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Jean Le Rond d'Alembert: Ursprung und Entwickelung der Wissenschaften und Künste

Poeterey
Jean Le Rond d'Alembert:
Ursprung und Entwickelung der Wissenschaften und Künste


Jeder, der nur ein wenig über die zwischen den einzelnen Erfindungen bestehende Verknüpfung nachgedacht hat, wird unschwer bemerken, daß Wissenschaften und Künste einander wechselseitig unterstützen, und daß demgemäß ein sie vereinigendes Band existiert. Doch oft ist es schwer, jede einzelne Wissenschaft oder Kunst auf eine geringe Anzahl von Regeln oder allgemeinen Begriffen zurückzuführen, und nicht leichter ist die Aufgabe, die verschiedenen Zweige des menschlichen Wissens zu einem einheitlichen System zu vereinigen.
    Der erste Schritt, den wir in diesem Versuche zu unternehmen haben, besteht in der Untersuchung des Ursprungs und des Werdens unserer Erkenntnisse, der Ursachen, denen sie ihr Dasein verdanken, sowie der Eigentümlichkeiten, durch die sie sich unterscheiden, kurz darin, bis zum Ursprung und dem ersten Werden unserer Ideen hinaufzusteigen.
    Unsere Erkenntnisse lassen sich insgesamt in unmittelbare und in solche der Reflexion einteilen. Unter den ersteren hat man alle jene Erkenntnisse zu verstehen, die wir ohne Zuthun unseres Willens empfangen und die, indem sie gleichsam alle Pforten unserer Seele offen finden, ohne Widerstand und Anstrengung in dieselbe eindringen. Die Erkenntnisse der Reflexion dagegen erwirbt der Geist durch Verarbeitung der unmittelbaren Erkenntnisse, durch deren Zusammensetzung und Kombinierung.
    Alle unsere unmittelbaren Erkenntnisse führen schließlich auf die durch die Sinne erlangten zurück, woraus sich ergiebt, daß alle unsere Ideen aus den Sinnen entspringen. Dieses schon von den alten Philosophen aufgestellte Princip galt den Scholastikern als Axiom. Dazu genügte das Alter dieses Princips, und mit dem gleichen Eifer hätten sie auch die »substantiellen Formen« oder »verborgenen Qualitäten« verteidigt. Daher wurde denn auch diese Wahrheit zur Zeit der Wiedergeburt der Philosophie genau so behandelt wie die absurden Ansichten, von denen man sie hätte unterscheiden müssen; sie ward mit denselben verpönt, denn nichts schadet der Wahrheit mehr und setzt sie so vielen Mißverständnissen aus als die Vermengung derselben mit dem Irrtum. An die Stelle des scholastischen Axioms trat in der Folge die Lehre von den angeborenen Ideen, die vielleicht in verschiedener Hinsicht bestechender und auffallender ist, und sie besitzt nach langer Herrschaft immer noch einige Anhänger; so schwer fällt es der Wahrheit, den ihr von Vorurteilen und Sophismen geraubten Platz wieder zu erlangen. Seit kurzem nun kommt man zu der Ansicht, daß die Alten recht hatten, und dies ist nicht die einzige Frage, bezüglich welcher wir uns ihnen zu nähern beginnen.
    Nichts steht fester als das Dasein unserer Sinnesempfindungen; es genügt deshalb, um darzuthun, daß sie die Quelle unserer gesamten Erkenntnis sind, der Nachweis, daß dies wohl möglich ist. In jeder guten Philosophie ist alle auf Thatsachen oder anerkannte Wahrheiten fußende Erklärung derjenigen vorzuziehen, die sich auf wenn auch sinnreiche Hypothesen stützt. Wozu sollen wir also annehmen, wir hätten schon ursprünglich rein intellektuelle Begriffe, wenn zu deren Erzeugung die Reflexion auf unsere Empfindungen hinreicht? Die Einzelheiten, in die wir jetzt eintreten, werden zeigen, daß in der That die erwähnten Begriffe keinen andern Ursprung haben.
    Das erste, was uns unsere Empfindungen kundgeben und was von ihnen selbst nicht unterschieden wird, ist unsere eigene Existenz, woraus hervorgeht, unsere ersten Reflexionsvorstellungen mußten uns selbst, nämlich jenes denkende Princip, das unser Wesen bildet und mit unserem Ich eins ist, betreffen. In zweiter Linie zeitigen unsere Sinnesempfindungen die Erkenntnis des Daseins der Außendinge, einschließlich unseres eigenen Leibes, da derselbe uns ein Äußeres ist schon ehe wir die Natur des in uns denkenden Princips erkannt haben. Die von diesen Außendingen auf uns geübte Einwirkung ist so mächtig, stetig, fesselnd, daß wir, nach einem ersten Momente der durch unsere Reflexionsvorstellungen vermittelten Besinnung auf uns selbst, infolge der von allen Seiten uns bestürmenden Eindrücke gezwungen sind, aus uns herauszugehen, wo wir sonst isoliert geblieben wären. Die Menge dieser Empfindungen, die Übereinstimmung in ihrem Auftreten, ihre Bestimmtheiten, die nicht gewollten Erregungen, in die sie uns versetzen, im Vergleiche mit der willkürlichen Lenkung unserer Gedanken: dies alles bewirkt in uns einen unbezwingbaren Hang zum Glauben an die wirkliche Existenz der Gegenstände, auf die wir unsere Empfindungen beziehen und deren Ursachen sie zu sein scheinen, einen Hang, den viele Philosophen als das Werk eines höheren Wesens und als das triftigste Argument für das Dasein der Außendinge betrachtet haben. Und da es nun thatsächlich keine Beziehung zwischen der besonderen Empfindung und dem sie veranlassenden Gegenstande giebt, so scheint sich kein Weg finden zu lassen, auf dem man durch Folgerung von dem Einen zum Andern gelangen könnte; es kann vielmehr nur eine Art Instinkt, sicherer als alle Vernunft, sein, was uns zur Überschreitung eines solchen Zwischenraums zu nötigen vermag. Dieser Instinkt äußert sich in uns so lebhaft, daß, angenommen, er dauere nach Vernichtung der Außendinge fort, dieselben Gegenstände, wieder ins Dasein getreten, seine Stärke nicht vermehren könnten. Zaudern wir also nicht mit der Annahme, daß unseren Empfindungen die äußeren Ursachen, die wir voraussetzen, wirklich entsprechen; denn was aus dem wirklichen Dasein dieser Ursachen resultieren kann, könnte in keiner Weise von dem von uns Erfahrenen abweichen. Ahmen wir nicht jenen Philosophen nach, die, wie Montaigne erwähnt, auf die Frage nach dem Princip der menschlichen Handlungen erst an die Untersuchung gehen, ob es Menschen giebt. Weit entfernt, eine Wahrheit zu verdunkeln, die sogar die Skeptiker in der Praxis anerkennen, überlassen wir die Sorge um die Erklärung des Princips den Metaphysikern; es ist an ihnen, wenn möglich, zu bestimmen, welche Stufenfolge unsere Seele bei diesem ersten Schritt einhält, den sie begeht, gleichsam gestoßen und zurückgehalten zugleich durch eine Menge von Vorstellungen, die sie einerseits zu den Außendingen hinziehen, anderseits aber nur einen Bestandteil des Geistes bilden, den sie auf einen engen Raum, aus dem herauszugehen ihm nicht gestattet ist, zu beschränken scheinen.
    Unter all den Gegenständen, die uns durch ihre Gegenwart afficieren, ist es unser eigener Leib, dessen Dasein sich uns am meisten aufdrängt, deshalb, weil er so ganz unser Eigentum ist. Wir werden uns aber kaum unseres Leibes bewußt, als wir auch schon gewahr werden, welcher Aufmerksamkeit es zur Abwehr der ihn bedräuenden Gefahren bedarf. Tausenderlei Bedürfnissen unterworfen und den Einwirkungen der Außenwelt ausgesetzt, würde er ohne Sorge für seine Erhaltung in Bälde vernichtet werden. Nicht als ob alle Außendinge Unlustgefühle in uns erregten, einige scheinen uns durch die mit ihrer Einwirkung auf uns verknüpfte Lust entschädigen zu wollen; aber leider ist der Mensch so beschaffen, daß uns der Schmerz am stärksten erregt, während die Lust geringeren Eindruck macht und uns kaum über den ersteren hinwegzusetzen verhilft. Diese Thatsache wird nicht durch die Versicherung einiger Philosophen beeinträchtigt, die, in ihren Leiden sich aller Klagen enthaltend, behaupteten, der Schmerz sei kein Übel; auch nicht durch den Umstand, daß wieder Andere das höchste Gut in die Lust setzten, die sie jedoch aus Furcht vor den Folgen auch sich zu versagen nicht unterließen. Sie alle hätten eine tiefere Erkenntnis der menschlichen Natur an den Tag gelegt, wenn sie es sich hätten genügen lassen, die Glückseligkeit dieses Lebens auf das Freisein von Schmerz zu beschränken und einzugestehen, daß es uns blos gestattet sei, uns, im Verhältnis zu unseren Bestrebungen und unserer Wachsamkeit, ihr zu nähern.
    Die Notwendigkeit, unsern Leib vor Schmerz und Zerstörung zu schützen, treibt uns zur Untersuchung, welche von den Außendingen uns zu nützen und welche uns zu schaden vermögen, um dann die ersteren aufzusuchen, die letzteren dagegen zu fliehen. Wie wir aber mit der Betrachtung dieser Gegenstände den Anfang machen, entdecken wir unter ihnen eine große Zahl von Wesen, die uns völlig zu gleichen scheinen, d.h. deren Aussehen mit dem unsrigen durchaus übereinstimmt und die, soweit sich dies auf den ersten Blick beurteilen läßt, dieselben Vorstellungen wie wir zu haben scheinen. Wir werden so zu der Annahme gedrängt, daß diese Wesen auch unsere Bedürfnisse teilen und sie demgemäß das gleiche Interesse für deren Befriedigung hegen; daraus ergiebt sich wiederum, daß für uns in der Vereinigung mit diesen Wesen ein hoher Vorteil liegt, um festzustellen, was alles in der Natur nützliche, was schädliche Kräfte besitzt. Zum Princip und Träger dieser Vereinigung dient der Gedankenaustausch, der seinerseits die Erfindung der Zeichen bedingt. Derart entstehen die ersten Gesellschaften, mit ihnen notwendig auch die Sprachen.
