mit einer Waffe,
das vor einem steht.

Man will es weder hassen, noch verstehen.
Man kann nur versuchen, sich zu wehren, wenn
es durchdreht.

Schließlich läuft er wieder raus.
Und sie hinterher. Alles beruhigt sich und
geht irgendwie weiter aber eine Stunde später
sind sie beide wieder da und plötzlich
sind seine Augen nicht mehr glasig und er ist ganz ruhig
und freundlich,
spricht mit Leuten,
zeigt uns ein paar seiner neuen Breakdancemoves
die gar nicht schlecht sind
er hat einen wirklich gelenkigen und drehbaren jungen Körper,
dann hört er auf zu tanzen, läuft im Raum herum, trinkt
und redet. Sie hängt dabei in seinem Arm.

Er kommt zu mir und beglückwünscht mich dazu,
wie viel ich abgenommen habe.
Sie grinst mich an
an seiner Seite
und entblößt dabei gelbe Zähne.

Eine Stunde später stehe ich draußen im Raucherbereich
als mich eine Hand an der Schulter packt und herumreißt.
Jetzt sind die Augen wieder glasig und die Fäuste
oben.
Ich sage etwas wie: „Hör zu, Julian, jede Frau auf dieser Welt
ist eine Frau wenn sie aus dem Haus geht, aber wenn sie einen Mann
hat, dann nicht, sogar wenn sie das will.“

Das klingt pompös und macht original null Sinn,
und ich habe richtig geraten: Es ist genau das, was er braucht.
Seine Augen werden kurz noch glasiger, dann füllen sie sich mit Tränen.
Er sieht mich an wie seinen lange verschollenen Bruder. Dann dreht er sich um
und läuft davon in die Nacht.

Ich bin ehrlich erleichtert, dass ich mich nicht damit auseinandersetzen muss,
seinen jungen drehbaren Körper von meinem fernzuhalten
und rauche, um das zu feiern,
noch eine Zigarette.
Sie ist nirgends zu sehen.
Auch darüber bin ich froh.

Große Gefühle, Endzeitstimmung.
Das könnte sogar alles dramatisch und wirklich am Puls und voll Leben sein,
aber das ist es nicht, warum warum nur ist das alles so tot und leer und hohl
und dreckig und sinnlos und wie schleimiges Abwaschwasser,
das einem in Zeitlupe und für alle Ewigkeit über und in den Körper
gespült wird?

Und was zum Teufel ist eigentlich los mit allen Menschen auf dieser Welt?
Ich stelle mir die beiden vor, wie sie zusammen im Bett liegen
und einander ansehen, mit großen leeren Augen.
Temporär ruhig, immer nur für die wenigen paar Augenblicke.
Glauben, etwas gefunden zu haben, ja wirklich wirklich.

Und das haben sie auch: einander.


Johannes Witek: unveröffentlicht, 2016.

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