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Jörn Birkholz: Waidmannsheil

Montags=Text
Jörn Birkholz
Waidmannsheil

»Ich will in Wald!«
»Was?«
»Komm, lass uns in Wald fahren.«
Mit   dieser   Idee   konfrontierte   mich   Iza   eines   schönen Sonntagmorgens.
»In den Wald heißt das.«
»Ja, ja, weißt du wie man’s auf Polnisch sagt?«
»Ne.«
»Na   also,   dann   lern   erst   mal   polnisch,   bevor   du   mich   hier großkotzend verbesserst.«
»Großkotzig.«
»Was?«
»Nichts egal.«
»Wo ist hier Wald?«
»Gute   Frage,   hier   in   der   Gegend   ist   mir   nichts   Größeres bekannt.«
»Ich will aber in richtigen Wald, und nicht son kleinen Scheiß.«
»Ist mir schon klar.«
»In Polen ist viel Wald.«
»Ja, mag sein.«
»Gib mal Laptop.«
Morgens war Iza grammatikalisch  immer etwas nachlässig. Sie beugte sich im Bett über mich rüber und hob  ihn  vom Fußboden auf. Ich hatte ihren tollen Hintern vorm Gesicht und konnte mir ein Arschtätscheln nicht verkneifen.
»Lass   das!«,   quakte   sie,   fügte   aber   schnell   noch  ein Versöhnliches »Nicht jetzt« hinzu. Ich ließ es und sie kam wieder hoch. Mit großem Eifer begann sie "Wald" und "Deutschland" zu googeln.
Ich zündete mir eine Zigarette an, obwohl ich morgens eigentlich ungern rauche, aber Sucht ist Sucht.
»Gib mir auch eine.«
Ich gab ihr eine und rauchend googelte sie weiter.
»Hier ich hab was Geiles!«, ereiferte sie sich plötzlich.
»Das ist in Bayern, Baby, ’n bisschen weit für’n Tagesausflug« ,sagte ich, nachdem ich flüchtig die Seite überflogen hatte.
»Kurwa«, entgegnete sie, »aber hier ist ja nichts.«
»Dann google doch mal Niedersachsen.«
»Dobra.«
Nach fünf Minuten hatten wir uns für die Südheide bei Celle entschieden.  Große Waldflächen versprach  Wikipedia und nachdem wir noch schnell die Zugverbindungen gecheckt hatten, ging es bereits eine Stunde später los Richtung Hauptbahnhof.
Der Bahnhof war angenehm leer. Sonntags um kurz nach zehn vormittags ist anscheinend eine gute Zeit zum Verreisen.  Wir standen   auf   dem   Bahnsteig   und   warteten   zusammen   mit nur einem Herren, dessen rechtes Bein rot und extrem angeschwollen war. Sein Hosenbein hatte er fast bis zum Schritt hochgekrempelt. Fünf Minuten bevor unser Zug einfuhr, füllte sich der Bahnsteig dann aber doch. Im Zug bekamen wir einen Sitzplatz, fast ein Grund zum Feiern. Kaum saßen wir, musste Iza pinkeln, war ja klar. Sie huschte zum Klo. Ich sah das Rotbein, es schleppte sich durch   den   Zug   und   verkündete,   dass   es  obdachlos   sei,   ein kaputtes Bein habe – was ich bestätigen konnte – das ihm wehtue, und dass es um eine kleine Spende bittet. Keiner spendete ihm  etwas, nicht mal  Trost. Ich  auch nicht, ich  stellte  mich schlafend, als es an mir vorbei humpelte – ich war nicht in der Stimmung  für Obdachlose  mit rotem  Bein, da war ich nicht anders als die anderen, vermutlich nicht obdachlosen Fahrgäste im Zug. Vielleicht lag es auch daran, dass das Rotbein vorhin mit uns ganz entspannt am Bahnsteig gestanden hatte. Hätte er uns dort angequatscht, hätte ich ihm wahrscheinlich was gegeben, hätte es sich spontan aus der Situation heraus ergeben können. Immerhin waren wir zu der Zeit die Einzigen auf dem Bahnhof. Vielleicht hätten wir ihn sogar gefragt – Iza bestimmt, wie ich sie kenne - was mit seinem Bein los sei, interessiert hätte es mich schon. Aber er beachtete uns nicht, Pech gehabt, jetzt beachtete ich ihn nicht, ich bin halt ein Arsch. Iza kehrte zurück.
