Joachim Frank: Die Ewigkeit und ich
Montags=Text
Joachim Frank
Die Ewigkeit und ich
Seht doch die Ewigkeit! Und seht dann mich! Wieviel mehr ist die Ewigkeit als ich. Wieviel hunderttausendmal. Und streb' ich noch so hochgemut hinan/ gegen die Ewigkeit komm' ich nicht an.
Die Ewigkeit hat eine Fahne mit Wappen: Ein rotgelockter Engel stürzt sich auf einen doppel-köpfigen Löwen, der mit dem einen Kopf die Milchstraße verschlingt und mit dem anderen in der Heiligen Schrift herumblättert.
Man sieht zwischen dem zweiten Ohr des rechten Kopfes und dem orionseitigen Ende seiner Mahlzeit ein Initial: es könnte das erste große "F" von FÜRCHTE DICH NICHT sein. Da der Löwe mit seinen beiden Köpfen beschäftigt ist, gibt man dem vorbeistürzenden Engel gute Chancen, drückt ihm, während er vorbeistürzt, sozusagen die Hände.
Stellt man sich vor, wie heftig der Engel tatsächlich vorbeistürzt, so hat man sich, um diesen Händedruck zu bewerkstelligen, ohne die eigentliche Aufgabe des Engels zu gefährden, gleichzeitig vorzustellen, daß man vom bloßen Zusehen aus blitzschnell beschleunigt, seine Hände ergreift, während man mit den Augen seinen Blick zu fangen versucht, diese etwa zwölf Sekunden lang drückt, dann losläßt und durch Abbremsen wieder in die normale schlaffe Lage zurückfällt.
Man wird unschwer feststellen, daß man in der kurzen Zeit ungeheure Entfernungen zurückgelegt hat. Man sieht nunmehr zwischen dem zweiten Ohr des rechten Kopfes und dem orionseitigen Ende der Mahlzeit des Löwen ein "ü". Man wird sich jetzt einen Begriff machen können von der Größe und der Spannweite der Heiligen Schrift. Sie ist so groß wie das Weltall, das man früher schlicht All nannte, und damit ist die Allgegenwart Gottvaters auf eine ganz natürliche Weise hergeleitet, erklärt und bewiesen. Und der Löwe ist nicht viel größer als ein Initial, und im Grunde ist er ein erbärmliches Vieh. Er hält sich derart am Zwickel zwischen den beiden Buchhälften fest - mit anderen Worten: an der Halbzeit der Ewigkeit oder der Diagonale des Alls - daß es den Anschein hat, als halte er die Welt etwa in Sehweite von seinem zweiten Kopf entfernt.
Joachim
Frank, geboren 1940, ist ein in den USA lebender, deutsch-amerikanischer
Naturwissenschaftler (Nobelpreis für Chemie 2017), Schriftsteller, Lyriker und
Fotograf. Seine Kurzgeschichten und Gedichte erschienen bisher auf
verschiedenen Internetplatt-formen, z.B. The New Poet, Offcourse, Raving Dove u.v.a.