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Jörg Neugebauer: shadow play

Gedichte > Gedichte der Woche



shadow play


                    1

was spritzt da auf?
schaum der sich brechenden welle
wenn ein nackter frauenkörper ins wasser taucht
die erotik des sinkenden schiffes
auf dem noch einmal die kapelle spielt
näher mein gott zu dir
dem weißen papier
dem untergrund der schrift
die manche mit dem gott verwechseln   
untergrund auf dem die gräber ruhn

sprich und zerbrich
dieses wort oder was
könnt dir so passen wie
andern der anzug
am frühen morgen ein sehr kaltes
taxi
stell ich mir in london vor
für coke oder was
singst du
helle des durchsichtigen äthers

im traurigen café saßen wir
schauten hinaus
ja in den regen  
was rauchst du soviel
weil ich fliegen will ohne flügel
der ist dir immer gestimmt
flügel auf dem wolkentraum
ein einsamer zug in der ferne
du singst mit hoher stimme
um mitternacht beginnt deine show
und wenn das saxophon einsetzt
fließen die tränen
wie im film
ein film ohne bilder
nur ton
mit pianogeklimper setzt der morgen ein
ein kaffee im café
ein anderer sänger
der auch von zügen im regen singt
aber anders
in anführungszeichen
als liege er dabei im gras
und schaue hoch in den himmel
das hört sich bassiger an
die hintergrundmädchen kreischen nur leise

                   2

der raum wird poetisch erzeugt
mit dem standpunkt wechselt die perspektive
dabei verschiebt sich die zeit
flüsse sind dafür geeignet
an der blau bin ich gegangen
zu beiden seiten schattenwerfende hügel
zwei kilometer durchs gewundene tal
dort hinterm grünen baum
wo die großeltern liegen
will ich doch wieder hin
fünfzehn
war ich
werde ich sein
fünfzehn warst du
meine erste geliebte
am ufer der blau lagen wir
werden wir liegen
zusammen ein dunkler hügel
doppeldeutigkeiten
sind oft genauer
eindeutiges täuscht
übern sonnenuntergang weg
zwielicht und dämmer liegt auf den flüssen
geschaut durch hochgeflügelte fenster
als entferne man sich in einem flug
der ordnende blickwinkel schwindet
und damit die zeit
wird gesang

elegisches stirbt so dahin
dithyrambisches bleibt
wo ist es besser als hier?
dank sagen alle
sei die treffendste weise ein gedicht zu verstehen
es gibt nichts zu deuten
der flug geht zu ende
unten irgendwo gleiten kähne
zwei von den vielen sind wir
von leichten wellen geschaukelt
wir stoßen im spaß aneinander
von brücken werden münzen geworfen
dunkler wird es um uns

paradoxien und vieldeutigkeiten
im leben erst recht im gedicht
shadow play - man hört nur ab und zu einen ton
die übrigen werden lautlos gespielt
zwischen sein und nichtsein schwebend
rhythmus tonfall lachen ja lachen geht auch
schwebende reiter mit hüten
die fast das ganze bild einnehmen
man sieht nur die hufe dicht überm boden
und diese hüte
groß wie das meer
dazu ist doch die poesie da
das scheitern der sprache erlebbar zu machen

                   3

schornsteine brechen ein
nachts um zwei
wir können nichts tun
sehen die leute versinken
in arnos ballhaus wird noch getanzt
ein schlauchdieb nutzte die wechselnde stille
die evakuierung hätte längst stattfinden müssen
wenn der deich überläuft
stehst du bis zu den hüften im wasser

geschwätzige bahnhöfe
dazwischen schienen leere schweigen
ein klopfendes herz die kabine des lokführers
seelenmörder legen ihr selbst auf die gleise
streckenwächter räumen es ab
nehmen es mit nach hause
um es ihren kindern zu zeigen
am bahnsteig hat das grüßen ein ende
übern zuglautsprecher werden gedichte verlesen
angeblich vom bahnchef verfasst
hoch die posaune!
die schaffnerin legt im wagen parkett aus
klosterzüge mit schweigenden mönchen
mehrere papiertüten lang blieb die zeit in der schwebe

eines tages gehe ich fort
ich hatte oft daran gedacht
mir das fortgehen vorgestellt
ich der ich nie fortgehen wollte
andere dachte ich mögen fortgehen
sollen sie doch
ich werde bleiben
was auch geschieht
ich werde bleiben
seht alle her ihr die ihr fortgeht
dieser hier bleibt
dieser wird niemals fortgehen
und doch bin auch ich am ende gegangen
am ende geht jeder
weshalb nicht auch ich
am ende bin auch ich gegangen


Jörg Neugebauer: shadow play erhielt den Preis des Bibliotheksverbandes Oberbayern 2012 im Rahmen des Lyrikpreises München


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