»Klo war voll gekotzt, voll eklig.«, beschwerte sie sich, als sie kurz darauf zurückkehrte.
»Wahrscheinlich Partypeople von heut Nacht.«
»Hast du grad geschlafen?«
»Ne.«
»Hätte mich auch gewundert, wir haben heut Nacht fast zehn Stunden durchgepennt. Also, ich bin hellwach.«
»Ich hab ja auch nicht geschlafen.«
»Aber du hattest die Augen zu?«
»Ja und, heißt ja nicht, dass ich geschlafen hab.«
»Ist ja gut, entspann dich.«
»Bin entspannt.«
»Das merkt man.«
Iza lächelte und küsste mir flüchtig auf den Mund. Sie war bester Laune, soviel war mal sicher. Ich stellte fest, dass es mir ähnlich ging. Sie schaute aus dem Fenster und summte zufrieden vor sich hin.  In   Ottersberg   stieg   ein   mit   unzähligen   Farbspritzern besudelter Typ ein, der drei verpackte Bilder mit sich führte und sich uns gegenüber setzte. Er grinste mich an, ich grinste zurück. Er trug eine gelbe FDP-Werbemütze. Ein Künstler mit Humor, sowas gibt’s selten, dachte ich. In Sottrum stieg er wieder aus. Flüchtige Begegnungen des Lebens. Eineinhalb Stunden später waren wir am Ziel. Celle – eigentlich war mir mehr nach einer Stadtbesichtigung,  und dann später irgendwo ein Bier zu zwitschern. Aber Iza wollte davon nichts wissen, sie wollte  "in Wald", daran  war  nicht zu  rütteln,  im Grunde  auch keine so schlechte Idee, dachte ich,  das Wetter spielte jedenfalls   mit, solide   zwanzig   Grad,   leichte Bewölkung,   ein   normaler Nord-deutscher Hochsommertag eben. Und letztendlich hatten wir es ja  genauso geplant. Man wirft in letzter Minute keine Pläne um, und läuft einmal quer durch eine Altstadt und zieht sich dann irgendwo ein Bier rein. Nein, nein, heute war Wanderngehen angesagt!  Wanderngehen - schon eine absurde Bezeichnung. Manchmal   hatte   Iza   recht,   in   Deutschland   muss   selbst   das Wandern  noch   mit   einem  Gehen  ergänzt werden,  es ist schließlich ein Unterschied ob man wandert oder geht, reines Gehen ist viel zu trivial. Gehen hingegen wird zum Wandern, wenn man sich dafür solch erhabene Plätze wie die Berge oder den Wald ausgesucht hat. Ist der Zielort lediglich der nächste Pennymarkt  oder das  Klo, bleibt man brav beim  Gehen. Ich wandere  zu Rewe   oder   zur   Toilette   klingt   ja   ein   bisschen aufgesetzt. Wie man wohl auf Polnisch »ich gehe wandern« sagt, gibt es diese Bezeichnung überhaupt? Ich könnte Iza fragen, tue es  aber  nicht,   ich   gönne   ihr   keinen   Triumph.   Die   polnische Sprache gibt da sicher etwas  her, aber ich will es  gar nicht wissen. Nachdem wir uns bei einem pausbäckigen Busfahrer nach dem Weg erkundigt hatten, stiegen wir ein, und ließen uns zum Wald, beziehungsweise in Richtung Wald fahren, weit war es nicht. Da waren wir also, dreißig Minuten später standen wir irgendwo im Wald. Iza hatte   kein   Interesse   gezeigt,  zuvor das Wanderwegschild am Waldrand zu studieren.
»Ich will selbst erkunden«, verkündete sie, »typisch Deutsch,  alles wird genau vorgeschrieben, wo man zu gehen hat.«
»Dient doch nur zur Orientierung«, wand ich ein.