    Dieser Verkehr mit den Mitmenschen, den einzuleiten wir durch so viele mächtige Beweggründe bestimmt werden, giebt unseren Gedanken bald eine größere Ausdehnung und erzeugt deren neue in uns, die sich vermutlich von jenen, die wir ohne alle Unterstützung gewonnen hätten, sehr weit entfernen. Wir überlassen es den Philosophen, zu entscheiden, ob dieser Wechselverkehr nicht in Verbindung mit der von uns zwischen den eigenen und den Gedanken der Mitmenschen konstatierten Ähnlichkeit zur Veranlassung jenes unüberwindlichen Hanges zur Anerkennung der Existenz der Dinge unserer Umgebung viel beiträgt. Bei meinem Thema bleibend, bemerke ich nur, daß die Annehmlichkeit und der Gewinn, der aus einem solchen Verkehre für uns entspringt und darin besteht, einerseits unsere Gedanken Andern mitzuteilen, anderseits fremde Gedanken den unseren einzuverleiben, uns verpflichten, die Bande des gesellschaftlichen Lebens immer fester zu verknüpfen und sie für uns so fruchtbringend als möglich zu gestalten. Da aber jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft auf diese Weise den aus ihr gezogenen Nutzen zu vermehren bestrebt ist und in jedem anderen Mitgliede dem gleichen Eifer gegenübersteht, so können nicht alle den Vorteil in gleichem Maße genießen, wiewohl sie dazu dasselbe Recht besitzen. So wird ein so natürliches Anrecht durch jenes »Recht des Stärkeren« genannte Recht der Ungleichheit verletzt, dessen Geltung uns den Tieren annähert und dessen Mißbrauch doch so schwer hintanzuhalten ist. So wird die gewissen Menschen von der Natur verliehene Kraft, die sie nur zur Unterstützung der Schwachen gebrauchen sollten, ganz im Gegenteile zum Anfang ihrer Bedrückung. Mit der Stärke dieser wächst aber auch die Ungeduld, mit der sie von den Schwächeren ertragen wird, weil sie ihre Ungerechtigkeit empfinden. Hier hat der Begriff des Unrechts, hier auch der Begriff des sittlich Guten und Bösen seine Quelle, Begriffe, nach deren Principien so viele Philosophen geforscht haben und welchen die in der Brust aller Menschen laut werdende Stimme selbst bei den rohesten Völkern Geltung verschafft. Hier liegt auch die Quelle jenes Naturgesetzes in uns, das die Grundlage aller übrigen, von den Menschen geschaffenen Gesetze bildet. Auch ohne Unterstützung seitens dieser hat es oft Macht genug, um, wenn auch nicht die Unterdrückung aufzuheben, so doch wenigstens sie einzuschränken. Dergestalt bewirkt das Übel, das uns durch die Laster unserer Mitmenschen widerfährt, in uns die reflektive Erkenntnis der diesen Lastern entgegengesetzten Tugenden, welche kostbare Erkenntnis uns bei einer völligen Einheit und Gleichheit entgangen wäre.
    Die Erlangung der Ideen des Rechts und des Unrechts sowie der sittlichen Beschaffenheit von Handlungen führt uns unmittelbar zur Frage, was denn das in uns thätige Princip oder, was auf dasselbe hinauskommt, die wollende und denkende Substanz sei. Auch ohne gründliche Untersuchung der Natur unseres Leibes und des Begriffes, den wir von ihm haben, ist ersichtlich, daß nicht er diese Substanz sein kann, deshalb, weil die von uns an der Materie vorgefundenen Eigenschaften nichts mit dem Vermögen zu wollen und zu denken gemein haben. Also muß angenommen werden, daß jenes Ich-bezeichnete Wesen aus zwei verschiedenen Principien zu solcher Einheit zusammengesetzt ist, daß eine Übereinstimmung zwischen den Bewegungen des Einen und den Zuständen des Andern besteht, die sich weder aufheben noch modificiren läßt und die sie in eine gegenseitige Abhängigkeit versetzt. Diese von uns so sehr unabhängige Verknüpfung bringt uns im Vereine mit den durch die Natur und die Unvollkommenheit der beiden Principien eingeflößten Gedanken zur Idee einer allmächtigen Intelligenz, der wir alles, was wir sind, verdanken, und die demzufolge unsere Verehrung fordert. Schon unser innerstes Gefühl würde uns das Dasein einer solchen Intelligenz vergewissern, auch wenn das allgemeine Zeugnis der übrigen Menschen und der gesamten Natur nicht noch dazu käme.
    Offenbar sind also die abstrakten Begriffe des Lasters und der Tugend, das Princip und die Notwendigkeit der Gesetze, die Geistigkeit der Seele, das Dasein Gottes und die Pflichten, die wir gegen ihn haben, kurz die Wahrheiten, deren wir auf's Dringendste und Unerläßlichste bedürfen, die Früchte der ersten durch unsere Wahrnehmungen veranlaßten Reflexionen.
    Von welchem Interesse auch diese Grundwahrheiten für den edelsten Teil unseres Ichs sein mögen, so zieht doch bald der Leib, an den er geknüpft ist, durch die Notwendigkeit, für eine Anzahl immer mehr anwachsender Bedürfnisse Sorge zu tragen, die Aufmerksamkeit auf sich. Die Erhaltung desselben besteht teils in der Abwehr der ihn bedrückenden Übel, teils in der Beseitigung derjenigen, von denen er bereits befallen ist. Diesen Bestrebungen dienen zwei Mittel: Die verschiedenen von uns selbst gemachten Entdeckungen und die Forschungen der anderen Menschen, deren Mitgenuß uns der Gesellschaftsverkehr ermöglicht. Auf diese Weise müssen zuerst Ackerbau und Heilkunst, dann auch die allernotwendigsten Handwerke entstanden sein. Sie sind zugleich unsere ersten Erkenntnisse und die Quelle aller übrigen, selbst derjenigen, die ihnen am wenigsten verwandt sind, gewesen. Dies ist noch genauer darzuthun.
    Indem die ersten Menschen einander gegenseitig mit ihren Kenntnissen aushalfen, gelangten sie bald vermöge ihrer getrennten und vereinigten Bemühungen zur Entdeckung eines Teiles von dem, wozu sie die Gegenstände ihrer Umgebung verwenden konnten. Im Streben nach nützlichen Kenntnissen haben sie sich sicherlich zuerst jeder unfruchtbaren Spekulation enthalten und haben rasch ein Naturobjekt nach dem andern in Augenschein genommen und sie nach ihren hervorstechendsten und handgreiflichsten Eigenschaften zusammengestellt. Dieser primitiven Kombination mußte dann eine andere folgen, die zwar genauer war, aber immer noch in Beziehung zu den menschlichen Bedürfnissen stand und hauptsächlich auf die tiefere Erforschung einiger bei der Veränderung und Zerfällung der Körper weniger ins Auge fallender Eigenschaften sowie auf den aus ihnen gewinnbaren Nutzen sich gründete.
    Welchen Weg immer die Menschen, von denen wir sprechen, und ihre Nachkommen, angetrieben durch eine so wichtige Angelegenheit als es die Erhaltung ihrer selbst war, eingeschlagen haben mögen, jedenfalls hat sie die Erkenntnis dieses weiten Universums bald auf selbst durch die größten Anstrengungen nicht überwindbare Hindernisse stoßen lassen. Der an das Nachdenken gewöhnte Geist mußte nun, begierig daraus Früchte zu ernten, eine Art Unterstützung in der Entdeckung von blos merkwürdigen Eigenschaften an den Körpern finden, einer Entdeckung, der keine Grenzen gesteckt waren. Könnte uns eine große Menge erfreuender Kenntnisse für den Mangel einer nützlichen Wahrheit entschädigen, so dürfte man in der That sagen, das Studium der Natur bringe uns, wenn sie auch das uns Erforderliche verweigert, eine Fülle von Genüssen ein. Es tritt gewissermaßen, wenn auch mit nur unvollkommener Ausfüllung der Lücke, ein Überfluß an die Stelle des Mangels. Zudem nimmt das Vergnügen einen der ersten Plätze in der Reihe unserer Bedürfnisse und der Gegenstände unserer Leidenschaften ein, und die Wissensbegierde ist für den Denkenden ein Bedürfnis, zumal wenn dieses unruhige Streben durch einen gewissen Unmut, nicht völlig befriedigt werden zu können, belebt wird. So kommt es, daß wir eine Anzahl von Kenntnissen, die nur erfreulich sind, gerade der bedauerlichen Ohnmacht, die uns nützlichen zu erwerben, verdanken. Noch ein weiterer Beweggrund drängt uns zu gleicher Thätigkeit; ist nämlich der Nutzen nicht deren Ziel, so kann er doch den Vorwand dazu abgeben. Wir brauchen nur öfter in gewissen Erkenntnissen einen wahrhaften Gewinn gefunden zu haben, da, wo wir ihn nicht vermutet hätten, um uns für berechtigt zu halten, alle blos die Wissensbegierde stillenden Untersuchungen als solche anzusehen, die uns einmal Nutzen bringen könnten. Dies ist der Ursprung und der Grund des Fortschrittes jener vielseitigen Wissenschaft, die den allgemeinen Namen »Physik« oder »Naturforschung« führt und die so verschiedenartige Teile umfaßt. Agrikultur und Heilkunst, aus denen sie entsprang, sind jetzt nur Zweige derselben, auch haben diese Disciplinen trotz ihrer Wichtigkeit und ihres Alters in dem Maße, als sie mehr oder minder von den andern unterdrückt und verdunkelt wurden, in höherem oder geringerem Ansehen gestanden.
