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Jörg Bernig: in untergegangenen reichen

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen

Timo Brandt

„vollkommene Welt, die nicht nach uns fragt“

„wie tanker die groß einstmals im hafen
vor augen uns lagen ziehen die jahre
davon und gehn als schaluppen zu
auf den horizont des vergessens“

Der Prolog von Jörg Bernigs Gedichtband inszeniert das lyrische Ich als König, als ehemaligen Herrscher über eine alte, unberührte, prächtige Welt, ein Reich des Anbeginns. Schon im Vorsatz wird John Banville mit einem Satz über „the time of the gods“ zitiert. Die Idee titanischer Herrscherlegenden und der untergegangenen Reiche ihrer Zunft wird noch einige Male angespielt, setzt sich aber nicht als Thema des Buches durch, bleibt eine dann und wann auftauchende Erzählung, in der sich das eigentliche Grundthema des Bandes auf leicht obskure Weise spiegelt.

Dieses eigentliche Thema wird angedeutet in einem Zitat, das dem Band ebenfalls vorangestellt ist: Die berühmte letzte Strophe aus Robert Frosts Gedicht „The Road Not Taken“.

„I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.”

Es gibt einige Interpretationen zu diesem Gedicht und vor allem zu den letzten Zeilen. Manche sind der Meinung, Frost würde hier die Beliebigkeit jedweder Entscheidung portraitieren, für andere ist das Gedicht wiederum ein Aufruf zur Wahl den unklareren Weges; es gibt natürlich noch komplexere Ansichten, die z.B. das Problem der Dualität von Körper und Seele oder Körper und Geist in dem Gedicht verhandelt sehen. In jedem Fall kreist es um das Dilemma der Entscheidung.

Im Kontext von Bernigs Band bekommt die Strophe noch einmal eine andere Bedeutung, da der Fokus hier nicht vorrangig auf der Entscheidung, auf den letzten beiden Zeilen, sondern vielmehr auf den ersten beiden liegt: „Ich werde vielleicht mit einem Seufzen davon berichten, wenn viele, viele Jahre vergangen sind“. Eigentlich findet der Großteil des Bandes in eben jenem Moment statt, den Frosts lyrisches Ich als mögliche Zukunft evoziert: dem Moment des Zurückblickens in Form eines seufzenden Berichts vom weiteren Verlauf der Straße.

„und unser leben ein handumdrehen die tagebuchseiten bekritzelt
mit nichts und stoßgebeten und flüchen
wir sehen einer erinnerung nach und
ah! das langsame kippen der tage“

„The years worked out the doubts, nameless“, heißt es bei Thomas Hardy und auch dieses Zitat könnte Pate stehen für den Band. Die Jahre arbeiten die Gewissheit, aber auch die Zweifel heraus, schleifen unsere Wahrnehmung zu einer feineren Schicht; aber die Bewegung, die die Wahrnehmung schliff, floss vorbei, das Leben wird größer und gleichsam kleiner und immer mehr zum Panorama, noch bewegt, aber bevölkert von vielen unbewegten Dingen.

Die untergegangenen Reiche sind eben nicht die Imperien der Götter, keine räumliche Monstrosität, sondern die Zeiten, die einst vor uns lagen und mit einem Mal hinter uns – Zeiten, von denen kaum etwas bleibt als das Konzentrat unserer Erinnerungen und eben jene einsichtige Wahrnehmung, die die Vergänglichkeit noch genauer feststellt.

„ein paar alte bilder und
nicht zu ende gelesene bücher
ein seit ewigkeiten verschollener schlüssel“

Bernigs Verse nähern sich dem Vergänglichen von vielen Seiten. Erinnerungen, Gegenstände, Anblicke, Jahreszeiten oder Überlegungen können der Auslöser sein für die Erkenntnis, dass vieles in unserem Leben, wenn es sich nicht gerade prall aufdrängt, auf dem Rückzug ist. Und das Schmerzliche ist, dass es trotzdem ein ständiges Erreichen gibt, das diesem Schwinden vorausgeht, und wir, die empfindenden Wesen, der Scheitelpunkt dieses Ankommens und Gehens sind, im Zentrum und doch nur ein kleiner Teil der Bahn – der entscheidende vielleicht, aber nichtdestotrotz ein winziger.

„die versteinerten stunden die rasenden jahre
endlose tage zerplatze dezennien
[…]
und weit ausgebreitet liegt
des augenblicks endlose halle“

„und die zeit fällt zusammen in einem einzigen punkt
doch wohin du auch siehst alles bleibt
oder geht’s weg? grußlos und still“

Es ist beeindruckend wie Jörg Bernig diesem Thema immer wieder neue Bilder und subtilere Auslotungen abtrotzen kann. Seine Variationen über Vergänglichkeit und Rückschau sind zwar nicht immer originell, aber jede einzelne Verdichtung baut in ihren Räumen eine gelungene Atmosphäre auf, tendiert gekonnt zum Nullpunkt, der umflirrt wird von Anschlägen auf der Skala, von denen man nicht weiß, ob sie jenes Muster aus Erreichen und Ersterben bestätigen, oder ob sie sich ihm zu widersetzen versuchen.

„dann ist das große versprechen
des sommers gebrochen
und doch: war es nicht schön
der ewigkeitslüge zu glauben?“

Zu empfehlen ist Bernigs Band jenen, die sich gerne in eine Gedichtsammlung versenken, in der jedes Gedicht ein Mosaikstein ist, die zusammen einen langsam sich vervollkommnenden Eindruck hervorbringen. Das Tiefschürfende steht hier neben dem Unauffälligen, und zusammen bilden sie Oberfläche und Echo-Raum für die emotionale Größe des ganzen Themas. Bernig wird nie übermäßig rührig, aber es ist, als wanderten immer Finger über den Text, die etwas erfühlen, etwas berühren.

„mäandern auf der Suche nach Sinn | ach
zuweilen tät es schon form |“

Also: eine Empfehlung. Und hier noch ein letzter Ausschnitt aus einem Gedicht über das Still-leben der Dinge.

„dinge angelagert seit je und beigestellt wie gefährten | tischweit verstreutes
[…]
an dieses unscheinbare tischfloß geklammert trieb ich
unter den schildkrötenaugen der dinge zeitlos glückhaft und glücklich
[…]
fern schwirrte delphinisches singen oder waren’s sirenen?
[…]
ach ihr dinge […]
ihr duldet mich bloß und dient mir gelassen und wartet dass ich wieder gehe“


Jörg Bernig: in untergegangenen reichen. Gedichte. Berlin (Edition Rugerup) 2017. 124 Seiten. 18,90 Euro.
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