»Brauchen wir nicht, ich kann mich selbst sehr gut orientieren.«
Und so trotteten wir los. Die Sonne blinzelte zwischen den Baumkronen der Fichten hervor. Irgendwo piepte ein Vogel recht penetrant, ständig den selben Ton ausstoßend. Es roch nach Natur. Iza tänzelte durch die Gegend, blickte nach links und rechts, wies mich auf Besonderheiten hin, wie auf am Boden liegende bizarre Baumwurzeln oder andere naturgeschaffene Sehenswürdigkeiten.   Wann   war   ich   das   letzte   Mal   im   Wald gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Es dürfte irgendwann in der Kindheit gewesen sein. Auf irgendeiner Klassenfahrt, ich weiß noch, dass ich stolz wie Otze war, ein Eichhörnchen auf einem Baum fotografiert zu haben. Das Vieh hatte auf dem Foto die Größe einer Stecknadel, da ich die Aufnahme aus  etwa fünfzig Metern Entfernung gemacht hatte. Das Foto existierte heute noch, vor ein paar Jahren entdeckte ich es im Familienalbum. Meine Mutter hatte es eingeklebt, und in Schönschrift »Max übt sich als Tierfotograf« daneben geschrieben. Ob sie es ernst meinte, oder oder ob sie mich damit verarschen wollte, entzog sich meiner Kenntnis, wie ich meine Mutter kannte, vermutete ich Ersteres. Keine Eichhörnchen weit und breit, dafür aber ein Reh, dem wir in die Quere kamen, das uns aus einiger Entfernung einen kurzen Moment in leichter Schockstarre dümmlich anstarrte und dann die Flucht ergriff.
»Niedlich!«,   rief   Iza   aus,   nachdem   das   Tier   im   Unterholz verschwunden war. »Hast du gesehen, wie es die Ohren angelegt hat?«
»Ja.«   
»Es gefällt mir hier.«
»Ja, ist okay.«
»Ich will lange hierbleiben, also  nörgel nich rum, dass du bald nach Hause willst.«
»Ich hab doch gar nichts gesagt.«
»Ich kenn dich.«
»Was   heißt   du   kennst   mich?   Wir   sind   doch   gerade   erst angekommen. Glaubst du, ich fahre zwei Stunden mit dem Zug,um dann bloß zwei Minuten hierzubleiben.«
»Jaja, ist ja gut. Ich sage ja auch nur, dass ich hier lange bleiben möchte.«
»Was verstehst du unter lange?«
»Boże, es geht wieder los, das typisch  Deutsche kommt zum Vorschein   ...   ihr   Deutschen   müsst   auch   immer   alles   genau wissen. Am besten noch auf die Minute ... Und natürlich überall Wanderkarten aufstellen.«
»Jetzt übertreib mal nicht, ich wollte nur wissen, was für dich lange bedeutet?«
Leicht sarkastisch blickte Iza mich an.
»Zwischen zwei und zwanzig Stunden«, verkündete sie lachend und trottete weiter.
»Sehr witzig, Baby.«
Wir wanderten. Es war relativ anstrengend, ständig stolperte man über verdammte Baumwurzeln, überall Insekten, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich wollte Iza wenigstens ein bisschen den Naturburschen vorgaukeln. Sie hatte es wahrscheinlich schon nach fünf Minuten durchschaut, fand   es   anscheinend   aber niedlich oder sonst was. Iza akklimatisierte sich recht schnell. Sie ging vor. Elegant   bewegte   sie   sich   durch   den   Wald,   wich geschickt Hindernissen aus – im Gegensatz zu mir, dem ständig die Äste in die Fresse knallten, die Iza zuvor zur Seite gebogen hatte.
»Wollen wir nicht auf den Weg zurück?«, fragte ich, nachdem ich auch noch durch ein Spinnennetz hindurchgelaufen war, das Iza, obwohl sie vorausging,  aus unerklärlichen Gründen verschont hatte.
»Das ist doch der Weg«, erwiderte sie lachend.
»Ja, mag sein, aber schon recht schmal.«
»Ich hab kein Bock, auf diesen Touristenwegen zu laufen. Da kommen dann auch immer irgendwelche Leute, das zerstört die Atmosphäre.«
»Ich hab noch niemanden gesehen.«
»Ja, weil wir hier laufen.«
»Vorher auch nicht, hier ist überhaupt niemand.«
»Ja, ist doch toll«, jauchzte sie.