    Bei dieser teils gezwungenen teils freiwilligen Erforschung der Natur bemerken wir, daß die Körper eine große Menge von Eigenschaften besitzen, die aber so innig in einem Träger vereinigt sind, daß wir behufs ihrer gründlichen Untersuchung genötigt sind, sie einzeln in Augenschein zu nehmen. Durch diese Geistesthätigkeit entdecken wir bald Eigenschaften, die offenbar allen Körpern gemein sind, so die Fähigkeit der Bewegung und Ruhe und der gegenseitigen Mitteilung der Bewegung, die Quelle der in der Natur stattfindenden Hauptveränderungen. Die Untersuchung dieser Eigenschaften, besonders der letzteren, verhilft uns unter Mitwirkung unserer Sinne bald zur Auffindung einer andern Eigenschaft, von der sie abhängig erscheinen, nämlich der Undurchdringlichkeit oder der eigentümlichen Kraft, vermöge welcher ein Körper den andern aus seinem Orte ausschließt, dergestalt, daß zwei Körper trotz innigster Berührung doch niemals weniger Platz einnehmen können als vor ihrem Aneinandersein. Die Undurchdringlichkeit ist die Grundeigenschaft, durch welche wir die Körper von den Teilen des unbegrenzten Raumes unterscheiden, als den ausfüllend wir sie uns vorstellen; wenigstens veranlassen uns unsere Sinne zu einem solchen Urteil, und sollten sie uns in diesem Punkte täuschen, so ist dies ein so metaphysischer Irrtum, daß unser Dasein und unsere Erhaltung von ihm nicht das Mindeste zu besorgen haben und daß wir immer wieder, gleichsam wider Willen, infolge unserer gewöhnlichen Anschauungsweise zu ihm zurückkehren. Wir müssen den Raum, sei er nun real oder nur ein Vorstellungsgebilde, als Ort der Körper ansehen. Indem wir die Teile dieses Raumes als durchdringlich und unbewegt betrachten, erhalten wir den klarsten Begriff, den wir von der Bewegung haben können. So sind wir gleichsam von Natur aus genötigt, wenigstens begrifflich zweierlei Ausdehnungen zu unterscheiden, deren eine undurchdringlich ist, und deren andere den Ort der Körper bildet. Wird auch die Undurchdringlichkeit in dem Begriff, den wir uns betreffs der Teile der Materie bilden, als Merkmal aufgenommen, so pflegen wir sie doch bald als etwas von der Ausdehnung Unterschiedenes und Eines getrennt vom Andern zu betrachten, weil sie eine relative Eigenschaft ist, d. ,h. eine solche, deren Begriff aus der Vergleichung zweier Körper mit einander gewonnen wird.
    Diese Betrachtung läßt uns in den Körpern nichts als gestaltete und ausgedehnte Raumteile erblicken, der allgemeinste und abstrakteste Gesichtspunkt, unter dem sie sich ins Auge fassen lassen. Denn die Ausdehnung, in der wir keine gestalteten Teile unterschieden, wäre nichts als ein entferntes und dunkles Bild, an welchem uns alles entginge, weil wir eben nichts darauf zu erkennen vermöchten. Farbe und Gestalt, Eigenschaften, die bei aller Mannigfaltigkeit im Einzelnen stets mit den Körpern verknüpft sind, tragen in gewissem Maße zu deren Ablösung vom Raumhintergrunde bei, ja es genügt zu diesem Zwecke schon eine einzige dieser Eigenschaften. Aus diesem Grunde ziehen wir auch zur rein begriffsmäßigen Betrachtung der Körper die Gestalt der Farbe vor, sei es, weil uns erstere wegen ihres gleichzeitigen Erfaßtwerdens durch Gesichts- und Tastsinn vertrauter ist, oder sei es, weil sich an einem Körper die Gestalt ohne Farbe leichter als die Farbe ohne Gestalt vorstellen läßt, oder endlich sei es, daß die Gestalt uns bequemer und bestimmter die Teile des Raumes festzuhalten gestattet.
    Nun stehen wir auf dem Punkte, die Eigenschaften der Ausdehnung blos mit Bezug auf die Gestalt zu bestimmen. Damit hat es die Geometrie zu thun, welche Wissenschaft zur leichteren Erreichung ihres Zieles die Ausdehnung betrachtet, zuerst wie sie nach einer, dann nach zwei und schließlich nach drei Dimensionen begrenzt ist, welche das Wesen des mathematischen Körpers, d. ,h. eines Ausschnittes des nach jeder Richtung durch vom Denken gezogene Grenzen umschlossenen Raumes ausmachen.
    So entkleiden wir, vermittelst fortgesetzter geistiger Thätigkeit und Abstraktion die Materie fast aller ihrer wahrnehmbaren Qualitäten, um gleichsam nur ihr Schattenbild zurückzubehalten; und man wird sogleich bemerken, daß die durch diese Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse sich unausbleiblich allemal dann nutzbringend gestalten werden, wenn die Undurchdringlichkeit der Körper nicht in Berücksichtigung kommt, so wenn es sich darum handelt, ihre Bewegungen zu erforschen, indem man sie als gestaltete, bewegliche und von einander entfernte Raumteile betrachtet.
    Da uns die Beschäftigung mit der gestalteten Ausdehnung eine große Menge von Kombinationen zuführt, so ist es nötig, etwas zur leichteren Ausführung dieser Kombinationen zu erfinden; und da diese hauptsächlich in der Berechnung und Aufeinanderbeziehung der verschiedenen Teile, aus welchen wir uns die geometrischen Körper zusammengesetzt denken, bestehen, so gelangen wir infolge dieser Untersuchung von selbst zur Arithmetik, der Wissenschaft der Zahlen. Sie ist nichts anderes als die Kunst, für den Ausdruck eines aus der Vergleichung mehrerer Verhältnisse sich ergebenden einzigen Verhältnisses ein abgekürztes Verfahren zu erfinden. Die mannigfachen Vergleichungsweisen dieser Verhältnisse ergeben die verschiedenen Regeln der Arithmetik.
    Es kann ferner nicht ausbleiben, daß wir im Nachdenken über jene Regeln gewisse Sätze oder allgemeine Regeln der Beziehung gewahr werden, vermittelst welcher wir durch allgemeine Symbole für diese Verhältnisse die zwischen ihnen möglichen Kombinationen zu entdecken vermögen. Die auf eine einheitliche Form gebrachten Resultate dieser Kombinationen wären in der That nichts als arithmetische Rechnungen, die auf die einfachste und kürzeste Weise, die überhaupt mit ihrem allgemeinen Charakter vereinbar ist, angezeigt und dargestellt würden. Die Wissenschaft oder die Kunst, die Verhältnisse derart zum Ausdrucke zu bringen, heißt Algebra. Wir gelangen dadurch, obwohl alles Rechnen eigentlich nur mit Zahlen operiert, alle Größe nur durch Ausdehnung gemessen wird (denn ohne Raum wäre die Zeit nicht genau meßbar), unter stetiger Generalisation unserer Begriffe zu jenem wichtigen Theile der Mathematik und der Naturwissenschaften, der allgemeine Größenlehre heißt und der die Grundlage aller betreffs der Größe denkbaren Entdeckungen bildet, also bezüglich alles dessen, was der Vermehrung oder Verminderung fähig ist.
    Diese Wissenschaft ist die äußerste Grenze, die wir durch Betrachtung der materiellen Eigenschaften erreichen können; weiter kann man nicht gehen, ohne das Gebiet des Physischen gänzlich zu verlassen. Aber das Denken hält einen solchen Gang in seinem Untersuchen ein, daß es nach Verallgemeinerung seiner Vorstellungen bis zu dem Punkte, wo es sie nicht weiter zu zerlegen vermag, nunmehr in umgekehrter Reihenfolge dieselben Vorstellungen wieder zusammensetzt und aus ihnen allmählich und stufenweise die realen Wesen herstellt, die den unmittelbaren Gegenstand unserer Wahrnehmungen bilden. Diese in unmittelbarer Beziehung zu uns stehenden Wesen sind zugleich diejenigen, deren Studium uns am meisten angeht, während die Abstraktionen der Mathematik zwar unser Erkennen dieser Wesen erleichtern, jedoch nur insoweit Nutzen gewähren, als man bei ihnen nicht stehen bleibt.
    So beginnen wir denn auch, nachdem wir durch geometrische Spekulationen die Eigenschaften der gestalteten Ausdehnung erschöpft haben, ihr die dem physikalischen Körper eigene Undurchdringlichkeit, die letzte der wahrnehmbaren Qualitäten, deren wir sie entkleideten, wiederzugeben. Diese neue Betrachtung zieht jene, welche die Wechselwirkung der Körper zum Gegenstande hat, nach sich, denn die Körper wirken nur, sofern sie undurchdringlich sind, woraus die Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung, die Objekte der Mechanik, abzuleiten sind. Sogar bis zu den Bewegungen der durch unbekannte Kräfte oder wirkende Ursachen belebten Wesen erstrecken wir unsere Untersuchungen, wofern uns nur das Gesetz, gemäß welchem diese Ursachen wirken, bekannt oder doch als bekannt anzunehmen ist.
    Zur Körperwelt zurückgekehrt, wird uns bald klar, in welcher Weise Geometrie und Mechanik zur Erlangung der mannigfachsten und gründlichsten Kenntnisse bezüglich der Eigenschaften der Körper zu verwenden sind. So ungefähr sind alle der mathematischen Physik angehörenden Disciplinen entstanden. An ihre Spitze ist die Astronomie zu stellen, deren Studium nach dem des Menschen unsere Aufmerksamkeit wegen des uns von ihr dargebotenen herrlichen Schauspiels am meisten verdient. Durch Verbindung der Beobachtung mit der Rechnung und Erhellung des Einen durch das Andere bestimmt diese Wissenschaft die kompliziertesten Entfernungen und Bewegungen der Himmelskörper mit erstaunlicher Genauigkeit und weiß sogar die Kräfte anzugeben, welche diese Bewegungen bewirken oder verändern. Daher kann man sie mit Recht als die höchste und sicherste Anwendung der vereinigten Mathematik und Mechanik, und ihre Fortschritte als das festeste Denkmal des Erfolges, den der menschliche Geist durch seine Thätigkeit zu erringen vermag, betrachten.
