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Jan Wagner: Der glückliche Augenblick

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Stefan Hölscher

Jan Wagner: Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa. Berlin (Hanser Berlin) 2021. 304 Seiten. 25,00 Euro.

Ausgefeilte Augenblicke


„Beiläufige Prosa“ heißt der mit fast schon kokettem Understatement daherkommende Untertitel des bei Hanser Berlin erschienenen Essaybands von Jan Wagner. So wie Wagner als Lyriker vor allem scheinbar nebensächliche, in den Augen der Meisten geradezu irrelevante Phänomene poetisch formvollendet umspielt und hieraus ein strahlendes Markenzeichen gemacht hat, so will auch seine essayistische Prosa einfach nur „beiläufig“ sein, auch wenn sie sich auf etwa 300 Buchseiten erstreckt. Der eigentliche Titel des Buchs „Der glückliche Augenblick“, der in kaum übersehbarer Anspielung den altgriechischen Kairos-Begriff streift, gibt der Beiläufigkeit dann aber die Wagner’sche Tönung; denn hier geht es um das in einem musengeküssten Moment (mit, wie man bei einem Perfektionisten wie Wagner absolut sicher sein darf, erheblich zeitaufwändiger Fein- und Nacharbeit) aus der scheinbaren Unbedeutendheit Herausgehobene und den Dichter wie potenziell auch den Rezipierenden in einen rauschartigen Empfindungszustand Hineinführende. Wagner selbst drückt das in einem seiner Essays so aus:

Der glückliche Augenblick der Poesie ist ja wirklich ein Rausch, ein durch Klang, Rhythmus, Metapher herbeigeführter rausch-hafter Zustand, aber das Wunder ist, dass man in ebendiesem Moment des Berauschtseins so klar zu sehen scheint wie niemals zuvor.

Rauschhafte Klarheit, die in der Tönung des Rauschs immer zugleich auch Unschärfe und Uneindeutigkeit und damit ja scheinbar wieder das Gegenteil von Klarheit mit sich bringt, gehört – wie Wagners Lyrik sicher noch stärker als seine Prosa zeigt – unzweifelhaft auch zu den Markenzeichen dieses Dichters. Bei aller dick unterstrichenen bescheidenen Beiläufigkeit ist die Messlatte der Erwartungen also hoch gesetzt.

Verhehlen kann ich allerdings nicht, dass ich bei den Essays auf den ersten ca. 80 Seiten nicht wenig mit der Lektüre gehadert habe. Diese Essays, vor allem „Versuch über Pässe“, „Der glückliche Augenblick“ und „Rosenknospen und Kamelknochen“ befassen sich über jeweils ganz schön viele Seiten hinweg mit eben typisch Wagner’schen Phänomenzusammenhängen. Und während man bei der Lektüre sicher gar nicht anders kann, als festzustellen, dass hier ein gleichermaßen wahrnehmungssensitiver, sprachvirtuoser, schier unendlich gebildeter und subtil ironischer Dichter am Werk ist, wurde diese Lektüre bei mir doch zugleich auch wie von einem Basso Continuo mit sicher ebenso dummen wie leider aber auch fundamental mitlaufenden Fragen begleitet: Was lese ich da? Was sagt mir das? Wozu tue ich das? Sollte ich nicht mal was anderes tun? – Ein sich auf sehr hohem Niveau verselbständigender Ästhetizismus war das, woran ich wohl dachte, es vermutlich bei einer wiederholten Lektüre auch wieder tun würde, auch wenn andere hier vermutlich „rauschhaft“ euphorisch mitschwingen würden:  

Sämtliche Feinbäcker Persiens müssen sich ohne Unterlass in einem beglückenden Rauschzustand befinden – anders ist es gar nicht zu erklären, dass die Torten in den Auslagen der Konditoreien und Cafés von einer fast jenseitigen Farbenpracht sind, dass der Betrachter vor der Vitrine sich schier entrückt wähnt angesichts der glänzenden Flächen aus Zuckerguss, bald in die Knie geht vorm Gleißen der Glasuren: Hahnenkammrot und Stieglitzgelb, das Grün von der Art der Pfeilgiftfrösche, ein Blau mit der Tiefe des Atlantiks samt tobenden Merenguekronen darauf; hier ein verschnörkelter Gruß zur Hochzeit, dort ein kalorienreicher Geburtstagsjubel in Schönschrift. Wirklich, man muss sich die Bäckermeister vorstellen, wie sie Ghaselen singend in ihren Schüsseln rühren, Derwischen gleich verzückt um Blätter- und Mürbeteig wirbeln, um ihren hungrigen, cremelippenleckenden Kunden Tag für Tag nicht weniger als dies zu bieten, eine wahre Offenbarung von Torten.