Sie war glücklich, es gefiel ihr wirklich, einfach sinnlos durchs Gestrüpp zu latschen. Und es war mittlerweile heiß. Durst.
»Ham wir noch genug Wasser?«
»Die eins Komma fünf Liter ist noch halb voll. Hast du schon wieder Durst?«
Einen Moment fühlte ich mich ertappt wie ein kleines nörgelndes Kind.
»Nein, geht schon, wollt’s nur wissen.«
»Du kannst ruhig trinken.«
»Ich brauch nichts.«
»Wie du willst.«
Wir wanderten weiter. Irgendwann entdeckte Iza etwas neben einem vermoderten Baumstumpf.
»Schau mal.«
Sie wies auf den Boden und bückte sich hinunter.
»Was ist das?«
»Ich glaub, das sind Pilze.«
»Pilze?«
»Ja, bin mir ziemlich sicher.«
»Das sollen Pilze sein? Diese kleinen Klumpen sehen eher aus, wie etwas, das aus irgendeinem Tier kam.«
»Schade, dass mein Bruder jetzt nicht hier ist, der kennt sich mit sowas aus.«
»Mit sowas?«
»Ja,   du   Depp,   das   hier   sind   sicher   keine   Champions   oder Pfifferlinge«, lachte sie.
»Pfifferlinge würde ich wahrscheinlich auch nicht erkennen ...Gib mal bitte die Wasserflasche.«
Sie reichte sie mir. Ich nahm einen kräftigen Schluck.
»Mein   Bruder   hat   ständig   irgendwelche   Pilze   aus’m   Wald angeschleppt und sie dann getrocknet.«
»Aha«, sagte ich und rülpste.
»Ja, Alkohol konnten wir uns in Polen nämlich nicht immer leisten, da brauchte man Alternativen   ...   Hast   du   nie   Pilze genommen?«
»Um ehrlich zu sein, nein.«
Sie schaute mich an, und leicht lächelnd verdrehte sie die Augen.
»Tut mir leid, dass ich keine wilde Drogenvergangenheit hinter mir habe«, raunte ich.
»Drogenvergangenheit?! Bist du bescheuert, Pilze haben sich in Polen fast alle reingezogen, wie gesagt Alkohol war teuer, nicht so wie hier bei euch. Wir hatten damals für sowas einfach keine Kohle.«
»Hm.«
»Trotzdem war’s ne tolle Zeit«, schwärmte sie.
»Ach, und unsere Zeit ist schlecht jetzt oder was?«, ließ ich mich hinreißen zu schmollen.
Sie pflückte die Pilze und stand auf.
»Idiot«, lächelte sie und küsste mich auf die Wange. Ich war besänftigt. So schnell konnte das gehen.
»Und, wollen wir?«, fragte sie dann.
»Was?«
»Na, die Teile nehmen.«
»Mit nach Hause?«
»Stell dich nicht dümmer, als du bist ... essen!«
»Jetzt?!«
»Ja, wann sonst, Weihnachten bei deinen Eltern?«
Iza musste lachen bei der Vorstellung.
»Müssen, die nicht getrocknet werden?«
»Egal, das geht auch so ... dann ist die Wirkung auch stärker.«
»Die Wirkung?! Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was das für Pilze sind – vorausgesetzt das sind überhaupt Pilze.«
»Natürlich sind das Pilze.«
»Schön, von mir aus, aber du weißt nicht was für welche?«
»Mein Bruder würde es sofort wissen.«
»Ja, der ist aber jetzt nicht hier, wie du vielleicht gemerkt hast.«
»Also willst du nicht?«
»Darum geht’s nicht, nur ...«
»Du wirst schon nicht sterben, wahrscheinlich passiert gar nichts.«
»Dann können wir’s ja auch lassen. Die Teile sehen auch nicht gerade sehr lecker aus.«
»Lecker?! Natürlich sind die nicht lecker!«
Sie lachte, und ich fühlte mich wie ein kleiner Junge.