    Von nicht geringerer Bedeutung ist die Anwendung der mathematischen Erkenntnisse bei der Untersuchung der uns umgebenden irdischen Körper. Alle von uns an diesen beobachteten Eigenschaften stehen untereinander in für uns mehr oder weniger bemerkbaren Beziehungen, und die Erkenntnis oder Auffindung dieser ist fast immer das einzige erreichbare Ziel, das wir uns setzen können. Wir dürfen also nicht hoffen, durch vage und willkürliche Hypothesen, sondern durch planmäßige Erforschung der Phänomene, durch die zwischen ihnen angestellten Vergleichungen, durch die Kunst, eine Vielheit von Erscheinungen soweit als möglich auf eine einzige, als ihr Princip anzusehende, zurückzuführen, die Natur zu ergründen. Je mehr die Menge der Principien einer Wissenschaft vermindert wird, desto größeren Umfang erhalten sie; denn da der Gegenstand einer Disciplin notwendig begrenzt ist, so werden die auf ihn Bezug habenden Principien um so fruchtbarer sein, als sie in der Minderzahl sind. Diese, sie überdies faßbarer machende Reduktion erzeugt den wahrhaft systematischen Geist, den man nicht mit dem Systemgeiste, mit dem er sich nicht immer berührt, verwechseln darf. Wir kommen noch darauf zurück.
    Da die erwähnte Reduktion je nach der größeren oder geringeren Schwierigkeit und Ausdehnung mehr oder minder schwierig ist, so ist man auch bald mehr, bald weniger berechtigt, sie von den des Studiums der Natur Beflissenen zu fordern. So hat z. ,B. der Magnet, ein Körper, den man so oft untersucht und betreffs dessen man so wunderbare Entdeckungen gemacht hat, die Eigenschaft, Eisen anzuziehen, ihm seine Kraft mitzuteilen, sich nach der Richtung der Erdpole hinzuwenden, mit einer Schwankung, die selbst Regeln unterliegt und nicht minder erstaunlich ist als es eine genauere Richtung wäre, endlich die Eigenschaft, sich unter Bildung eines mehr oder minder großen Winkels mit dem Horizonte entsprechend der Erdstelle, an der er sich befindet, zu neigen. Wahrscheinlich liegt allen diesen Eigenschaften irgend eine allgemeine Eigenschaft zu Grunde, die deren Quelle bildet, bisher unbekannt ist und es vielleicht noch lange bleiben wird. In Ermangelung einer solchen Erkenntnis sowie der erforderlichen Einsichten in die physikalische Ursache der magnetischen Eigenschaften wäre es sicherlich eine eines Philosophen recht würdige Aufgabe, alle Eigenschaften des Magnets möglichst auf eine einzige zurückzuführen, indem man die zwischen ihnen bestehende Verknüpfung nachweist. So sehr aber eine solche Entdeckung die Fortschritte der Physik fördern müßte, so haben wir doch Grund zur Befürchtung, sie sei uns versagt. Das Gleiche gilt von einer großen Zahl anderer Erscheinungen, deren Verkettung vielleicht im allgemeinen Weltzusammenhange begründet ist.
    Angesichts einer so schwierigen, obgleich so notwendigen und erfreulichen Untersuchung bleibt demnach nichts übrig, als eine möglichst große Zahl von Thatsachen zu sammeln, diese auf natürlichste Art zu ordnen und sie auf eine bestimmte Anzahl von Grundthatsachen, als deren bloße Folgen die übrigen sich darstellen würden, zurückzuführen. Wollen wir hier und da noch weiter gehen, so möge es mit jener weisen Behutsamkeit, die unserem kurzsichtigen Auge so wohl geziemt, geschehen.
    Dies ist das von uns an dem weiten, allgemeine Experimentalphysik genannten Gebiete der Physik zu befolgende Verfahren. Diese Disciplin unterscheidet sich von den mathematisch-physikalischen Wissenschaften dadurch, daß sie eigentlich nichts als eine rationelle Sammlung von Experimenten und Beobachtungen ist, wogegen jene durch Verbindung des mathematischen Kalküls mit dem durch Erfahrung gewonnenen oft aus einer einzigen Beobachtung eine Menge von Folgerungen ableitet, die ihrer Gewißheit nach den geometrischen Wahrheiten sehr nahe kommen. So ergiebt eine Erfahrung betreffs der Reflexion des Lichtes die gesamte Katoptrik oder Wissenschaft von den Eigenschaften der Spiegel, eine andere wiederum, die sich auf die Brechung der Lichtstrahlen bezieht, die Theorie der Farben sowie die ganze Dioptrik oder Wissenschaft von den Eigenschaften der konkaven und konvexen Linsen; aus einer einzigen Beobachtung des Flüssigkeitsdruckes gewinnt man alle Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung der Flüssigkeiten; eine einzige Erfahrung betreffs der Beschleunigung fallender Körper endlich führt zur Auffindung der Fallgesetze auf schiefen Ebenen sowie der Gesetzmäßigkeit der Pendelschwingungen.
    Indessen muß man gestehen, daß die Mathematiker mit dieser Verbindung von Algebra und Physik häufig Mißbrauch treiben. An Ermangelung eigener als Grundlage von Berechnungen geeigneter Beobachtungen nehmen sie ihre Zuflucht zu Hypothesen, die zwar der Wahrheit möglichst angepaßt werden, zuweilen aber auch sich von der Wirklichkeit recht weit entfernen. Sogar die Heilkunst hat man dem Kalkül unterworfen, und den menschlichen Körper, diese komplicirte Maschine, haben unsere ärztlichen Algebristen gerade so behandelt, als handle es sich um die einfachste und leichtest zerlegbare Verrichtung. Es ist sonderbar, wie diese Autoren mit einem Federzuge hydrostatische und statische Probleme lösen, die im stande sind, das ganze Leben der größten Mathematiker in Anspruch zu nehmen. Wir Klügeren oder Vorsichtigeren begnügen uns am besten, die Mehrzahl dieser vagen Behauptungen und Voraussetzungen als Geistesspiele zu betrachten, denen die Natur sich durchaus nicht zu fügen braucht. Nach unserer Ansicht besteht das alleinige, richtige Verfahren, auf dem Gebiete der Physik zu philosophiren, teils in der Verbindung mathematischer Analyse mit Beobachtung, teils in der durch den Geist der Methode erhellten, mitunter auch durch Konjekturen, wenn diese fruchtbare Gesichtspunkte eröffnen, unterstützten, jedoch von aller willkürlichen Hypothese freien Beobachtung allein.
    Verweilen wir hier einen Augenblicks um einen Blick auf das von uns durchlaufene Gebiet zu werfen. Zwei Grenzen werden wir daselbst bemerken, innerhalb deren sich die Gesamtheit der unserer Einsicht zu Gebote stehenden sicheren Erkenntnisse gewissermaßen konzentrirt. Die eine dieser Grenzen, jene, von der wir ausgingen, bildet das Selbstbewußtsein, das zur Idee eines allmächtigen Wesens und unserer Hauptpflichten führt; die andere ist jener Teil der Mathematik, dessen Gegenstand die allgemeinen Eigenschaften der Körper, der Ausdehnung und Größe bilden. Innerhalb dieser Grenzen erstreckt sich ein weiter Zwischenraum, wo die höchste Vernunft mit der menschlichen Wissensbegierde ihr Spiel getrieben zu haben scheint, durch die Dunkelheit, die sie darüber verbreitet, als auch durch den schwachen Schimmer, der, um uns anzuziehen, hier und da hervorzudringen scheint. Man könnte das Universum mit gewissen dunklen Werken vergleichen, deren Autoren bisweilen sich zum Gesichtskreise des Lesers herablassen, um ihm die Überzeugung beizubringen, er verstehe die Sache so ziemlich. Ein Glück, wenn wir uns in diesem Labyrinthe vornehmen, den richtigen Weg nicht zu verlassen; der zu unserer Führung bestimmte Lichtschimmer würde uns sonst nur von ihm abbringen.
    Übrigens muß die kleine Menge sicherer Kenntnisse, auf die wir zählen dürfen und die gleichsam an die beiden äußersten Enden des erwähnten Gebietes verlegt sind, für unsere Bedürfnisse hinreichen. Die menschliche Natur, deren Erkenntniß doch so nötig ist, bietet dem Menschen selbst ein undurchdringliches Mysterium dar, sobald er nur die Vernunft zur Führerin hat, und sogar die größten Geister gelangen durch Nachdenken über diese so wichtige Sache in vielen Fällen zu einem kaum bedeutenderen Wissen als das der übrigen Menschen. Dasselbe läßt sich bezüglich unserer gegenwärtigen und zukünftigen Existenz, der Natur des Wesens, dem wir sie verdanken, sowie des Kultus, den es von uns erheischt, sagen.
    Nichts ist uns daher nötiger als eine geoffenbarte Religion, die uns betreffs so vieler Dinge zu belehren vermag. Zur Ergänzung der natürlichen Einsicht bestimmt, enthüllt sie uns einen Teil von dem, was uns verborgen blieb, wobei sie sich aber auf das für uns absolut Wissenswerte beschränkt. Der Rest bleibt uns verschlossen und wird es augenscheinlich immer sein. Einige Glaubenswahrheiten, eine Anzahl praktischer Vorschriften, mehr gewährt die geoffenbarte Religion nicht. Immerhin ist das Volk durch die von ihr der Welt geschenkten Einsichten sicherer und entschiedener in Bezug auf eine große Menge wichtiger Fragen, als es je eine philosophische Schule gewesen ist.
