Jean-Louis Giovannoni: Den Toten bewachen
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Jan Kuhlbrodt
Jean-Louis Giovannoni: Den Toten bewachen. Gedichte. Französisch
/ Deutsch. Übersetzt von Paula Scholemann und Christoph Schmitz-Scholemann. Coesfeld
(Elsinor Verlag) 2021. 156 Seiten. 16,00 Euro.
Exerzitien des Sterbens
Gerade ist viel vom Sterben die Rede. Allerdings weniger von
dessen körperlicher Dimension. Der Tod begegnet uns als Zahl, als Anzahl in der
Statistik des täglichen Vergehens. Als Übersterblichkeit. Bilder der Toten
erreichen uns kaum. In der Anzahl verschwindet das individuelle Schicksal und
die konkrete Trauer der Hinterbliebenen. Insofern vielleicht ist der
Gedichtband von Jean-Louis Giovannoni „Den Toten bewachen“ ein Antidot.
In der Mitte des Buches der Moment des Sterbens, des
Übergangs vom belebten, beseelten Körper zum Körper, der nicht mehr aus eigener
Kraft sich bewegt. Das Ende der Maschine.
Jean-Louis Giovannoni beschreibt das Sterben, er beschreibt
es von außen.
alles verheiltdie gestenfallen zurück in die gliederes beginnt die stille
Aber auch die Stille, wie jedes Beginnende, beginnt für die
Lebenden. Für den Gestorbenen ist sie nicht mehr zu erfahren, sie beginnt
jenseits des Endes, der Verwandlung des Menschen in Fleisch.
Giovannoni wohnt einer Sterbenden bei, beobachtet,
assistiert. Doch nein, Letzteres nicht. Es gehört zur Brutalität der
Erkenntnis, dass sich das Sterben einsam vollzieht, denn ins Innere des Körpers
sehen wir nicht, auch wenn wir dabei sind.
„Und weil jeder von uns immer nur einer von vielen ist, weil wir sterben müssen wie alle anderen, weil der Tod der gemeinsame Nenner schlechthin ist, der uns zurück-wirft in die taubstumme Klasse der Elementarteilchen, deshalb ist Gleichheit vor dem Tod zwangsläufig gleich-bedeutend mit Materialismus.“schreibt Éric Vuillard in seinem Nachwort.
Er bezieht sich dabei auf einen kanonischen Text
europäischer Dichtung und zitiert Villons „Testament“: Jenen Text, der den
Körper als zerfallenden in die Dichtung einführt, und der uns in verschiedenen
Verwandlungen ab und an wieder begegnet.
In deutscher Dichtung in Benns frühem Zyklus „Morgue“
beispielsweise, der den Vorhang beiseite nimmt und den Blick auf die versehrten
Körper gnadenlos freigibt, oder in Brechts „Ballade vom toten Soldaten“; in dem
die Lebenden versuchen, einen Leichnam kampffähig zu halten.
Aber sowohl hinter Benns Zyklus, als auch hinter Brechts
Ballade lauert eine Ausflucht. Ein Rest Metaphysik. Ein Moment der Illusion der
Überwindung des Todes. Eine idealistische Spur. Und diese scheint mir in
Giovannonis Zyklus vom Sterben vergangen zu sein. Das Ende wird als Ende ernst
genommen. Was bleibt ist ein physischer Körper.
Hier, meine ich, eine französische Spur zu erkennen.
Angefangen hat das mit den anatomischen Untersuchungen Descartes‘ und dessen
Trennung von Körper und Seele, letztere verortete er in der Zirbeldrüse, die in
seinen Augen sonst zu nichts gut wäre. Sein in gewisser Hinsicht Nachfolger,
der Arzt und Philosoph La Mettrie strich die Seele ganz aus dem physischen
Bauplan. Für ihn blieb der Mensch als Maschine, und das, was wir als seelische
Reaktionen sehen, als Effekt der Maschinerie. Und der Körper des Gestorbenen
kühlt in jeder Hinsicht aus.
man darf nicht zu lange wartenbis man ihn anziehtwenn die kälte ihn schonzu lange gepackt hatriskiert man ihm die knochen zu brechen
Einmal, als ich in den späten Achtzigern ein paar Tage meine
Mutter besuchte, klingelte eine Nachbarin. Ihr Mann sei im Bad
zusammengebrochen. Ich ging, um zu helfen, mit ihr in die Wohnung und fand
ihren Mann auf dem Steinboden liegend vorm Waschbecken. Der Körper gekrümmt,
denn er war sehr groß und die Bäder in ostdeutschen Neubauten winzig. Er war
tot, daran bestand kein Zweifel. Die Nachbarin ging zur nächsten Telefonzelle,
um einen Notarzt zu rufen, und ich versuchte, den Leichnam derweil aus dem Bad
ins Wohnzimmer zu schaffen, um ihn auf das Sofa betten zu können. Er war sehr
schwer. Als ich ihn an den Armen anzuheben versuchte, entwich seiner Lunge noch
ein Rest Atemluft, mit einem Geräusch, das mir einen Schreck in die Glieder
jagte. Daran habe ich mich sehr plastisch bei der Lektüre dieses Buches
erinnert. Und vielleicht wartet es nicht mit unmittelbarem Trost auf, aber die
Illusionslosigkeit des Textes reinigt.
Aus dem Französischen übersetzt wurden die Texte von Paula
Scholemann und Christoph Schmitz-Scholemann.