»Na gut, dann gib halt her.«
»Du musst nicht«, sagte sie und hatte sich schon drei in den Mund gesteckt. Es gab kein Zurück mehr. Ich nahm mir die vier übrig gebliebenen und schob sie mir rein. Mir war, als würde ich auf einem  alten Putzlappen herumkauen,   dazu  schmeckte  es unbeschreiblich bitter. Ich hätte die Teile am liebsten wieder ausgespuckt, aber ich wollte mir vor Iza keine Blöße geben. Nur sehr mühsam konnte ich das Zeug schließlich mit einem ordentlichen Schluck Mineralwasser herunterspülen. Iza schien es weniger Mühe bereitet zu haben; sie schluckte den zerkauten Brei einfach runter und brauchte nicht mal Wasser. Hoffentlich hatte sie Recht, und es passierte gar nichts. Die ersten Minuten beobachtete ich ängstlich meinen Zustand, doch es geschah tatsächlich nichts, ich fühlte mich normal, und es ging mir gut. Auch Iza war nicht das Geringste anzumerken. Ich registrierte,   dass   sich   meine   Laune   sogar   verbesserte.   Glück gehabt. Wir wanderten weiter durch den Wald. Nach einer halben Stunde   hatte   ich   die   Pilze   schon  fast vergessen. Irgendwann begann ich herumzualbern und leicht herumzutänzeln. Ich hüpfte über Baumstümpfe, und trommelte mit zwei Stöckern gegen die Fichten. Iza lachte. Dann grölte ich, und äffte die Vögel nach, die um uns herum piepten und kreischten. Iza lachte noch lauter.
»Merkst du etwa was?«, fragte ich um sie herumtanzend, »bei mir ist nichts.«
»Ein kleines bisschen«, bemerkte sie durchtrieben lächelnd.
»Bei mir ist nix, garrrrrrrr nix, üüüüüberhaupt niiiix!«
Sie lachte und knuffte mir in die Seite. Ich fing jetzt an zu Jodeln,und ging dann zu Brunftschreien über. Iza bepisste sich vor Lachen. Nach einer Weile wurde mir schwindelig. Es war allerdings kein normaler Schwindel. Es war der Wald, nicht ich. Der Wald fiel um, er kippte nach hinten weg, wie eine billige Filmkulisse. Anfangs amüsierte es mich, und ich schrie:
»Baby schau, der Wald fällt um! Der Wald fällt um!!«
Ich hörte Iza lachen, aber es klang schon etwas entfernt. Irgendwann wurde es unheimlicher, da sich der Vorgang ständig wiederholte. Außerdem fing sich alles, erst langsam, dann aber immer schneller   werdend,   zu   drehen   an.   Ich   fühlte   mich gefangen, wie auf einem im Kreis fahrenden Karussell, bei dem die geschmacklose Deko ständig umfällt und sich wieder aufrichtet wie verdammte Schießbudenhasen. Plötzlich blieb alles stehen und mir wurde unglaublich schlecht. Ich musste würgen, konnte vorerst aber nicht kotzen. Lange brauchte ich allerdings nicht   zu   warten.   Ich   übergab   mich,   fiel   hin   und   starrte   mit aufgerissenen   Augen   in den   wolkenlosen   Himmel.   Es   wurde unglaublich hell, obwohl ich nicht in die Sonne schaute. Die Helligkeit ging ins Grelle über. Ich schloss meine Augen, ich hatte das  Gefühl,  ich müsste sie  schützen. Aus  dem  Grellen entstanden jetzt Farben – alle Farben, wie kitschig, aber ich empfand es nicht so. Es war, als würde man betrunken in ein Kaleidoskop starren. Wenn es auch kein schönes Gefühl war, war es auch kein schlechtes – ich fühlte überhaupt nichts, ich nahm  nur   wahr.   Farben   über   Farben,   die   zerflossen,   wieder zueinander fanden,   um   gleich darauf   wieder auseinander zu laufen. Das Gefühl für Zeit hatte sich vollständig aufgelöst. Ich lag da mit dem Rücken auf dem Waldboden, die Augen geschlossen. Iza hatte ich völlig vergessen, wie ich auch mich vergaß, mit den Farben löste ich mich auf. Man hätte mich in Stücke schneiden können, ich hätte es nicht mal bemerkt. Ich lag da und konnte mich nicht bewegen, als wäre ich am verfluchten Waldboden festgetackert. Irgendwann war ich weg, einfach fort. Ich erwachte. Ich   konnte   mich   kaum   bewegen. Blätter, Tannennadeln und tausend andere Dinge lagen auf mir drauf, oder hingen an mir herab. Eine Waldameise oder eine Spinne wanderte seelenruhig über   mein   Gesicht.   Ich   wollte sie wegschlagen, konnte aber nicht. Ich ließ sie laufen. Als ich mit einer unglaublichen  Kraftanstrengung  meinen Kopf leicht  zur Seite drehte, erblickte ich Iza, die zärtlich lächelnd neben mir hockte.