    Anbelangend die mathematischen Disciplinen – die zweite der in Rede stehenden Grenzen – so braucht uns weder deren Wesen noch ihre Zahl einzuschüchtern. Sie verdanken ihre Sicherheit hauptsächlich der Einfachheit ihrer Objekte. Zudem muß eingestanden werden, daß, da in den verschiedenen Teilen der Mathematik nicht dasselbe behandelt wird, auch die strenge, d. ,h. auf apodiktischen und selbst-evidenten Sätzen beruhende Gewißheit weder in gleichem Maße noch in gleicher Weise allen diesen Teilen zukommt. Es sind unter ihnen einige, auf physikalische Principien, also auf Erfahrungswahrheiten oder blos auf Annahmen sich stützende, die nur empirische und selbst rein hypothetische Gewißheit besitzen. Im Grunde genommen tragen blos jene Teile, die sich mit der Größenberechnung und mit den allgemeinen Eigenschaften der Ausdehnung befassen, also Algebra, Geometrie und Mechanik, den Stempel der Evidenz an sich. Es besteht ferner in dem durch diese Wissenschaften gewährten Wissen eine bestimmte Abstufung und Steigerung. Je ausgedehnter, allgemeiner und abstrakter das von jenen umfaßte Wissen ist, desto weniger Dunkelheiten herrschen in ihren Principien, daher ist die Geometrie einfacher als die Mechanik und stehen beide wiederum der Algebra an Einfachheit nach. Dieser Umstand wird denen; welche diese Wissenschaften mit philosophischem Geiste studiert haben, nicht paradox erscheinen, denn gerade die abstraktesten, der großen Menge unzugänglichsten Begriffe sind oft von größerer Klarheit, während unsere Begriffe um so dunkler werden, je größer die Anzahl der an einem Gegenstande sich findenden sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ist. So scheint die Undurchdringlichkeit, mit dem Begriffe der Ausdehnung verknüpft, nur ein Rätsel mehr zu bieten; das Wesen der Bewegung wird ebenso wie das metaphysische Princip der Stoßgesetze philosophisch erfaßt. Kurzum, je mehr sich der Begriff der Materie und ihrer sie zur Erscheinung bringenden Qualitäten vertieft, desto dunkler wird sie uns selbst und um so mehr scheint sie uns entschlüpfen zu wollen.
    Man kann daher nicht umhin, einzuräumen, der Geist werde nicht in gleichem Maße durch alle Disciplinen der Mathematik befriedigt; weitergehend, prüfen wir ohne vorgefaßte Meinung, worauf die mathematischen Einsichten hinauslaufen und worauf sie sich beschränken. Auf den ersten Blick scheinen sie zweifellos zahlreich und in gewisser Hinsicht sogar unerschöpflich zu sein, aber man findet nach ihrer methodischen Aufstellung, daß man in Wirklichkeit bedeutend weniger reich ist, als man es glaubte. Dabei will ich gar nicht berücksichtigen, wie gering die Anwendbarkeit dieser Wahrheiten ist, denn dies wäre ein gar schwaches Argument gegen sie; ich betrachte vielmehr diese Wahrheiten, wie sie an und für sich sind. Was ist die Mehrzahl dieser Axiome, auf welche die Geometrie so stolz ist, anderes, als der Ausdruck einer einzigen Einsicht durch zwei verschiedene Zeichen oder Wörter? Hat denn derjenige, der erklärt, zweimal zwei seien vier, eine höhere Erkenntnis als jener, der sich mit der Aussage: Zweimal zwei sind zweimal zwei, begnügt? Sind nicht die Begriffe des Ganzen, des Teils, des Größeren und Kleineren eigentlich nur dieselbe einfache und einheitliche Idee, da man ja doch nicht eine derselben ohne das gleichzeitige Auftreten der andern sich vergegenwärtigen kann? Wie schon so mancher Denker fand, entspringen viele Irrtümer dem mit Worten getriebenen Mißbrauche; möglich, daß wir auch die Axiome einem solchen Mißbrauche zu verdanken haben. Gleichwohl fällt es mir nicht ein, ihren Gebrauch durchaus verurteilen zu wollen, ich will blos zeigen, worauf er beschränkt ist, darauf nämlich, unsere Elementarbegriffe durch Gewohnheit vertrauter und leichter verwendbar zu machen. Mit einigen Einschränkungen gilt das Gleiche auch von den mathematischen Lehrsätzen. Sie laufen, vorurteilslos betrachtet, auf eine geringe Zahl einfacher Wahrheiten hinaus. Man betrachte eine Reihe aus einander abgeleiteter geometrischer Sätze von der Beschaffenheit, daß je zwei angrenzende Sätze sich aneinander unmittelbar und lückenlos anschließen, und man wird finden, daß sie insgesamt nichts sind als der erste Satz, der sich gleichsam successiv und schrittweise beim Übergange von einer Folgerung zur andern umgestaltet hat, ohne jedoch durch diese Verkettung wirklich sich vervielfältigt zu haben, nur daß er verschiedene Gestalten angenommen hat. Es verhält sich mit diesem Satze so, wie wenn man ihn in einer allmählich entwickelten Sprache ausdrücken wollte und man dies nacheinander in den verschiedenen Weisen, welche den von der Sprache durchlaufenen Phasen entsprechen, thäte. Jede dieser Phasen würde in der nächstfolgenden zu erkennen sein, nicht mehr aber in einer späteren, wiewohl diese von den vorangehenden stets abhängig war. Demgemäß läßt sich die Kette mehrerer geometrischer Wahrheiten als eine Reihe von mehr oder weniger mannigfachen und komplizierten Übersetzungen desselben Lehrsatzes und oft auch derselben Voraussetzung ansehen. Diese Übersetzungen sind nun von großem Nutzen wegen der mannigfaltigen Anwendungen, die das in ihnen zum Ausdruck kommende Theorem gestattet, Anwendungen, deren Wert im geraden Verhältnisse zu ihrer Wichtigkeit und Ausdehnung steht. Bei aller Anerkennung des wirklichen Wertes der mathematischen Übertragung eines Satzes muß jedoch zugegeben werden, daß dieses Verdienst ursprünglich schon in dem Satze selbst steckt. Dies läßt uns notwendig empfinden, wie sehr wir in der Schuld der genialen Erfinder stehen, die durch Auffindung eines Teils dieser Grundwahrheiten, welche die Quelle und das Urbild einer großen Menge anderer darstellen, die Geometrie wahrhaft bereichert und deren Gebiet vergrößert haben.
    Das Gleiche gilt betreffs der physikalischen Wahrheiten und der körperlichen Eigenschaften, deren Verknüpfung wir bemerken. Trotz dieser erlangen wir von ihnen doch nur eine einfache und einzelne Erkenntnis. Treten andere auch in der Mehrzahl getrennt auf und bilden gesonderte Wahrheiten, so ist es doch nur die Schwäche unserer Verstandeskräfte, der wir diesen traurigen Gewinn verdanken, und wohl kann man behaupten, dieser Überfluß in jener Hinsicht sei nur die Wirkung unserer Armut. Die elektrischen Körper, an welchen so viele, aber nicht in Beziehung zu einander stehende Eigenschaften gefunden worden sind, gehören vielleicht in gewissem Sinne zu den Körpern, von denen wir am wenigsten wissen, wiewohl das Gegentheil der Fall zu sein scheint. Die Fähigkeit, die sie durch Reibung erlangen, kleine Körperchen anzuziehen und in den Lebewesen eine starke Erregung zu bewirken, sind für uns zweierlei; sie würden, könnten wir bis zur ersten Ursache Vordringen, nur ein einziges Faktum bilden. Ließe sich das Universum mit einem Blicke erfassen, es wäre, wenn der Ausdruck gestattet ist, eine einzige Thatsache und eine einzige große Wahrheit.
    Die von uns erwähnten sowohl nützlichen als erfreulichen Wissenschaften, deren Ursprung in unseren Bedürfnissen wurzelt, sind nicht die einzigen, deren Pflege nothwendig war. Noch andere, zu ihnen in Beziehung stehende, giebt es, deren sich die Menschen gleichzeitig mit den ersteren befleißigt haben. Wir würden auch alle zusammen besprochen haben, hätten wir nicht geglaubt, es sei der in dieser Abhandlung eingehaltenen logischen Anordnung angemessener, vorerst ohne Unterbrechung die von den Menschen betriebene allgemeine Untersuchung der Körper zur Betrachtung heranzuziehen, deshalb, weil sie damit den Anfang machten, der freilich weitere Untersuchungen sich anschlossen, deren Reihenfolge ungefähr die folgende gewesen sein mag.
    Der Gewinn, den die Menschen in der Umfangerweiterung ihrer Begriffe durch eigene Anstrengungen sowie durch Unterstützung der Mitmenschen fanden, brachte sie auf den Gedanken, es wäre von Nutzen, das Verfahren der Erkenntnisgewinnung selbst, sowie das des wechselseitigen Gedankenaustausches planmäßig zu gestalten, und so entstand die Kunst der Logik. Sie lehrt die naturgemäße Ordnung der Begriffe, die Herstellung der unmittelbarsten Verbindungen derselben, die Zergliederung jener, die allzuviel einfache Begriffe als Bestandteile enthalten, ihre allseitige Betrachtung, endlich die Kunst, sie andern leichtfaßlich darzustellen. Dies ist die Aufgabe dieser Wissenschaft des Schließens, die mit Recht als der Schlüssel zu unseren gesamten Erkennwissen betrachtet wird. Doch muß man nicht glauben, sie nähme in der Reihenfolge der Erfindungen den ersten Platz ein. Die Kunst des Schließens ist eine Gabe, die die Natur dem guten Kopfe von selbst gewährt, und so kann man behaupten, daß die sie abhandelnden Werke nur jenen nützlich sind, die sie entbehren können. Lange bevor die auf Regeln gebrachte Logik lehrte, die falschen Schlüsse zu entdecken oder auch durch eine subtile und trügerische Form zu verbergen, wurden schon viele richtige Schlüsse gezogen.
