Jan Kuhlbrodt: Nach Babel
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Jan Kuhlbrodt
Nach Babel
Jetzt, wo täglich Explosionen in
Odessa gemeldet werden, muss ich an Autorinnen und Autoren aus dieser
multiethnischen Stadt denken. Ein Sprachgemisch, das einige der spannendsten
und schönsten Texte hervorgebracht hat, die ich gelesen habe.
Gestern erschien bei Hanser ein
Band, der „Wandernde Sterne“ heißt und verschiedene, auch nachgelassene,
Schriften Isaak Babels versammelt. Ich hab ihn noch nicht hier im Haus, aber
ich warte sehnsüchtig darauf.
Aufgewachsen bin ich in dem festen
Bewusstsein, um mich herum würde die Zukunft errichtet. Und im Zentrum der Stadt, wo ich das
tat, erhob sich ein riesiger steinerner Kopf, der die Züge Karl Marx' trug und
finster dreinblickte, denn im Haus gegenüber befand sich ein Intershop, wo man
mit Forumschecks einkaufen konnte, die man vorher in der Filiale der Staatsbank
gegen Westmark eintauschen musste. Als Wechselgeld erhielt man zuweilen
Eiskonfekt oder Spearmint-Kaugummi.


Für mich war das normal. Und zu
meiner Normalität gehörte auch, dass ich die Bürger der Sowjetunion als Helden
und Kommunisten betrachtete. Russe galt als Schimpfwort, und von Ukrainern, zum
Beispiel, oder Esten war nichts zu hören. Sie gehörten den Völkern der
Sowjetunion an, die keine weitere Bezeichnung brauchten. Mein Weltbild war fest
gefügt. Risse bekam es, als ich 1984 in die NVA einberufen wurde und durch
Lektüren. Und gerade Lektüren sowjetischer Autoren waren es, die den Zweifel in
mir säten und nährten.
Allen voran erschütterte die Lektüre
von Isaak Babels Erzählungen in der Sammlung „Die Reiterarmee“, die in den
achtziger Jahren auf meinem Schreibtisch landete. Angeschafft hatte ich mir
dieses Buch, um mein Mütchen zu kühlen, denn ich bewunderte Budjonny, den
Anführer dieser revolutionären Bande, der mir als verwegener Kriegsherr
vorgestellt worden war, mit dem Herzen am rechten Fleck. Und dann Passagen wie
diese:
„Stabskommandeur Z. steht in voller Uniform auf der Treppe. Die entzündeten Lider halb geschlossen, hört er den Beschwerden der Bauern mit sichtlicher Aufmerksamkeit zu. Doch seine Aufmerksamkeit ist nicht mehr als ein Trick. Wie jeder geschulte übererschöpfte Militär weiß er, in leeren Minuten des Daseins die Gehirntätigkeit gänzlich auszuschalten. In diesen wenigen Minuten kuhseliger Gedankenlosigkeit schüttelt der Chef unsres Stabes die abgenutzte Maschine wieder auf.“
Alle Heldenhaftigkeit verlor sich,
löste sich auf in der Brutalität des Krieges. Die wir Vorbilder nennen sollten,
stellten sich dar als brutale und zuweilen dumme Militärs. Das korrespondierte
der Erfahrung, die ich in meinem Militärdienst machen sollte, wenn auch nicht
auf derart drastische Art.
Die zitierte Passage stammt
allerdings nicht aus meiner damaligen Ausgabe, auch wenn sich darin vergleichbares
findet, was mich im Nachhinein ehrlich verwundert, herrschte doch in der DDR
eine harsche Zensur. Aber vielleicht waren die Zensoren ja so blöd und naiv wie
ich vor der Lektüre und dachten, ohne den Text gelesen zu haben, dass ein
sowjetischer Schriftsteller so hart nicht über einen revolutionären
Kommandanten hätte schreiben können.
Das Zitat stammt aus der 2014 im
Carl Hanser Verlag unter dem Titel „Mein Taubenschlag“ erschienenen Ausgabe
sämtlicher Erzählungen Isaak Babels. Darin findet sich auch eine Zeittafel und
ein instruktives Nachwort von Bettina Kaibach.
Übersetzt wurden die Texte von
Bettina Kaibach und Peter Urban. Die zitierte Passage stammt aus der Erzählung
„Die Kavallerie-Reserve“, die zum Reiterarmee-Zyklus gehört, der Urbans Beitrag
am Buch ist und schon einmal in der Friedenauer Presse erschienen war.
Inzwischen bin ich restlos genesen
von jugendlicher Revolutionsromantik, so dass die sprachlichen Feinheiten der
Texte endlich zum Tragen kommen, zumindest soweit sie sich übersetzen lassen.
Und ich denke, sowohl Urban als auch Kaibach haben Großes geleistet und den
lakonisch Stil Babels in ein ihm entsprechendes Deutsch gebracht, das die
Erschütterung der Texte transportiert.
Isaak Babel wurde 1894 in Odessa
geboren und am 27. Januar 1940 im berüchtigten Lubljanka-Gefängnis in Moskau
erschossen.