Euphorisch mitschwingen und schwelgen kann und möchte ich hier auch. Wer könnte sich dem bei so farbenprächtiger und klangvoller Beschreibungsvirtuosität, die der Kunst der Feinbäcker Persiens sicher in nichts nachsteht, auch wirklich entziehen? Ich kann es nicht. Ich vermag eine solche Tonlage allerdings auch nicht über 10, 20 oder 30 Seiten frohgemut mitzutragen. Und da liegt vielleicht, abgesehen von der natürlich unvergleichbar größeren Formstrenge der Gedichte, auch ein wesentlicher Unterschied zur Lyrik Wagners: die Gedichte sind hoch komprimiert, die Essays schweifen gelegentlich ganz schön aus und können so krud-plumpe Erdwesen wie den Schreiber dieser Zeilen dann auf ganz unterschiedliche Weise enervieren.

Umso froher war ich über die im weiteren Verlauf des Bandes sich häufenden Essays über andere Dichtende und deren Werke – Essays, die anlässlich von Geburtstagen, Todesfällen, Gedenktagen oder wie die vier am Ende des Bandes stehenden Essays als universitäre Poetikvorträge, die jeweils um eine Dichter*innen-Persönlichkeit kreisen, entstanden sind. Diese essayistischen Ausflüge, in die Wagner die Lesenden gleichermaßen kenntnisreich wie liebevoll und feinsinnig gegenüber Welt, Werk und Leben der jeweils fokussierten Dichter*innen mitnimmt, machen die Lektüre des Bandes allein schon mehr als lohnend. So gibt es kleine Reisen in die Welt von Hölderlin, John Keats, Heinrich Detering, Winckelmann, Matthew Sweeney, Richard Pietraß, John Ashbery, Stefan George, Peter Rühmkorf, Dylan Thomas, Inger Christensen, Zbigniew Herbert und Eugenio Montale. Und auf jeder dieser Reisen lässt sich wunderbar viel sehen, hören, entdecken und neu erfassen –  und seien es Zusammenhänge von phonetischem Laut, sinnlichem Sprachphänomen, schöpferischem Moment und beginnendem Abenteuer:    

Das vielleicht berühmteste Langgedicht der romantischen Epoche in Großbritannien beginnt mit dem zartesten, dem verhaltensten Laut, den die englische Sprache zu bieten hat und der dennoch so charakteristisch für sie ist. »Schwa« heißt dieser Laut, und er wird im Internationalen Phonetischen Alphabet als kurioses, auf dem Kopf stehendes kleines »e« dargestellt, »ə«, als ein winziger, auf dem Rücken gelandeter Käfer, der nun hilflos daliegt und vergeblich versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Man findet das Schwa, das ursprünglich aus dem Hebräischen stammt, in zahlreichen Sprachen, auch im Deutschen. Im Englischen begegnet es uns in Wörtern wie »harmony« und »about«, wo hier das »o« in der zweiten Silbe und dort das »a« am Anfang stimmlos und schwach ausgesprochen werden, fast wie ein leises Stöhnen, das in der Kehle hängen zu bleiben droht – und man findet es in dem unbestimmten Artikel »a«, mit dem John Keats seinen Endymion beginnen lässt: »A thing of beauty is a joy for ever«. Dieser Vers mit seinen perfekten fünf Hebungen ist berühmt; und so selbstgewiss seine Aussage scheinen mag, dass nichts, was schön ist, jemals vergehen könne – er beginnt doch fast unsicher mit diesem Hauch von Vokal, einem Seufzer oder Ächzen gleichsam, »ə«, als zögere Keats, sich auf das gewaltige geistige Abenteuer einzulassen, das die Komposition des Endymion sein wird, als verlasse ihn einen Augenblick lang die Zuversicht angesichts der zu bewältigenden Aufgabe.

Es sind Passagen wie diese, von denen der Band eine Fülle zu bieten hat, die nicht nur zeigen, dass, wie Wagner sagt, „noch das Geringste zum Gedicht werden kann“, sondern die zugleich auch aufscheinen lassen, dass ein poetischer Blick „dazu einlädt, die Welt neu zu sehen und damit neu zu denken.“ Wagners Essays geben subtil-starke Impulse, genau dies zu tun. In aller Beiläufigkeit glücklich ausgefeilter Augenblicke.


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