    Diese so wichtige Kunst, den richtigen Zusammenhang in die Begriffe zu bringen und dadurch den Uebergang von dem einen zu dem andern zu erleichtern, trägt einigermaßen zur gegenseitigen Annäherung der verschiedenartigsten Menschen bei. Alle unsere Erkenntnisse gehen in der That zuletzt auf Sinnesempfindungen hinaus, die in allen Menschen so ziemlich die gleichen sind, und die Kunst der Kombination und Verbindung unmittelbarer Vorstellungen giebt diesen eigentlich nur eine mehr oder minder genaue Ordnung und Aufeinanderfolge, die für die Anderen mehr oder minder deutlich gemacht werden kann. Derjenige, der seine Vorstellungen leicht zu kombinieren vermag, unterscheidet sich von jenem, dem eine solche Kombination schwer fällt, nur wenig, gleichwie derjenige, der nach einem Blicke ein Bild augenblicklich beurteilt, von jenem abweicht, der zur Schätzung des Bildes die einzelnen Teile desselben erst successiv betrachten muß. Beide hatten auf den ersten Blick die gleichen Eindrücke, aber den letzteren haben sie gleichsam nur zu der zweiten Betrachtung hingelenkt, und diese hätte nur aufgehalten und länger auf jeden Eindruck gerichtet sein müssen, um den Betrachter soweit zu bringen, als der erstere sofort sich befand; so hätte jener die Gedanken dieses ebenso wie unmittelbare Vorstellungen concipiert. Es hat demzufolge die Behauptung, es gebe kaum eine Wissenschaft oder Kunst, die man nicht durch äußerste Genauigkeit und Anwendung eines rationellen Verfahrens selbst dem beschränktesten Kopfe beibringen könnte, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich; denn wenige Disciplinen giebt es, deren Lehrsätze und Regeln nicht auf einfache Begriffe zurückzuführen wären, die so unmittelbar mit einander verknüpft sind, daß ihr Zusammenhang nirgends Lücken ausweist. Die gröbere oder geringere Langsamkeit, mit der die geistigen Operationen sich vollziehen, erheischt diese Verkettung der Begriffe in höherem oder geringerem Maße, und die großen Geister haben vor den anderen nur voraus, daß sie derselben minder bedürfen oder vielmehr, daß sie sie rascher und faßt unbewußt verknüpfen.
    Die Wissenschaft von der Gedanken-Mitteilung ist nicht auf das Ordnen der Gedanken selber beschränkt, sie lehrt auch, wie man auf die möglichst einfache Weise jeden Gedanken zum Ausdrucke bringt, und ebenso, wie die der Darstellung dienenden Zeichen zu vervollkommnen sind. Auch dies haben die Menschen schrittweise gethan. Zweifelsohne sind die mit und in den Gesellschaften entstandenen Sprachen Anfangs nur eine recht sonderbare Sammlung von Zeichen aller Art gewesen, und die ersten mit Namen belegten Gegenstände waren die sinnlich wahrnehmbaren Naturkörper. Doch müssen, soweit sich dies beurteilen läßt, in dieser ersten Periode die dem dringendsten Bedürfnisse dienenden Sprachen noch recht unvollkommen und ziemlich regellos gewesen sein und es mögen die absolut unentbehrlichen Künste und Wissenschaften schon weit vorgeschritten gewesen sein, als die Regeln des Ausdrucks und Satzbaus erst im Entstehen begriffen waren.
    Aber der Gedankenaustausch konnte diesen Mangel an Regeln nicht erlauben oder doch nur insoweit, als er den Zweck erfüllte, jedem ohne allzuviel Verlaß auf andere durch beharrliche Arbeit zur Vermehrung seiner Kenntnisse zu zwingen. Ein allzuleichter Gedankenaustausch macht oft den Geist schwerfällig und beeinträchtigt dessen Leistungsfähigkeit. Ein Blick auf die erstaunlichen Leistungen der Blindgeborenen und von Geburt Taubstummen lehrt, was die geistigen Spannkräfte zu wirken vermögen, wenn der Geist nur lebhaft und durch zu bewältigende Schwierigkeiten zur Thätigkeit angeregt ist. Weil aber die Leichtigkeit, im Wechselverkehr Gedanken mitzuteilen und zu empfangen, seinerseits auch unbestreitbare Vorteile gewährt, so nimmt es nicht wunder, daß die Menschen immer mehr deren Vergrößerung anstrebten. Zu diesem Behufe begannen sie mit der Umformung der Zeichen zu Wörtern, weil diese die gleichsam am schnellsten zur Verfügung stehenden Symbole sind. Die Anordnung der Wortbildung war der Reihenfolge der intellektuellen Thätigkeiten entsprechend. Nach den Einzeldingen benannte man die wahrnehmbaren Eigenschaften, die an diesen Dingen unselbständig bestehen und mehreren von ihnen gemeinsam sind; nach und nach gelangte man endlich zu jenen abstrakten Ausdrücken, deren eine der Verknüpfung der Gedanken, deren andere zur Bezeichnung der allgemeinen Körpereigenschaften, noch andere zum Ausdrucke rein intellektueller Begriffe dienen. Diese Ausdrücke, zu deren Erlernung die Kinder so lange Zeit brauchen, haben zu ihrer Erfindung gewiß noch mehr Zeit gekostet. Durch Regelung des Sprachgebrauchs entstand schließlich die Grammatik, die man als einen Zweig der Logik betrachten kann. Durch eine subtile und scharfsinnige Metaphysik erhellt, macht sie auf die Nüancierungen der Gedanken aufmerksam, lehrt ferner diese Nüancierungen durch verschiedene Bezeichnungen unterscheiden, giebt weiter Regeln für die vorteilhafte Anwendung dieser Zeichen, entdeckt auch öfter durch ihren philosophischen, zu den Quellen der Dinge dringenden Geist, die Motive zur scheinbar sonderlichen Wahl einer bestimmten Bezeichnung vor anderen, und läßt endlich jener »Sprachbrauch« genannten Volkslaune nur was sie ihr in keiner Weise nehmen kann.
    Indem die Menschen wechselseitig ihre Gedanken austauschen, suchen sie auch ihre Empfindungen mitzuteilen; dies erreichen sie durch die Beredsamkeit. Geschaffen, um zum Herzen zu sprechen, wie Logik und Grammatik zum Verstande, bringt sie die Vernunft selbst zum Schweigen, und vielleicht sind die Wunder, die so oft durch einen Einzigen angesichts einer ganzen Nation verrichtet, der schlagendste Beweis für die Überlegenheit eines Menschen über den andern. Man hat befremdlicher Weise gemeint, ein so seltenes Talent lasse sich durch Regeln ersetzen. Dies ist gerade so, als wollte man die Kunst, ein Genie zu werden, lehren. Der erste, der behauptete, den Redner bilde die Kunst heran, sprach eine vereinzelte Meinung aus oder erwies sich recht undankbar gegen die Natur. Sie allein vermag den Redner zu schaffen. Das erste zur Erlangung des Erfolges zu studierende Buch sind die Menschen, das zweite die großen Vorbilder; und alles, was die ausgezeichneten Autoren über das oratorische Talent philosophierten, beweist nur die Schwierigkeit, ihnen gleichzukommen. Zu einsichtsvoll, um vorzugeben, sie könnten zur Rednerlaufbahn vorbereiten, wollten sie ohne Zweifel nur deren Klippen kennzeichnen. Was jene pedantischen Kindereien, die mit dem Namen Rhetorik beehrt worden sind oder die vielmehr nur zur Lächerlichmachung dieses Namens beigetragen haben und die für die Redekunst dasselbe sind, was die Scholastik für die echte Philosophie ist, so können sie nur von der Beredsamkeit die falscheste und roheste Vorstellung verschaffen. Trotzdem man allgemein ihre Nutzlosigkeit einzusehen beginnt, erlaubt dennoch ihre Stellung, die sie schon lange zu einem besonderen Zweige des menschlichen Wissens macht, noch nicht ihre Entfernung aus diesem, mag auch, zur Rechtfertigung unseres Urteils, die Zeit bald kommen, wo es geschehen wird.
    Aber das Leben mit unseren Zeitgenossen und die Herrschaft über dieselben befriedigen uns noch nicht. Von Wissensbegierde und Eigenliebe angestachelt und im natürlichen Bestreben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einem Blicke zu umfassen, begehren wir zugleich mit der Nachwelt zu leben, mit der Vorwelt gelebt zu haben. Durch dieses Streben wird das Studium der Geschichte gezeitigt, die, indem sie uns mit verflossenen Zeitaltern durch Vorführung ihrer Laster und Tugenden, ihrer Einsichten und Irrtümer verbindet, die unsrigen den kommenden Jahrhunderten überliefert.
    Hier erst lernt man den Menschen blos nach der Seite des von ihm bewirkten Guten und nicht nach dem ihn umgebenden Prachtgepränge bewerten. Die Herrscher, zu deren Unglück sich alles verschworen hat, ihnen die Wahrheit vorzuenthalten, können vor diesem unbestechlichen Tribunal über sich selbst im vorhinein das Urteil sprechen; das Zeugnis, welches die Geschichte den ihnen gleichenden Vorgängern erteilt, giebt im Bilde kund, was die Nachwelt von ihnen selbst sagen wird.
    Sprößlinge und Stützpfeiler der erwähnten Wissenschaften sind Chronologie und Geographie; erstere giebt den Menschen ihre Stellung in der Zeit, letztere ihren Platz auf unserem Erdballe. Beide haben Hilfswissenschaften in der Erd- und Himmelsgeschichte, und wir könnten, uns eines bildlichen Ausdrucks bedienend, sagen, die Wissenschaften der Zeit und des Raumes seien die Töchter der Astronomie und der Geschichte.
    Zu den wertvollsten aus dem Studium der Staaten und ihrer Umwälzungen geernteten Früchten gehört die Untersuchung, wie die in einer Vielheit großer Familien getrennt lebenden Menschen mannigfache Gesellschaften gebildet haben, wie aus diesen wiederum verschiedenartige Regierungen entstanden sind, endlich wie diese nach Unterscheidung von einander durch Gesetze, die sie erließen, sowie durch die besonderen zum leichteren Verkehr ihrer Mitglieder von ihnen erfundenen Zeichen, strebten. Von hier schreibt sich die Bildung jener Mannigfaltigkeit von Sprachen und Gesetzen her, die ein wichtiger Gegenstand unseres Studiums geworden sind. Hier muß man auch den Ursprung der Politik suchen, einer Art Moral von eigentümlichem und höherem Schlage, mit welcher die Grundsätze der gemeinen Moral sich oftmals nur auf recht spitzfindige Weise vereinbaren lassen und die, die Hauptressorts der Staatsverwaltung besetzend, alles zu ihrer Erhaltung, Schwächung oder Zerstörung Geeignete ausfindig macht; durch das Maß der von ihr geforderten Kenntnisse von Nationen und Individuen, sowie durch den Umfang und die Vielseitigkeit der von ihr vorausgesetzten Talente ist sie vielleicht eines der schwierigsten Studien, zumal wenn der Politiker nicht vergißt, daß das allen besonderen Abmachungen vorangehende Naturgesetz zugleich auch das erste Volksgesetz ist, und daß man ganz gut Staatsmann sein kann, ohne aufhören zu müssen, Mensch zu sein.
