Jan Kuhlbrodt: Zu "Nee die Ideen" von Felix Philipp Ingold
Jan Kuhlbrodt
Eine erste Annäherung an
Felix Philipp Ingold:
"Nee die Ideen. Pataphysische Fermaten"
Der Vers ist das Elementare des Gedichtes, nicht das Wort, der Buchstabe oder der Klang, auch wenn der Vers noch zerlegbar ist. Also letztlich dem Atom vergleichbar, das das teilbar Unteilbare vorstellt. Wort und Klang lassen sich zu allem möglichen zusammensetzen, Gebrauchsanweisungen und Romanen, Tagesbefehlen und Kapitulationsurkunden, aus Versen aber baut man einzig ein Gedicht.
Und was das Spannende ist, weil der Vers das Elementare, findet sich zuweilen in ihm das Ganze.
Der Einzeiler besteht aus einem einzigen Vers nur, und er ist doch ein ganzes Gedicht.
Mit Nee die Ideen legt Felix Phillipp Ingold nun einen Band mit eigenen Einzeilern vor, nachdem er vor fünfzehn Jahren, also 1999, bereits im Erker-Verlag Berlin einen Band mit russischen Einzeilern herausgab, die er auch ins Deutsche übertragen hatte.
Felix Philipp Ingold
Foto: Erich Malter
Rechts Buchcover: Nee die Ideen
Bei der Lektüre des Erker-Buches, das Geballtes Schweigen heißt, kam mir der Gedanke, dass die russische Sprache aufgrund ihrer Präfix-lastigen Struktur im Grunde prädestiniert ist für eine derartige Form, weil sie mit weniger Worten auskommt, während das Deutsche mit einer Armee von Hilfsverben aufwartet, um einem vorgestellten Inhalt beizukommen. Was im Deutschen also vier Worte braucht (sich die Hand geben, z.B.) kommt in Russischen mit zweien aus, braucht das Deutsche fünf, genügen dem Russischen drei.
Als Beispiel vielleicht ein Gedicht vom Sergej Birjukow:
нет умиранию да (niet umiraniju da)
Das Gedicht lautet in Ingolds Übersetzung:
Nein, dem Sterben kein ja
Damit meinte ich, meine kurz lautende These über den Vorteil des Russischen belegt zu haben. Aber: das war zu kurz gedacht. Nämlich nur vom Inhaltlichen Standpunkt aus. Aus der Sicht des Wortes im Grunde und nicht aus der Sicht des Verses, denn der Vers bildet, wie Elke Erb nicht müde wird zu wiederholen, eine lebendige Einheit, und als solche erschöpft er sich nicht in Semantik. Insofern ist der Titel des Buches: Nee die Ideen schon Vers, also auch schon Gedicht, und zwar ein solches, in dem das Ausgesprochene in einen lyrischen Widerspruch gerät und mit allerlei Formenspielen aufwartet: Und das auf engstem Raum.
Im Gesprächsbuch Unter sich, das in den Neunzigern bei Droschl erschien und einen Austausch zwischen Ingold und Steiger dokumentiert, schreibt Ingold:
Die Sprachwirklichkeit, die mich interessiert, und der ich schreibend zu entsprechen versuche, hat keine Bedeutungstiefe, sie ist ein Oberflächen-phänomen, kann nie vollständig verstanden werden, bietet sich aber sinnlicher, nämlich sehender und hörender Lektüre dar, was da geschrieben steht, was wahrnehmbar wird auf der Schrift- und Lautebene ist in meinen Texten durchweg dominant …
Und hier wird, denke ich, auch klar, wie sich poetische Einzeiler von Prosaformen der Literatur wie dem Aphorismus unterscheiden, der eher auf einen inhaltlichen Effekt abzielt und damit dem Witz verwandt ist. Diese Art Aphorismus ist eine Reduktion auf die Pointe, etwas, wovor der Einzeiler eher abbiegt, da in der Pointe die Form gewissermaßen verschwindet oder restlos aufgehoben wird. Der literarische Aufwand verfliegt im Schmunzeln, das gleichermaßen das Verstehen ist.
Solches Verstehen verweigern Ingolds Einzeiler, sie setzen vielmehr einen Prozess in Gang. Ein Gedicht lautet beispielsweise:
Schon gut, dass Erde ruht in dem, was sie enthält.
Und natürlich beinhaltet dieser Vers viel mehr als was er jetzt auf meinen Befehl hin demonstrieren soll. Er gehorcht mir nicht, und deshalb mag ich ihn lesen.
Felix Philipp Ingold: Nee die Ideen. Pataphysische Formaten. Berlin (Matthes & Seitz) 2014. 224 Seiten. 19,90 Euro.