»Na mein kleiner Junkie, wie geht es dir?«
»Wasser«, brachte ich nur heraus.  
Iza reichte mir die Flasche, ich konnte sie kaum halten, als ich gierig trank.
»Das war ja anscheinend wirklich dein erstes Mal?«, fragte sie grinsend.
»Was denkst du denn!«, kam es aus mir heraus.
»Unglaublich.«
»Ja, du scheinst dir sowas in Polen ja öfters reingezogen zu haben.«
»Gelegentlich.«
»Hast du denn überhaupt nichts gemerkt?«
»N bisschen ... aber es war viel lustiger dir dabei zu zusehen.«
Sie lachte.
»Freut mich, dass du deinen Spaß hattest.«
»Ohhhh   jaa,   den   hatte   ich!   Was   war   das   übrigens   für   ein
komisches Lied, das du da gesungen hast?  Ein Jäger aus derPfalz?«
»Was habe ich bitte gesungen?«
»Irgendwas mit so ’nem Jäger.«»Ein Jäger aus Kurpfalz? Das soll ich gesungen haben?«
»Ja! Und mit Hingabe.«
»Ich erinnere mich nicht mehr, und ich wusste auch gar nicht,dass ich den Text kenne.«
»Das ist doch so n Nazilied, oder?«
»Keine Ahnung, deutsches Liedgut halt.«
»Boah, geil eklige Volkslieder habt ihr? Dafür hat mein Opa die Deutschen auch gehasst, für ihre Scheißnazisongs.«
»Tja, sowas war damals in. Heute haben wir Helene Fischer und Sido, auch nicht besser, und hören auch fast alle.«
»Ja, schlimm sowas ... Meine Oma ist übrigens mit achtzehn mal nur knapp ’ner Vergewaltigung entkommen.   Die   lief   damals   in Warschau mit ihren Freundinnen über die Straße, da kam so ’ne kleine versprengte Wehrmacht Truppe, und dann haben sie die Mädchen und meine Oma, einfach geschnappt und in so ’n Haus geschleppt, und die Leute, die da wohnten mal eben rausgeschmissen. Sie wurden ins Zimmer gesperrt. Und meine Oma meinte: ›Lasst uns durchs Fenster abhauen, ist doch nur der erste Stock‹, aber nur ihre beste Freundin hatte sich getraut, die anderen drei hatten Angst, dass sie bei der Flucht erschossen werden könnten. So ist dann meine Oma mit ihrer Freundin durchs Fenster raus, hatte keiner gemerkt. Sie erinnert sich heute noch an das Lied – ich weiß den Titel nicht mehr - das die Soldaten im Nebenzimmer gegrölt haben. Die anderen Freundinnen haben sie danach nie wieder gesehen.«
»Eine schöne Geschichte«, keuchte ich.
»Ja, eine schöne  Geschichte habt ihr ... Meine Oma, sah mit zwanzig übrigens extrem geil aus.«
»Ja, ich glaub’s dir ... Kann ich noch Wasser haben?«
Iza lächelte mich bemutternd an.
»Ja, nimm nur, ich hab eh kein Durst ... warte, ich mach dich maln bisschen sauber.«
Sie fing an mich abzuklopfen. Ich hatte es mittlerweile geschafft mich hinzusetzen. Das Wasser tat gut. Die Übelkeit verging. Doch jetzt setzte die letzte Wirkung der Pilze ein - ich wurde plötzlich tieftraurig. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte vor Iza zu Heulen angefangen. Wann hatte ich das letzte Mal geweint, ich konnte  mich nicht   erinnern.   Die   Traurigkeit verwandelte sich schnell in Liebesbedürftigkeit, ich griff mir Iza und umarmte sie so fest ich konnte.