    Dies sind die Hauptzweige jenes Gebietes des menschlichen Wissens, das teils in den durch die Sinne erlangten unmittelbaren Vorstellungen, teils in deren Kombination und Vergleichung besteht, welche Kombination in herkömmlicher Weise Philosophie heißt. Diese Zweige wiederum zerfallen in eine Unzahl anderer, deren Aufzählung zu weit führen würde. –
    Da die erste Thätigkeit der Reflexion in der Verknüpfung und Vereinigung der unmittelbaren Vorstellungen besteht, oblag es uns in vorliegender Abhandlung, die Reflexion zunächst von dieser Seite zu betrachten und die daraus entspringenden verschiedenen Wissenschaften durchzugehen. Die auf dem Wege der Vorstellungskombination gewonnenen Begriffe sind jedoch nicht die einzigen, die unser Denken zu erzeugen vermag; es giebt noch eine zweite Art der Reflexionserkenntnis, die wir jetzt zu besprechen haben, nämlich das, was Nachahmung der Natur heißt und von den Alten so gekannt und empfohlen wird. Wie die uns am stärksten erregenden Sinnesvorstellungen zugleich am besten in unserem Gedächtnisse haften, so sind es auch jene, die wir durch Nachahmung ihrer Objekte am liebsten in uns zu erwecken suchen. Erregen uns die gefallenden Gegenstände in der Wirklichkeit stärker als in der bloßen Vorstellung, so wird, was sie in letzterem Falle am Gefallen einbüßen, in gewissem Maße durch das aus der Lust an der Nachahmung entquellende Vergnügen ausgeglichen. Die Nachahmung ist hinsichtlich jener Dinge, die in Wirklichkeit nur traurige und stürmische Empfindungen erregen würden, erfreulicher als die Dinge selbst, weil sie uns in jene angemessene Entfernung versetzt, wo unser Gemüt Freude empfindet, ohne verwirrt zu werden.
    Eben in dieser Nachahmung von allerhand Gegenständen, die imstande sind, in uns lebhafte oder angenehme Empfindungen zu erregen, besteht im allgemeinen die Nachahmung der schönen Natur, über die so viele Autoren geschrieben haben, ohne einen klaren Begriff davon zu geben, sei es, weil die schöne Natur sich nur einem feinen Empfinden offenbart, sei es, weil auf diesem Gebiete die Willkür und Wahrheit scheidenden Grenzen noch nicht genau festgesetzt sind und daher der Meinung freien Spielraum gewähren.
    An die Spitze der aus Nachahmung entspringenden Erkenntnisse sind Malerei und Bildhauerkunst deshalb zu stellen, weil sie unter allen diejenigen sind, wo die Nachahmung die von ihr dargestellten Gegenstände uns am nächsten bringt und weil sie sich unmittelbar an die Sinne wendet. Es reiht sich ihnen jene Kunst an, die ihren Ursprung dem Bedürfnis und dem Luxus ihre Vervollkommnung verdankt, die Architektur, die, nachdem sie allmählich von der Hütte zum Palaste fortgeschritten ist, in den Augen der Philosophen nichts ist als gleichsam die verschönerte Maske eines unserer notwendigsten Bedürfnisse. Hier tritt die Nachahmung der schönen Natur weniger deutlich zu Tage und ist zusammengedrängter als in den erwähnten beiden andern Künsten. Diese stellen alle Teile der schönen Natur ohne Unterschied und Einschränkung dar, und zwar so wie sie erscheint, einförmig oder mannigfaltig; die Architektur hingegen begnügt sich damit, durch Zusammenfügung und Verbindung der verschiedenen in ihrer Verwendung befindlichen Körper die von der Natur in allem mehr oder minder bemerkbar eingehaltene und in so hübschem Kontraste zu der schönen Mannigfaltigkeit des Ganzen stehende Symmetrie nachzubilden.
    Die Poesie, die sich an die Malerei und Bildhauerei anschließt und die sich zu ihrer Nachahmungsthätigkeit nur der in einer dem Ohre harmonisch klingenden Ordnung aneinandergereihten Worte bedient, spricht mehr die Einbildungskraft als die Sinne an. In lebhafter, rührender Weise stellt sie dieser die das All erfüllenden Gegenstände vors Auge und scheint durch die Wärme, die Bewegung und das Leben, das sie ihren Objekten einzuflößen weiß, diese eher zu produzieren als abzubilden. Die Musik endlich, die gleicherweise sich an die Einbildungskraft und die Sinne wendet, kommt in der Reihe der Nachahmungsarten zuletzt. Nicht als ob die auf ihre Gegenstände gerichtete Nachahmung weniger vollendet wäre, sondern deshalb, weil sie bislang auf eine geringere Zahl von Bildern beschränkt zu sein scheint, was aber weniger ihrer Natur als dem Mangel an Erfindungsgeist und Hilfsmitteln bei der Mehrzahl der sie Ausübenden zuzuschreiben ist. Einige Betrachtungen darüber dürften nicht unangebracht sein. Die Musik, die ursprünglich vielleicht nur zur Reproduktion von Klängen diente, ist nach und nach zu einer Art Sprache geworden, in welcher man die vielfältigen Empfindungen oder eigentlich Affekte der Seele zum Ausdrucke bringt. Warum aber bedient man sich der Musik nur als Ausdruck der Gefühle und nicht auch der Sinneseindrücke? Trotz der Verschiedenheit der verschiedenen Sinnesgebieten angehörenden Empfindungen, die so groß ist als die der Gegenstände, welche die Empfindungen veranlassen, kann man sie nichtsdestoweniger unter einem andern ihnen gemeinsamen Gesichtspunkt vereinigen, nämlich nach der frohen oder trüben Stimmung, in die sie unser Gemüt versetzen. Ein schrecklicher Gegenstand, ein furchtbares Getöse bewirken in uns einen Gefühlszustand, durch den wir imstande sind, die beiden Wahrnehmungen zu vergleichen, die wir häufig mit dem gleichen oder synonymen Namen bezeichnen. Ich wüßte nicht, warum ein Komponist, der einen schrecklichen Gegenstand darzustellen hat, dies nicht durch Aufsuchung jener Klangart, die in uns eine, der durch diesen Gegenstand erregten möglichst nahekommende Gemütsbewegung zu erzeugen vermag, erreichen sollte können. Von angenehmen Empfindungen gilt das Gleiche. Darüber anderer Meinung sein, hieße nur die Grenzen der Kunst und dessen, was uns gefällt, einengen. Allerdings gebe ich zu, daß die Art der Malerei, um die es sich hier handelt, ein sorgfältiges und gründliches Studium der Empfindungsnüancen erfordert; doch darf man nicht glauben, diese Nüancen könnten von eitlem Durchschnittstalent herausgefunden werden. Sie gehen, erfaßt vom Genie, empfunden vom guten Geschmack, vom witzigen Kopfe bemerkt, für die große Menge verloren. Alle Musik, die nicht etwas malt, ist bloßes Geräusch und würde ohne den Einfluß der alles modificierenden Gewohnheit kein größeres Vergnügen als das einer Folge von harmonischen und wohlklingenden, aber ordnungs- und zusammenhangslosen Worten bereiten. Freilich würde uns ein Tonkünstler, der alles und jedes malen wollte, sehr oft Harmoniegemälde darbieten, die dem gemeinen Sinne verschlossen wären; daraus folgt aber nur, daß man, nachdem man aus der Musiklehre eine Kunst gemacht, nun auch die Kunst des Hörens lehren sollte. – Hier ist die Aufzählung unserer Grundkenntnisse zu Ende. Betrachtet man sie nun im Zusammenhange, und sucht man die zu ihrer Sonderung passenden Gesichtspunkte auf, so findet man, daß einige derselben von rein praktischem Charakter die Ausführung irgend einer Sache zum Ziele haben, andere, theoretische, sich mit der Untersuchung ihres Gegenstandes und der Betrachtung seiner Eigenschaften begnügen, und noch andere aus dem theoretischen Studium ihres Gegenstandes die praktische Anwendung desselben kennen lernen. Theorie und Praxis sind es, die den Hauptunterschied zwischen Wissenschaften und Künsten konstituieren, und man hat gemäß demselben jede unserer Erkenntnisse bald in die eine, bald in die andere Kategorie eingeordnet. Indeß muß eingeräumt werden, daß bezüglich dieser Sache unsere Begriffe noch nicht genügend gefestigt sind. Man ist oft in Zweifel, als was man die Mehrzahl derjenigen Erkenntnisse, bei denen sich Theorie und Praxis mit einander verbinden, bezeichnen soll, und in den Schulen z. ,B. streitet man beständig darüber, ob die Logik eine Kunst oder eine Wissenschaft sei, eine Problem, das sich bald dahin lösen wird, sie sei beides zugleich. Wie viele Fragen und Sorgen könnte man sich nicht ersparen, wollte man einmal den Sprachbrauch in klarer und präciser Weise bestimmen.
    Im allgemeinen kann man die Bezeichnung »Kunst« jedem Erkenntnissysteme erteilen, das sich auf positive, feste und von willkürlichen Meinungen unabhängige Regeln bringen läßt; in Konsequenz dessen kann man dann die meisten Wissenschaften, von ihrer praktischen Seite aus angesehen, zugleich als Künste charakterisieren. Wie es aber Regeln für die geistigen Operationen giebt, so auch für die Verrichtungen des Leibes, d. ,h. für jene, die, nach außen sich richtend, nur die Hand in Anspruch nehmen. Danach ergiebt sich die Gliederung der Künste in freie und in mechanische, wie auch der Vorrang der ersteren, der gewiß in so mancher Hinsicht zu Unrecht besteht. Doch giebt es unter den Vorurteilen, so lächerlich sie auch erscheinen können, keines, das nicht seinen Grund oder seine bestimmte Quelle hat, welche die Philosophen, wenn sie schon nicht den Mißbrauch, der mit diesen Vorurteilen getrieben wird, aufzuheben vermögen, wenigstens aufdecken mögen. Da das erste Princip, durch welches das Recht aller Menschen auf Gleichheit zunichte gemacht ward, die Körperkraft bildete, so haben sich die Schwächeren, die stets die Mehrzahl bilden, zur Hintanhaltung jener zusammengethan. Sie haben sich so mit Hilfe der Gesetze und verschiedenen Verfassungen eine konventionelle Ungleichheit hergestellt, bei welcher die Stärke nicht mehr die Grundlage bildet. Nachdem aber diese Ungleichheit feste Wurzeln gefaßt hatte, wurden die Menschen, die mit Recht zu deren Erhaltung sich zusammenthaten, nicht müde, heimlich gegen sie Einspruch zu erheben, getrieben durch die durch nichts zerstörbare Sucht nach Obergewalt. Sie suchten sich durch eine natürlichere Ungleichheit zu entschädigen, und da die Körperkraft, durch Gesetze gefesselt, keinerlei Mittel zur Erlangung eines Vorrangs abgeben konnte, so begnügten sie sich ein ebenso natürliches als friedliches und der Gesellschaft nützliches Ungleichheitsprincip aus der Verschiedenheit der Geister zu gewinnen.
Auf diese Weise hat sich der edelste Teil unseres Wesens gewissermaßen für Aneignung von Vorteilen seitens des niederen Teils gerächt, und allgemein sind die intellektuellen Anlagen als den körperlichen überlegene anerkannt worden. Die mechanischen Künste wurden, da sie der Handarbeit und einer gewissen Routine unterliegen, den durch Vorurteile in die niedrigste Kaste Gestellten überlassen. Die Armut, welche jene Menschen mehr als Geschmack und Genie antrieb, sich dieser Beschäftigung zuzuwenden, ward in der Folge ein Grund zu ihrer Verachtung, so sehr schadet sie allem in ihrem Gefolge Befindlichen. Was die freien Beschäftigungen des Geistes anbelangt, so fielen sie jenen anheim, die sich in diesem Punkte für die von der Natur Meistbegünstigten erachteten. Aber der Vorzug, den die freien Künste durch die von ihnen geforderte geistige Anstrengung sowie wegen der Schwierigkeit, sich in ihnen hervorzuthun, vor den mechanischen besitzen, erfährt seinen hinreichenden Ausgleich durch den uns von letzteren zumeist gewährten größeren Nutzen. Eben diese Nützlichkeit der mechanischen Künste zwang auch zu ihrer Beschränkung auf rein maschinenmäßige Leistungen, um einer größeren Anzahl von Menschen deren Handhabung zu erleichtern. Allein die Gesellschaft darf, indem sie wie billig die großen Geister, denen sie ihre Aufklärung schuldet, hochschätzt, deshalb nicht die Handlanger herabsetzen. Die Erfindung des Kompasses bringt dem Menschengeschlecht nicht geringeren Nutzen, als der, den die Erklärung der Eigenschaften der Deklinationsnadel für die Physik bedeutet, beträgt. Und dann – um das von uns erörterte Unterscheidungsprincip an und für sich zu betrachten – wie viele sogenannte Gelehrte giebt es nicht, deren Wissenschaft im Grunde nichts als eine mechanische Fertigkeit ist? Und welcher Unterschied besteht denn in der That zwischen einem mit ungeordneten, unbrauchbaren und unzusammenhängenden Daten angefüllten Kopfe und dem auf mechanische Arbeit sich beschränkenden Instinkte des Handwerkers?
    Es hat das Aussehen, als hätte sich die den mechanischen Künsten gegenüber an den Tag gelegte Geringschätzung bis zu einem gewissen Punkte auch auf deren Erfinder erstreckt. Die Namen jener Wohlthäter des Menschengeschlechts sind fast alle unbekannt, während die Geschichte seiner Zerstörer, die der Eroberer nämlich, jedem vertraut ist. Und doch sind die wunderbarsten Proben von dem Scharfsinn, der Ausdauer und dem Getriebe des Geistes vielleicht gerade bei den Handwerkern zu finden. Ich leugne nicht, daß die Mehrzahl der Handwerke erst nach und nach erfunden worden ist und daß es z. ,B. einer langen Reihe von Jahrhunderten bedurfte, um die Uhren auf die Höhe der Vollkommenheit zu bringen, die sie gegenwärtig einnehmen. Aber steht es denn um die Wissenschaften anders? Wie viele von den Entdeckungen, die ihre Urheber unsterblich machten, waren durch die Arbeiten vergangener Zeiten vorbereitet und häufig sogar schon so ausgereist worden, daß nur noch ein Schritt zu machen war. Und weshalb, um bei der Uhrmacherkunst zu verbleiben, schätzt man denn nicht jene Männer, denen wir Spindel, Hemmung und Schlagwerk der Uhren verdanken, in dem Maße wie jene, die an der allmählichen Vervollkommnung der Algebra gearbeitet haben? Darf man einigen Philosophen, die sich durch die übliche Geringschätzung der Handwerke rächt haben hindern lassen sie zu studieren, glauben, so giebt es übrigens gewisse Maschinen von solcher Kompliziertheit und wechselseitiger Abhängigkeit der Bestandteile, daß an deren Erfindung wohl schwerlich mehrere beteiligt gewesen sein können. Hätte nicht jenes seltene Genie, dessen Namen in Vergessenheit geraten ist, wohl verdient, an die Seite der kleinen Menge schöpferischer Geister, die uns auf wissenschaftlichem Gebiete neue Bahnen eröffneten, gestellt zu werden?
    Unter den auf Regeln gebrachten freien Künsten haben jene, die der Nachahmung der Natur sich befleißigen, die Bezeichnung »schöne Künste« deshalb erhalten, weil sie in erster Linie dem Vergnügen dienen. Doch ist dies nicht alles, wodurch sie sich von den mehr notwendigen oder nutzbringenden freien Künsten, wie Grammatik, Logik, Ethik, unterscheiden. Diese letzteren nämlich stützen sich auf feste und sichere Regeln, die man einem jeden mitteilen kann, wogegen die Praxis der schönen Künste vornehmlich in einem Erfinden besteht, das seine Gesetze einzig und allein vom Genie empfängt. Die auf diese Art von Künsten sich beziehenden Lehren bilden nur deren mechanischen Theil und leisten ungefähr dasselbe, wie das Fernrohr: sie unterstützen nur den, der sieht.
    Es geht aus all dem bisher Gesagten hervor, daß die verschiedenen Weisen, wie unser Geist die Gegenstände verarbeitet und verwendet, das nächstliegende Mittel zu deren allgemeinen Sonderung abgeben. Die Gesammtheit jener steht zu unseren Bedürfnissen in Beziehung, seien es nun solche der absoluten Notwendigkeit oder solche der Konvenienz und des Genusses oder solche des Gebrauchs und der Laune. Je entfernter und je schwerer zu befriedigen diese Bedürfnisse sind, desto langsamer stellen sich die diesem Zwecke dienenden Erkenntnisse ein. Welchen Fortschritt hätte nicht die Medizin auf Kosten der rein theoretischen Disciplinen zu verzeichnen gehabt, besäße sie dieselbe Sicherheit wie die Geometrie! Aber es giebt noch einige Eigentümlichkeiten, die in der Art, wie unsere Erkenntnisse uns erregen und in den mannigfachen Urteilen, die wir bezüglich unserer Vorstellungen fällen, deutlich zu Tage treten. Diese Urteile sind solche der Evidenz, Gewißheit, Wahrscheinlichkeit, des Gefühls und des Geschmackes.
    Evidenz (Augenscheinlichkeit) kommt nur jenen Gedanken zu, deren Verknüpfung der Geist mit einem Blicke überschaut; Gewißheit jenen, deren Verknüpfung nur mittels einer Anzahl vermittelnder Vorstellungen erkannt werden kann, also jenen Sätzen, deren Identität mit einem in sich augenscheinlichen Grundsatz erst auf einem längeren oder kürzeren Umwege auffindbar ist. Es folgt daraus, daß oft das für den einen Evidente für den andern bloße Gewißheit haben kann. Nimmt man die Wörter »Evidenz« und »Gewißheit« in einem engeren Sinne, so kann man auch sagen, erstere sei das Resultat rein intellectueller Thätigkeit und beziehe sich auf metaphysische und mathematische Sätze, während die letztere mehr den Naturobjecten eigne, deren Erkenntnis die Frucht der beständigen und unveränderlichen Aussagen unserer Sinne ist. Wahrscheinlichkeit hat hauptsächlich bei historischen Tatsachen, gewöhnlich bei allen der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angehörenden Ereignissen statt, die wir aus Unkenntnis ihrer Ursachen dem Zufalle zuschreiben. Der Teil dieser Erkenntnis, der auf Gegenwart und Zukunft sich bezieht, bewirkt häufig, obgleich sie sich auf bloße Zeugnisse stützt, in uns eine starke Überzeugung wie die mit den Axiomen verknüpfte.
    Das Gefühl ist von zweierlei Art; die eine, auf die moralischen Wahrheiten sich beziehende, heißt Gewissen und ist eine Folge des Naturgesetzes und unserer Vorstellung vom Guten und Schlechten; man könnte sie Evidenz des Gemütes nennen, weil sie bei aller ihrer Verschiedenheit von der logischen Evidenz, die mit den spekulativen Wahrheiten sich verbindet, uns gleicherweise gefangen nimmt. Die zweite Art des Gefühls ist ausschließlich für die Nachahmung der schönen Natur und dessen, was man als Schönheiten des Ausdrucks bezeichnet, bestimmt. Sie erfaßt mit Enthusiasmus die erhabenen und auffallenden Schönheiten, entdeckt mit feinem Empfinden die in der Verborgenheit blühenden und läßt das nur dem Scheine nach Schöne beiseite liegen. Sie kritisiert oft streng, ohne sich die Mühe zu geben, die Motive ihres Urteils im Einzelnen darzuthun, weil dieselben von einer Menge von Ideen abhängen, die schwer auf der Stelle zu entwickeln und noch schwerer mitzutheilen sind. Dieser Art des Gefühls verdanken wir den Geschmack und das Genie, die sich von einander darin unterscheiden, daß das letztere ein schöpferisches, das erstere ein urteilendes Empfinden ist. – – –

Aus: "Discours préliminaire de l'encyclopedie", 1751
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