»Hey, was ist denn jetzt los, mein kleiner Junkie?«
Es gefiel ihr und rührte sie, wohl auch weil sie spürte, dass ich es mit Inbrunst tat, und absolut keine sexuelle Absicht dahintersteckte. Sie erwiderte die Umarmung, und minutenlang verharrten wir in dieser Stellung.
»Du   weinst   ja«,   bemerkte   Iza,   nachdem   wir   uns   nach   einer gefühlten Ewigkeit wieder los ließen.
»Quatsch!«, zischte ich, und rieb mir die Augen.
»Ich hab da nur Dreck oder Tannennadeln reinbekommen.«
Iza lächelte und küsste mich.
»Ja, ja schon gut ... Kannst du schon gehen?«
»Na klar kann ich.«
Ich konnte nicht. Kaum war ich aufgestanden, kippte ich wiederum. Ich brauchte fast eine Stunde bis ich wieder einigermaßen auf den Beinen war. Iza zeigte keine Ungeduld, was eigentlich auch nicht ihre Art war, vermutlich wusste sie genau, was eine erste Pilzerfahrung bei einem Menschen auslösen konnte, und hatte vielleicht sogar ein bisschen ein schlechtes Gewissen.
»Oh Mann, das wird ja schon langsam dunkel. Wie lange war ich eigentlich weg?«
»So ’n paar Stunden schon.«
»Wir sollten vielleicht langsam mal aufbrechen, was?«
»Kannst du denn jetzt?«
»Muss!«
Ich rappelte mich auf. Es funktionierte. Wenn auch noch etwas zittrig, konnte ich mich doch langsam bewegen.
»Wo müssen wir überhaupt lang?«
»Weiß nicht genau, ich glaub da lang.«
Sie wies mitten in den Wald hinein.
»Bist du sicher?«
»Glaub schon.«
Wir schleppten uns los.
»Wir hätten  vielleicht   doch   auf   den   Wegen  bleiben   sollen«, bemerkte ich etwas skeptisch.
»Das kriegen wir schon hin.«
Wir kriegten es nicht hin. Nach etwa einer Stunde hatten wir nichts gefunden, was einem Wanderweg auch nur im Entferntesten geähnelt hätte. Zudem war es überraschend schnell dunkel geworden, und die Minitaschenlampe in meinem Trashhandy hatte nur eine Reichweite von höchstens zwei Metern. Wir beide ahnten bald, dass wir wohl auch die Nacht im Wald verbringen würden. Wie romantisch. Notdürftig suchten wir einen Platz, wo wir uns zum Schlafen hinkauern konnten.
Was an Ungeziefer in den nächsten Stunden über unsere Körper krabbeln würde; ich wollte gar nicht darüber nachdenken, und tat es auch nicht, da ich immer noch an meinem Pilzkater zu knapsen hatte.   Ich   fühlte   mich   träge   und   vollkommen   ausgelaugt. Irgendwo einfach ruhig liegen war in meinem Zustand ohnehin das Beste was ich tun konnte.  
»Haben wir noch Wasser?«, fragte ich.
»Nur noch ’n kleinen Rest«, antwortete Iza.
»Dann lass uns das lieber aufsparen, was?«
»Vielleicht besser«, entgegnete sie, und lehnte sich an mich an. Glücklicherweise hatten wir  von zuhause   eine   Decke mitgenommen, die wir bis dato noch gar nicht gebraucht hatten. Jetzt verschaffte sie uns wenigstens einen Hauch von Komfort. Wir kauerten da wie Hänsel und Gretel und lauschten auf die Geräusche des Waldes. Es war tatsächlich   recht   unheimlich, vielleicht waren es aber   auch   nur   meine   Pilzflashbacks,  mit Sicherheit konnte ich das gar nicht sagen. Ich schloss die Augen, da es ohnehin fast stockdunkel war, nicht mal der Mond war zu sehen.
»Es war ihre beste Zeit«, murmelte Iza irgendwann, ich war bereits kurz eingenickt.
»Was? Wessen Zeit?«
»Ach nichts, ich musste grad nochmal an Babcia denken ...«
»Babcia?«
»Meine Oma. Ist das nicht paradox? Mitten unter all den Nazibesetzern die beste Zeit im Leben zu haben?«
»Hm, vielleicht ein bisschen schwer sich reinzuversetzen.«  
»Sie meinte mal zu mir, es sei eben alles sehr intensiv gewesen, also selbst das alltägliche Leben, man musste immer auf der Hut sein, man war ständig in Gefahr. Zwei ihrer Freunde wurden nachts erschossen, weil sie während der Sperrstunde erwischt wurden, das gehörte eben dazu ... Total intensiv, und so auch die Flirts, die Beziehungen, der Sex ...«
»Der SEX, sowas erzählt dir deine Oma?!«
»Erzählte, sie ist seit zehn Jahren tot.«
»Meine schon seit zwanzig. Aber sowas hätte sie mir nie erzählt, wahrscheinlich auch besser so. Ich glaub, sie hat mir nicht mal von irgendwelchen Bombenabwürfen erzählt, sie und mein Opa lebten   ja   auf’m   Dorf.  Ich  bekam immer nur Kinderschokolade und Duplo, bis ich kotzen musste.«
»Vor zwanzig Jahren ist deine Oma gestorben? Dann kann die aber nicht sehr alt geworden sein?«
»Geht, ich   glaub   so   knapp   siebzig,   hat   viel geraucht.«
»Haben wir noch Zigaretten?«
»Ja, sogar reichlich.«
»Na immerhin, dann gib mir mal eine.«
Ich gab ihr eine, zündete mir auch eine an, und nachdem wir aufgeraucht hatten, dauerte es auch nicht mehr lange, bis wir eingeschlafen waren. Wir hatten Glück. Es war eine ungewöhnlich milde Nacht. Dennoch erwachten wir leicht zitternd und hatten unmenschlichen Durst. Sofort teilten wir uns unsere   letzte Wasserration, was allerdings nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Gott sei Dank, war es schon hell. Es war auch nicht sehr schwer den offiziellen Wanderweg zu finden; er befand sich lediglich knapp  dreißig  Meter von unserem   Nachtlager entfernt. Verdammte Dunkelheit! Es dauerte nicht lange und wir erspähten die ersten Jogger.
»Haben Sie Wasser!?«, schrie ich einem hinterher, doch dieser hörte mich nicht, oder er wollte mich nicht hören, da er sich beim Laufen über sein Smartphone Musik reinpfiff. Bastard. Egal, wir würden bald wieder in der Zivilisation sein. Nach einer Weile kam uns ein Rentnerpärchen zu Pferd entgegen. Sie musterten uns missbilligend von oben bis unten. Zugegeben, Iza und ich sahen sicher beide schon mal frischer aus.
»Immer geradeaus, und wenn Sie die Straße erreichen, kommt danach ein paar Kilometern eine Tankstelle«, erklärte der Mann ungeduldig, nachdem wir ihn nach dem schnellsten Weg aus dem Wald heraus und nach etwas zu trinken gefragt hatten; eines derPferde schnaufte. Die Hälse von zwei Wasserflaschen lugten aus der Satteltasche des Pferdes.
»Bei der Tankstelle kriegen sie was zu trinken«, bemerkte der Mann gereizt. Der Gaul der Frau trabte schon langsam weiter. Der Mann trieb sein Pferd durch einen recht kräftigen Tritt in die Seite an, weiter zu galoppieren. Noch einmal schnaufte das Tier und weg waren sie.
»Huje!«, schrie Iza ihnen hinterher.
»Was?«
»Übersetz ich dir lieber nicht.«
»Schade.«
Nach einer Stunde erreichten wir die Tanke, die glücklicherweise gerade geöffnet hatte. So gierig hatte ich schon lange keinen Liter Mineralwasser mehr heruntergeschüttet, aber Iza hatte auch einen recht ordentlichen Zug. Wir trotteten zum Bahnhof, wo auch bald ein Zug kam. Der Pendlerverkehr hatte   begonnen,   und   wir mittendrin. Irgendwann störten uns die Blicke nicht mehr. Ich schaute aus dem Fenster, Iza lehnte sich an mich und schlief bald ein. Ich streichelte ihre Haare. Es war ein guter Ausflug gewesen.


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